Straßenlampen oder Straßenbahn?
Adriano Sofri unternimmt eine philologische Spurensuche in Kafkas „Die Verwandlung“
Von Georg Patzer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEiner der vielen berühmten ersten Sätze der Literatur ist von Franz Kafka: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“ Eine von vielen Verwandlungen, die in Kafkas Werk stattfinden: aus Unschuldigen werden Angeklagte, aus Landvermessern Labyrinthgänger und aus Gregor eben ein Ungeziefer – welches Tier genau, darüber streiten sich bis heute die literaturwissenschaftlichen Insektenforscher.
Aber das ist nicht die einzige Verwandlung, die in Die Verwandlung stattfindet. Als der italienische Journalist und Essayist Adriano Sofri 2001 diese Erzählung in einer zweisprachigen Ausgabe las, entdeckte er, dass sich auch das Licht verwandelte: Aus dem „Schein der Straßenlampen“ am Anfang des zweiten Teils, der „bleich hier und da auf der Zimmerdecke“ lag, wurde das Licht der „tranvia elettrica“, einer elektrischen Straßenbahn. Wie konnte denn das passieren? Hat die Übersetzerin Anita Rho geschlampt? Die Übersetzung ist von 1935 – hat wirklich keiner der renommierten Verlage (Feltrinelli, Einaudi) in den 21 Ausgaben danach diesen Irrtum bemerkt?
Sofri wurde neugierig und sah sich die Übersetzungen anderer Sprachen an und fand heraus, dass es im Türkischen und Niederländischen, im Englischen und im Spanischen ebenso eine Straßenbahn ist, die leuchtet. Und hier beginnt ein witziger philologischer Krimi, in dem Sofri zunächst die Übersetzungen überprüfte. Die erste Übersetzerin war die Deutsch-Spanierin Margarita Nelken, die 1925 die Verwandlung anonym ins Spanische übertrug. Der argentinische Dichter und Herausgeber Jorge Luis Borges klaute diese Übersetzung 1938 und gab sie als seine eigene aus – erst sehr viel später gab er den Diebstahl zu. Aber niemand traute sich wohl, den großen Borges nachzuprüfen. Nebenbei breitet Sofri auch sehr ausführlich die Biografie von Margarita Nelken aus: Sie hat sich zeitlebens dem Kampf für die Emanzipation verschrieben und wurde von ihren Gegnern als „Jüdin, Feministin, Halbkünstlerin, Intellektuelle, Kommunistin, Hure“ beschimpft. 1968 starb sie in Mexiko.
Nach und nach aber bekommt Sofri heraus, dass es gar kein Übersetzungsfehler ist, sondern dass diese Stelle auf eine Veränderung in der zweiten Auflage des Buchs zurückgeht, die 1918 bei Wolff erschienen ist, und da steht eindeutig im Original: „Der Schein der elektrischen Straßenbahn lag bleich hier und da auf der Zimmerdecke.“ Weitere Ausgaben der deutschen Verwandlung hatten dann wieder die Lampen im Text.
Aber damit ist Sofri nicht am Ende: Hat Kafka, wie alle meinen, diese zweite Ausgabe tatsächlich nicht Korrektur gelesen? Bewiesen ist es nicht, Sofris Indizien lassen ihn glauben, der penible Dichter habe es doch getan. Und hat er dann nicht vielleicht durch die Erwähnung einer Straßenbahn auf das Ende der Erzählung hinweisen wollen, wo die Familie nach dem Tod des „Ungeziefers“ mit der Tram „ins Freie vor die Stadt“ fährt, vom Alptraum befreit? Sofri spielt ein wenig mit dieser Idee und belegt sie mit einigen anderen Texten Kafkas und der Biografie, die Kafka in Prag in einem Haus wohnen lässt, das tatsächlich von der „Elektrischen“, wie sie damals hieß, beschienen wurde. Die Ähnlichkeit der Zimmer Kafkas und Samsas ist ein weiteres Indiz für Sofris Theorie. Zudem spielte die Straßenbahn in Kafkas Briefwechsel mit Felice Bauer eine große, persönliche Rolle, sodass ihre Erwähnung auch ein autobiografisches, sehr privates Detail und eine weitere, heimliche Widmung an Felice Bauer ist.
„Kafkas elektrische Straßenbahn“ ist eine humorvolle, philologisch aufschlussreiche und flott geschriebene Spurensuche und ein Plädoyer für die Offenheit von Literatur und deren Interpretation.
|
||