Bella Italia statt materialistischer Erkenntnistheorien
„Das Ideal des Kaputten“ bündelt literarische Essays Alfred Sohn-Rethels über seine Zeit in Italien
Von Miriam Zumbusch
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMit Das Ideal des Kaputten erscheinen erstmals fünf Essays des Ökonomen und Sozialphilosophen Alfred Sohn-Rethel in einem Band. Sohn-Rethel beschäftigte sich hauptsächlich mit dem Versuch, Kants Erkenntniskritik mit der Kritik der Politischen Ökonomie von Karl Marx zu verbinden und daraus eine materialistische Erkenntnistheorie und -kritik abzuleiten. Seine Theorien weisen eine Verwandtschaft mit dem Denken der Kritischen Theorie auf und er stand zeitlebens in Verbindung mit Vertretern der Frankfurter Schule. Herausgeber der vorliegenden Ausgabe ist Carl Freytag, der in seinem Nachwort Sohn-Rethels Aufenthalt in Italien (1924-1927) nachzeichnet und Informationen zur Entstehung der einzelnen Essays bereithält. Während die ersten drei Essays Sohn-Rethels Italien-Aufenthalt thematisieren, stammen die letzten beiden aus seiner Zeit im englischen Exil und bestehen aus Anekdoten von Freunden. Sie handeln von zwei Eier stehlenden Ratten und einem Elefanten, der sich auf ein Auto setzt, und sind durchaus kurzweilig und laden zum Schmunzeln ein.
Wirklich interessant und lesenswert sind allerdings Sohn-Rethels Beschreibungen der italienischen Kultur und Mentalität der 1920er Jahre. Sohn-Rethel wohnte in der Nähe von Neapel, in Positano, weshalb sich seine Texte mit Neapel und der Besteigung des Vesuvs beschäftigen. Vesuvbesteigung 1926 schildert Sohn-Rethels eigenen Aufstieg und ist der literarischste Italien-Essay, in dem er seine visuellen Eindrücke, wie beispielsweise das Zusammenspiel der unterschiedlichen Farben, detailliert schildert und den Leser an den Ort des Geschehens mitnimmt. Der Essay besticht nicht nur durch seine Bildgewalt, sondern beschreibt auch eindrücklich die Imposanz und Bedrohlichkeit der Natur sowie die emotionalen Prozesse Sohn-Rethels bei der Konfrontation mit dem Vulkan.
Während die Essenz des Essays über die Vesuvbesteigung in der Naturbeschreibung liegt, befassen sich die anderen beiden Italien-Essays mit der neapolitanischen Mentalität: Eine Verkehrsstockung in der Via Chiaia nimmt einen störrischen Esel zum Anlass, ein Bild der Eigenarten neapolitanischen Lebens zu entwerfen. Dazu gehören neben dem Eselsgefährt selbst und dem Umgang der Neapolitaner mit dem bockigen Tier auch Tierhaltung an den seltsamsten Orten (Hühner in Papierkörben und Kühe in der Kirche), die neapolitanische Einstellung zu Technik und Fortschritt, und die jüngsten Mitglieder der Camorra, der neapolitanischen Mafia. Diese Kinder, Scugnizzi genannt, leben ohne Eltern auf der Straße und finanzieren ihr Leben durch gemeinsame Diebeszüge. Sohn-Rethel verknüpft die unterschiedlichen Themenfelder seines Essays geschickt und liefert ein Bild von Neapel, das den Blick eines Außenseiters mit dem eines Angesiedelten verbindet und dadurch weit über touristische Beobachtungen hinausgeht.
Der distanziert-neugierige Blick des Fremden offenbart sich beispielsweise in der Beschreibung eines Ausflugs mit einem Touristenboot. Der Motor gibt merkwürdige Geräusche von sich und läuft heiß, was den Steuermann dazu veranlasst, darauf für die ganze Reisegesellschaft Kaffee zu kochen. Sprachlich bleibt Sohn-Rethel an manchen Stellen auf Distanz, wenn er sich der Gruppe derer zurechnet, für die Neapel und seine Bewohner mitunter verwunderlich sind. „Er geht mit einem Motorboot aufs offene Meer, sogar bei heftigem Wind, in das wir kaum den Fuß zu setzen wagten.“
An anderer Stelle wiederum erscheint Sohn-Rethel als Eingeweihter, etwa wenn er beschreibt, wie die Bewohner Neapels der Sommerhitze entkommen, und dabei den Eindruck erweckt, selbst Teil des Rituals gewesen zu sein.
Wenn im Monat August zur Zeit des „Solleone“ die brütende Hitze auf Neapel lastete, gab es keinen glücklicheren und erholsameren Ort als die Eisenbahnschächte der Spezialbahn zwischen Rom und Neapel, die in der Tiefe des Vomero ausgehoben worden waren. Die Grüfte und Gewölbe waren himmlisch kühl, mit Wasser, das die Felswände heruntersickerte, und dort erging sich die Jugend und auch ein Teil der Erwachsenen jauchzend in Jubelschreien und Gesängen voll verliebter Begeisterung über das hallende Echo, das aus dem Berg kam.
Die Einstellung der Neapolitaner zur Technik fasziniert Sohn-Rethel dermaßen, dass er sich diesem Thema in einem gesonderten Essay ausführlicher widmet. Dieser titelgebende Text erläutert seine Hypothese, dass dem Neapolitaner alles Funktionierende grundsätzlich suspekt und das Ideal somit nur im Kaputten zu finden sei. Untermauert wird diese These durch verschiedene Beispiele aus dem neapolitanischen Alltag, die zeigen, wie Kaputtgegangenes kreativ, aber nicht dauerhaft repariert oder technische Gerätschaften zweckentfremdet werden, um sie den Bedürfnissen entsprechend zu verwenden. Sohn-Rethel bezeichnet diese Vorgehensweise als Veto des Menschen gegen den Automatismus der Maschinen und sieht im Neapolitaner den wahren Herrscher über die Technik, die anderswo längst das Kommando übernommen hat.
Sohn-Rethels Italien-Essays zeichnen ein sehr spezifisches Bild längst vergangener Zeiten von einer Stadt und ihren Bewohnern, das durchaus nostalgische Gefühle aufkommen lässt. Die Visualität der Essays ermöglicht es, sich in Zeit und Ort hinein zu fühlen, und gibt ihnen einen Anstrich von Literarizität, der sie deutlich aufwertet. Das Nachwort Freytags bildet den geschichtlichen und faktischen Kontext der Essays. Es bietet nicht nur Einblick in die Person Sohn-Rethels und seine Freundschaften mit namhaften Persönlichkeiten wie Theodor W. Adorno oder Walter Benjamin, sondern schlägt auch einen Bogen zum Italien der Gegenwart. In seiner Länge misst das Nachwort ungefähr die Hälfte des Textumfangs aller fünf Essays zusammen, ist jedoch stilistisch der Gattung angeglichen, weshalb es ohne Weiteres als sechster Essay gelesen werden kann.
Eine interessante Beigabe ist auch die Literaturauswahl, die neben den Werken Sohn-Rethels diverse Schriften zu Neapel und Umgebung enthält. Das Ideal des Kaputten kann als Inspiration dienen, sich näher mit Neapel, den 1920er Jahren und ihrer intellektuellen Produktion oder mit dem Autor selbst zu befassen. Als Einstieg in die Werke Sohn-Rethels eignen sich diese Essays sicherlich besser als seine Schriften zur Theorie der Volkswirtschaft oder der materialistischen Kritik der Erkenntnis. Folgt man dann noch den schriftstellerischen Verzweigungen seiner Bekanntschaften, ergibt sich ein umfangreiches Bild der philosophischen und soziologischen Produktion der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aufgrund der übersichtlichen Länge, der Vielzahl an Informationen und Anregungen und der literarischen Qualität der Sprache erhält Das Ideal des Kaputten eine absolute Kaufempfehlung.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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