Verlieren ist das neue Finden

Wer sich mit Rebecca Solnit in „Die Kunst sich zu verlieren“ auf Verschwundenes und Verschwindendes einlässt, gewinnt Einsichten

Von Sandy SchefflerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandy Scheffler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit einem Zitat des Philosophen Menon, das ihr eine Studentin zusteckte, katapultiert uns Rebecca Solnit gleich auf den ersten Seiten von Die Kunst sich zu verlieren ins zentrale Thema ihres „Wegweisers“, dem Suchen und Verirren: „Auf welche Weise willst du dasjenige suchen, wovon du ganz und gar nicht weißt, was es ist?“ Nur allzu natürlich und folgerichtig erscheint es, dass ausgerechnet diese Frage ihr als „die grundlegende taktische Frage des Lebens überhaupt“ unvergesslich im Gedächtnis bleibt. Mut und Hingabe sind erforderlich, denn immer wieder sind da Lebensstränge, die an ihr Ende gelangen, die aus der Hand gegeben werden müssen, um völlig unbekannte, neue aufzunehmen. Wir wandern immer weiter, weiter hindurch durch unsere Biographien von Rätseln. Und auf diesem Weg verändert sich alles ständig. Auch wenn wir nicht wissen, wie das zu suchen ist, von dem wir nicht wissen, was es ist, lassen wir uns doch darauf ein. Wie es scheint, um wenigstens im Nachhinein die Legende unserer Landkarte entziffern zu können. Schritt für Schritt wagt sich der Antwortsuchende voran. Dabei bleibt es nicht aus, sich auf vollkommen unbekanntem Terrain zu verirren. Dies betrifft unentdecktes geistiges Gebiet ebenso wie geographisches. Es kommt nicht darauf an, dass man sich nie verirrt und man es tunlichst vermeidet; das ist schlichtweg nicht möglich; sondern vielmehr darauf, dass man weiß, wie man sich in der Zwischenzeit verhält.

Bei Solnit wird das Unbekannte zur Notwendigkeit. Denn das, was gemeinhin als das „Verlassen der Komfortzone“ propagiert wird, leitet nicht weniger als unsere persönlichen Metamorphosen ein. Das Verlassen wird zu einem Verirren, das die Basis bildet, ganz und ganz und gar neu zurückzufinden. Was uns zwischendrin begegnet, sind die Abenteuer, die wir brauchen, um neue Entdeckungen zu machen. Sicherlich kann dieses Verirren in geographischer Hinsicht auch brenzlig werden. Man kann unterkühlen oder gar sein Leben riskieren. Man sollte also gewahr sein, was man tut. Die Wildnis ist echt und in ihr braucht es bestimmte Outdoor-Kenntnisse, z.B. über Wetter und Orientierung im Gelände.

Solnit trifft trotz der Gefahren ein Plädoyer für das Verirren. Es schafft eine Auszeit aus dem nicht enden wollenden geschäftigen Strom der Alltagswelt. Sie lernt zu verstehen, „verirrt zu sein, […] war hauptsächlich ein Geisteszustand, und das trifft auf all die metaphysischen und metaphorischen Verirrungen genauso zu wie auf das Herumstolpern in irgendwelchen entlegenen Gegenden“. Wohlgemerkt geht damit keine Abwertung einher, sondern die Entdeckung des eigenen Unbekannten, von dem wir nicht einmal wissen, dass wir es suchen oder wo wir es suchen sollen. Das Umherstreifen, um Antwort auf innere Fragen zu finden, verschafft uns eine Art geistige Auszeit; ort- und raumlos und nur dem Unbekannten verpflichtet.

Später „treffen“ wir mit Solnit erneut auf Menon. Diesmal im Titel eines Dialoges von Platon. Nach einer zunächst abweisenden Antwort schildert er, dass die Seele nichts Unbekanntes kennt, da sie bereits überall gewesen ist. Gilt die wissende Seele also als Antwort auf „die grundlegende taktische Frage des Lebens überhaupt“? Solnit beschließt, uns und diesen geheimnisvollen Kompass mit auf die Reisen durch ihre Landschaften zu nehmen. Es sind blaue Landschaften, wie die fernen Bergketten am Horizont. Oder bunte Landschaften, wie das Puzzle ihrer eigenen Verwandtschaft. Solnit beschreibt diese Naturen und Konturen als mäandernde Lebensadern. Ihr selbst wird darüber klar:

Ich wurde mit der Vorstellung von Landschaft als Zufluchtsort groß, mit der Möglichkeit, die horizontale Welt gesellschaftlicher Beziehungen zu verlassen zugunsten einer vertikalen Ausrichtung an Erde und Himmel, dem Stofflichem und dem Geistigen.

Und so ist es nicht verwunderlich, dass Solnit immer wieder sowohl „Stoffliches“ als auch „Geistiges“ in ihren landschaftlichen Betrachtungen entdeckt. Den Typus des Weisen sieht sie mit einem Verstand ähnlich einer „Kurzgrasprärie“ ausgestattet. „Bei uns anderen“ findet sie hingegen „Höhlen, Gletscher, reißende Flüsse, dicke Nebel, Abgründe“ und „sogar wilde, räuberische Tiere“. Doch tauchen noch andere „Landschaften“ auf, an die verblichene Familienfotos erinnern: Geschichten, die sich auf ebenso „verblichene“ erzählte Erinnerungen mal mehr mal weniger bekannter Familienmitglieder stützen. Ein bisschen fühlt es sich so an, als würde man mit auf dem Sofa sitzen und sich die Anekdoten all dieser Leben erzählen lassen. Ihre Schicksale, ihre Tragödien und die oftmals wenigen glücklichen Momente. Etwas Wehmut schwingt darin, so wie sie zu jedem Fotoalbumblättern dazugehört. Wir dürfen intimen Momenten beiwohnen, wie dem Tod der Tante:

Hinterher schien es, als hätten wir an jenem Tag alles gesagt, was gesagt werden musste. […] Ich hatte meine Tante zu ihrem Tod gefahren oder, wie es in jenem leuchtenden Licht schien, das so still war wie der Augenblick nach einem Donnerschlag, uns beide zu einem Treffen mit dem Tod. Diese kühle Wasser- und Lichtpracht ließ den Wald, aus dem wir gekommen waren, dunkler erscheinen; wir waren eingetreten in die farblose, strahlende Landschaft des Todes, die aufgeladen war mit etwas so Vitalem wie dem Leben selbst, zu majestätisch, um Furcht einzuflößen, verklärt, verwandelt in eine andere Welt. […] Am Tag darauf versank sie im Fieberwahn und starb vier Tage nach jener Fahrt ans Meer bei sich zu Hause.

Solnit beobachtet Metamorphosen in allen erdenklichen Variationen. Da sind die Ruinen einer Stadt, in denen sie sich zu gern in Jugendjahren gemeinsam mit einem Freund verirrt. Gar einen Film dort dreht, um sie für ihre Erinnerung und dieses Buch zurückzuerobern. Verfall als Humus für das Wandelbare, das Neue. Immer wieder Reflektionen über das unerklärliche Verschwinden, mit dem der Kopf noch beschäftigt ist, während das Auge bereits die Verwandlung wahrnimmt. So auch beim plötzlichen Tod einer Freundin, der das Gespür für Wandlungen schärft. Auch insofern, als ihnen etwas Unausweichliches innewohnt.

Oft fragt Solnit nach Versäumnissen. Oft schaut sie zugleich aus der Perspektive eines jüngeren Ichs und als Frau, die in der Lebensmitte angekommen ist, auf die damals gemachten Erfahrungen. Sie erkennt, wo sie „ein ganzes Leben verlor“ und „allmählich ein neues, ein offeneres und freieres gewann“. Erinnerungen in Form von alten Songs kartographieren eine musikalische Landkarte, die Solnits Beobachtungen auch in soziokulturelle Landschaften bestimmter Ären einbetten. Immer wieder kontempliert sie über tragische Entscheidungen und verpasste Gelegenheiten, ganz wie die Songschreiber auf ihren Musikkassetten, die sie während langer Autofahrten begleiten; Nostalgie pur und eine Sehnsuchtsmelodie immer im Gepäck.

In der „wunderbaren Einsamkeit der offenen Straße“ gelangt sie in einen Zustand der „Introspektion“, während eine „durchdringende“ Landschaft ihre Abdrücke in ihr hinterlässt. „Heute sehn[t sie sich] nicht mehr danach, neue Gegenden zu sehen, sondern zurückzukehren und die alten gründlicher kennenzulernen, sie neu zu sehen.“ In den mental wie geographisch betretenen Landschaften ist sie zu Hause. Das ist Grund genug, sich von ihnen noch immer und immer wieder neu herausfordern zu lassen. Und über allem schwebt die Frage: Was ist mir entgangen; was habe ich übersehen; was offenbart der Blick aus einer gänzlich anderen als der bisherigen Perspektive?

Die Beobachtung ist das wichtigste Instrument im Leben und im Schreiben Solnits. Beide Prozesse bilden die Kreuzungen, die Abzweigungen, die Sackgassen und die langen Highways in ihren Erzähllandschaften. Und das mäandernde Muster vieler Verirrungen bildet bestenfalls den Weg zu den Häutungen und Metamorphosen, deren Einsichten zu Wegweisern werden. Hingabe ist dafür nötig und Mut und oftmals die kontemplative Wiederholung von Erinnerungen.

Mit der Kunst sich zu verlieren lässt sich einiges dechiffrieren, wofür die Sehnsuchtsfarbe Blau ist: Der Himmel über der Landschaft, der Inbegriff des leeren Geistigen und Grenzenlosen ist; der Blues-Song im Autoradio und die Bilder von Yves Klein. Aus dem anfänglichen Verirren wird auch ein Verlieren; von Gegenständen, von Erinnerungen, von Häusern, die man einst bewohnte. Alles hat Geschichte und erzählt Geschichten. Dieses Buch ist voll davon. Kulturgeschichtliches ist mit der eigenen Biographie verwoben. Und auch wenn den Text eine gedämpfte Melancholie aus den leeren Weiten amerikanischer Wüsten umweht, die Solnit auf Highways durchquert, macht ihn die Dichte der aufmerksamen Betrachtungen, Reflexionen und historischen Bezüge zu einem umfangreichen „Wegweiser“.

Titelbild

Rebecca Solnit: Die Kunst, sich zu verlieren. Ein Wegweiser.
Aus dem Englischen von Michael Mundhenk.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2020.
250 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783957579539

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