Trostrundenkick
Dietmar Sous‘ Fußballerzählung „16:0“ ist ein großartiges Lesevergnügen
Von Werner Jung
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEs gibt solche und solche Sport- und vor allem Fußballereignisse, die sich nicht nur dem sportlichen, sondern sogar dem gesamtkulturellen Gedächtnis einprägen. So die Stimme des Reporters Herbert Zimmermann 1954: „Tor! Tor! Tooor für Deutschland!“. Endlich waren wir wieder wer; dann das den Engländern 1966 durch einen sowjetischen Linienrichter geschenkte Tor, das uns um den vermeintlichen Sieg gebracht hatte; Andi Brehmes – requiescat in pace! – Elfmeter gegen die Argentinier in letzter Minute des Endspiels 1990, oder jenes legendäre 7:1 gegen die Brasilianer 2014.
Dann gibt es aber auch noch solche Spiele und Ereignisse, die aus der Schublade eines Kuriositätenkabinetts zu stammen scheinen: wie das legendäre 16:0 der deutschen Fußballnationalmannschaft gegen die Russen bei den Olympischen Spielen 1912 in Stockholm; freilich erst in der Trostrunde.
Über dieses Spiel hat nun der Stolberger Schriftsteller Dietmar Sous eine kleine Erzählung geschrieben. Sous, der seit 1981 bis heute ein beachtliches Erzählwerk vorgelegt hat – vornehmlich interessiert an Popmusik und Fußball, dabei nicht zuletzt an der wechselvollen Entwicklung von Alemannia Aachen – widmet sich in seinem neuen Text mit Bravour dem historischen Genre, einer historischen Erzählung, ohne dabei auf die gewohnten Zutaten zu verzichten, den Fußball eben und einen lakonischen Tonfall.
Sous erzählt diese kuriose Geschichte aus der Perspektive von Adolf (Adsch) Werner, dem Ersatztorwart, der dadurch zu seinem Einsatz kommt, dass sich der Stammtorwart im (verlorenen) Qualifikationsspiel wenige Tage zuvor gegen die Österreicher arg verletzt hat. Es geht um ein Fußballspiel, bei dem die deutsche Mannschaft nach ihrem 16. Tor kurz vor der 70. Minute ihr Angriffsspiel eingestellt und dem Ende bloß noch entgegengekickt hat:
Ich hüpfte auf der Stelle, um mich warmzuhalten. Sonst pendelte ich neunzig Minuten lang zwischen Langeweile und der Angst, es zu vermasseln. An diesem späten Nachmittag gab es kein Auf und Ab, ich musste es nur schaffen, die Augen aufzuhalten, mehr war nicht nötig.
Jenseits der Legenden, die um dieses Spiel ranken (dass die Russen etwa einen Tag vor dem Spiel gehörig mit Wodka abgefüllt worden seien), erklärt Sous‘ Erzähler, woran es bei den Russen tatsächlich gekrankt hat: Sie, „die das größte Land der Welt vertreten“, waren „planlos wie eine zusammengewürfelte Freizeit-Elf aus San Marino. Kein Auge für den freien Raum, kein Blick für besser positionierte Mitspieler.“
Sous gelingt es darüber hinaus, die historische Atmosphäre und das lokale Ambiente ebenso bildhaft wie präzise einzufangen (den proletarischen Hintergrund der meisten Spieler, die bedrohliche Situation vor Beginn des ersten Weltkrieges, die Zerstrittenheit in der Sozialdemokratischen Partei), genauso aber auch den schon damals obzwar verbotenen, aber hektisch betriebenen Spielerschacher anzudeuten:
Ob du dir vorstellen könntest, für ne Umzugspauschale von tausend Mark, bar auf die Hand, nach Altona zu wechseln, soll ich dich von unserem Präsidenten fragen. – Tausend? fragte ich ungläubig. Ich verdiente vierundneunzig Mark brutto im Monat und turnte dafür sechzig Stunden in der Woche auf dem Dach herum.
Ein großartiges Lesevergnügen! Nicht nur für Fußballfans.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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