Literarische Partituren aus Sehnsucht, Erinnerung und nachgetragener Liebe

Arnold Stadlers „Am siebten Tag flog ich zurück“, „Mein Leben mit Mark“ und „Rauschzeit“ als das Ganze immer nach Hause Geschriebene im Fragment

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der in der Heidegger-Stadt Meßkirch am 9. April 1954 geborene und im nahen Dorf Rast aufgewachsene Schriftsteller Arnold Stadler zählt zweifelsohne zu den bedeutendsten deutschen Schriftstellern der Gegenwart. Der studierte Theologe, promovierte Literaturwissenschaftler und theologische Ehrendoktor der FU Berlin gilt seit seinem autobiografisch grundierten Romandebüt Ich war einmal (1989) als Meister abgründiger Sprachbilder, aphoristischer Pointen, verzweifelt komischer Geschichten und traurig-heiterer Helden.

Dem Prosadebüt folgten – wiederum im Salzburger Residenz Verlag – die gleichfalls autobiografisch grundierten Romane Feuerland (1992) und Mein Hund, meine Sau, mein Leben (1994) – 2009 in überarbeiteter und erweiterter Form in Stadlers neuem Verlag S. Fischer erschienen als Einmal auf der Welt. Und dann so.

Eine größere Öffentlichkeit kennt vermutlich seit Mein Hund, meine Sau, mein Leben den sogenannten „Stadler-Ton“ – von Martin Walser im hymnischen SPIEGEL-Artikel (31/1994) unter der Überschrift „Das Trotzdemschöne“ als „aufrufend und anrufend“ charakterisiert. „Dieser Ton“, hält Walser fest, „entfaltet sich vom Aufrufen und puren Nennen zum lakonischen Konstatieren und zuletzt zum in allen Präzisionen blühenden Erzählen.“

Ein Tonfall, der bereits in Versen wie: „Die Dinge die vor Zeiten schön waren / im Tagebuch / sind nimmer schön / Ich saß auf dem falschen Dampfer / mit einem Koffer voller Tagebücher / Heimgekommen als Dichter / bin ich nicht.“ zu vernehmen war – nämlich in Stadlers Gedichtband Kein Herz und keine Seele. Man muss es singen können. Der Band erschien 1986 im St. Gallener Erker Verlag.

Für sein bisheriges Werk erhielt Stadler breite Anerkennung, darunter 1999 den Georg-Büchner-Preis, den Kleist-Preis, den Alemannischen Literaturpreis sowie mehrere weitere namhafte Auszeichnungen. Als „Satzdenker“ (Jürgen Gunia) ist Stadler stets auch ein Meister einer Ästhetik des Um- und Weiterschreibens – und längst Gegenstand der Literaturwissenschaft wie auch der Theologie, wie nicht zuletzt ein interdisziplinäres Symposion in seiner Geburtsstadt Meßkirch und der entsprechende Tagungsband Jedes einzelne Leben ist die Welt unterstrichen hat.

Arnold Stadler erfindet in einer sprachverschlagenden Art Sehnsuchtsfiguren, die stellvertretend Sätze seiner nachgetragenen Liebe zur Welt formulieren – Es ist sein Ja, sein Hoffnungsschmerz, theologisch gesprochen seine Sehnsucht nach einer Verbindung von Heilem und Heilsbedürftigen – ganz so wie er es etwa in seinem Essay zu einer Arbeit der Künstlerin Margaret Marquart formuliert; es ist sein „Erbarmen mit dem Seziermesser“, wie seine Dankesrede zum Georg Büchner-Preis überschrieben ist, auch und gerade zu den Menschen seiner Herkunftsgegend, dem „Hinterland des Schmerzes“, dem „Fleckviehgau“, wie in den ersten Büchern die Gegend um den sogenannten badischen Geniewinkel bezeichnet ist. Zumal ein Schriftsteller, so Stadler, in den Gefilden von Schwäbisch-Mesopotamien, dem Zweitromland zwischen Rhein und Donau, eine gute Ausgangsposition vorfindet. Denn

kaum irgendwo sonst in unseren kulturellen Breiten wurde so sehr über Leben und Tod nachgedacht wie in Meßkirch, und um Meßkirch herum. […] Und von Meßkirch her lassen sich Welt und Mensch, Leben und Tod auch erkennen: ‚Kaum ist der Mensch geboren, so ist er alt genug, zu sterben.‘ (So steht es als Motto von ‚Sein und Zeit‘).

Insofern ist für Stadler „im Grunde immer noch alles nach Hause geschrieben“.

Stadler schafft in seinen Romanen, Erzählungen, Essays zur Kunst und Literatur, in seinen Porträts, Gedichten und Psalmen-Übertragungen einen Text(t)raum, in dem seine Sätze eine ganze „Existenzdimension“ eröffnen, wie Martin Walser bemerkt hat.

Seit seinem Romanerstling Ich war einmal ist Stadler ein unablässiger Vermesser von Heimatlosigkeit, „ein Phänomenologe, der das, was vorschnell mit ‚Heimat‘ bezeichnet wird, näher anschaut, vielleicht auch nur aus alter Anhänglichkeit“, wie Stadler formuliert.

Seit nunmehr fast vier Jahrzehnten ist er „immer unterwegs, doch treu im Rückkehren“, wie er 2019 in seiner Dankesrede zur doppelten Ehrenbürgerschaft seiner Geburtsstadt Meßkirch und seiner Heimatgemeinde Sauldorf, abgedruckt im Tagungsband „Jedes einzelne Leben ist die Welt“, formuliert.

Stets nimmt der moderne homo viator Stadler seine Leserinnen und Leser in seinen Texten mit auf seine Pilgerreisen nach innen. Sein innwendiges Schwäbisch Mesopotamien sind Sehnsuchtsorte, die immer waren und nie. Denn meist erfahren seine stellvertretenden Sehnsuchtspilger, wie der Protagonist in Stadlers zweitem Roman Feuerland: „Es war alles anders, als ich dachte, ganz wie zu Hause“.

In seinem literarischen Unterwegssein, ob in Romanen, in Erzählungen, ob in seinen Essays zur Kunst und Literatur, ob in seinen Porträts oder in seinen Gedichten und Psalmen-Übertragungen: Arnold Stadler vergegenwärtigt stets eine Welt, die immer das „Ganze im Fragment“ enthält. Egal in „welche Himmelsrichtung“ seine Figuren „sich verirren“: ob sie in Afrika, in Feuerland, in New York, in Scranton am Fuß der amerikanischen Appalachen, ob sie in der Bretagne, in der Basilicata, auf Kuba, in Berlin, in Köln, in Kreenheinstetten, in Bichtlingen, ob sie in Schwackenreute, in Meßkirch oder in Winterreute, auf Schloss Sayn oder auf der griechischen Insel Lefkada mit Blick auf Ithaka, verweilend unterwegs sind, ob seine Protagonisten auf dem Weg nach Basel sind oder im „black forest swizerland“ leben oder ob sie auf dem Weg ans Meer in Fallingbostel im Swinger Club „Blue Moon“ Station machen, ob in Tuttlingen oder am Fuß des Kilimandscharo – Stadlers Figuren vergegenwärtigen stets eine Welt, die immer „war und wohl nie“. Räsonierend, dass das „Leben so kurz ist, wie einmal das Dorf hinauf und hinunter“, zeigen sie in ihrem Zugehörigkeitsverlangen, das zugleich ein „ortloses Heimweh ist“, immer wieder, „wie die Zeit vergeht, aber nicht der Schmerz“, wie es unter anderem im Roman Am siebten Tag flog ich zurück. Meine Reise zum Kilimandscharo (2021) heißt.

Ob in seinem Kilimandscharo-Roman oder im folgenden Roman Irgendwo. Aber am Meer (2023), in dem u.a. eine Lesung aus Am siebten Tag flog ich zurück auf Schloss Sayn scheinbar missglückt, ob im grandiosen Langessay Mein Leben mit Mark. Unterwegs in der Welt des Malers Mark Tobey (2022) oder in der zum 70. Geburtstag gerade erschienenen und neu bearbeiteten Taschenbuchausgabe von Rauschzeit – Arnold Stadler zeigt in all seinen Texten: „Die erste Kunst aller Zeit ist nichts anderes als Sehnsucht nach einer schöneren Welt.“

Stadlers Kunst, seine Erinnerungstexte, sind komponiert wie Partituren. Insofern kann der Erzähler, „ein Joint Venture von Inkasso und Schufa-Opfer“, der zudem darauf beharrt, dass sein Leben wie auch sein Erzählen keinem Plot folgt, in Am siebten Tag flog ich zurück sagen: „Meine Erinnerungen lebten von meinen Wiederholungen und Melodien und Ohrwürmern.“

Für ein „Wochenmagazin, das die Zeit im Namen führte“, respektive deren „Reisebeilage zur Internationalen Tourismusmesse in Berlin“, macht er sich auf zum Kilimandscharo, seinem Sehnsuchtsort seit Kindertagen. Denn im Elternhaus in Rast hängt das 1929 entstandene Ölgemälde „Der Kibo mit Palme“ des Stuttgarter Malers Fritz Lang: „Seitdem ich das Bild zum ersten Mal wahrgenommen hatte, gab es wohl kein schöneres Reiseziel für mich, als jene Stelle zu sehen, die als Bild in unserem Esszimmer hing. Und der Kibo war der Gipfel des Kilimandscharo.“ Eine Abbildung dieses Bildes ziert im Übrigen auch den Umschlag des Romans.

Mein Reiseziel hatte ich frei wählen können. Es musste für die Reisebeilage aber ein Sehnsuchtsziel sein, meine Reise. Da hätte ich auch an erster Stelle meine Graf-Ludwig-Hütte nennen müssen, im Wald von Schwackenreute, keine fünf Kilometer von meinem gewöhnlichen Schlafzimmer entfernt. […] aber dann war es der Kilimandscharo.

So reist der Erzähler am Tag der Heiligen Dreikönige 2017 – trotz Flugangst und Flugscham (was als Wort noch gar benannt ist zur damaligen Zeit) – nach Tansania, ins Innere Afrikas – dieses Mal nicht vom Hotzenwald aus über Portugal wie schon einmal in der 2006 in erweiterter Form vorgelegten Erzählung Ausflug nach Afrika. Die Reise zum höchsten Berg Afrikas, der einst für kurze Zeit auch Kaiser-Wilhelm-Spitze hieß, wird in guter Stadlerscher Manier zugleich eine melancholisch-lakonische wie spott- und pointenreichen Reise nach Innen, in sein eigenes innerstes Afrika. Die Reise, deren Titel augenzwinkernd auf die biblische Schöpfungsgeschichte anspielt, verläuft vielfach „mitten in den Feldern meiner Erinnerung“. Und auf den „Feldern“ dieser „Erinnerungen“ wird einmal mehr der Stadlersche cantus firmus in all seinen ‚Melodien und Wiederholungen als Ohrwurm‘ durchgespielt – nämlich das Wenigerwerden von Heimat, von Vergangenheit, das Verschwinden von Kindheit, – meist im Nachhinein als ein „Verschwinden auf Taubenfüßen“ zu lesen, wie schon 1986 im oben erwähnten frühen Gedichtband Kein Herz und keine Seele. Man muss es singen können:

Und nun, unterwegs zu diesem Berg, der nun schon eine Zeitlang Kilimandscharo hieß, da dachte ich, dass diesen Kindern in den Dörfern am Fuß des Kilimandscharo oder auch erst ihren Kindern der Makadam wohl noch bevorstand: und auch: dass ihre Welt verschwand. […] Ich hatte es hinter mir. Das war vielleicht der einzige wirkliche Unterschied. Dass ihre Welt verschwand. Unter der Walze und dem Makadam. Oder auf Taubenfüßen. So etwas war eines der Hauptereignisse meiner Kindheit. Das war fast schon alles.

Für den Erzähler gilt – wie für die allermeisten Ich-Figuren Stadlers – bereits vor der Abreise, im so betitelten „Präludium“, wo er daran erinnert wie in seiner Kindheit die meisten der staubigen und kalkweißen Feldwege auf dem sogenannten Land mit Makadam geteert wurden: „Die Zukunft war damals meine Sehnsucht, so wie die Erinnerung nun mein Heimweh ist“. „Vergangenheit“ wird bei Stadler wie in Ich war einmal stets zur „zweiten Gegenwart“ und sein Erzähler ist immer noch „einer, der Ich sagt“.

Zur zweiten Gegenwart wird in Stadlers Vorspiel zur Reise an den Kilimandscharo auch die Erinnerung an den Namen Hemingway, der ja mit seinem Snows of Kilimanjaro (1936) untrennbar in der Literatur mit diesem Sehnsuchts- und Sehort des Erzählers verbunden ist. Jedoch nicht dem Frauen- und Großwildjäger Ernest gilt die Erinnerung vor dem Abflug, sondern dessen Bruder Leicester, dem versponnenen und liebenswürdigen Präsidenten der von ihm gegründeten Mikronation „New Atlantis“: „Statt Ernest Hemingway hatte ich aber seinen Bruder Leicester auf meiner Festplatte, früher hätte ich vielleicht noch Hirn gesagt und hätte in Verbindung mit meinem Kilimandscharo von Gepäck gesprochen“. Die Besuche bei Leicester Hemingway („ein glänzender Erzähler, der zum Verstummen neigte“) und seiner Frau in Zusammenhang mit Claire und deren Söhne Jim und Joe Martinelli kennen Stadler-Leserinnen – übrigens als Marinellis – schon unter anderem aus Komm, gehen wir (2007) und New York machen wir das nächste Mal (2011) sowie Franz Marinelli aus Der Tod und ich, wir zwei (1996) und erneut auch in dem grandiosen Liebes-, Lebens-, Kunst- und Künstler-Essay Mein Leben mit Mark. Unterwegs in der Welt des Malers Mark Tobey (2022).

Eng sind die Motive verknüpft, so mäandernd und sprunghaft-assoziativ der Erzähler seine „Reise zum Kilimandscharo“ auch erinnernd auf-, um- und weiterschreibt, umso mehr, da es „beim Schreiben“ (…) „doch wohl eher um Einfälle aufgrund des Gesehenen als um Gedanken“ gehe. Mit der Fahrt von Lodge zu Lodge mit Freddy seinem Fahrer, „der aus der Stadt kam“ und „mit den Augen eines Kolonialbeamten unterwegs, der die Rückständigen besuchte – wie damals der Landrat uns –, die noch nicht richtig sprechen konnten“, stellt der Reisende sehnsuchts- und schmerzvoll einen apophthegmatischen Satz aus Stadlers Feuerland variierend, zugleich fest: „Ich war aus meinem Dorf in dieses Dorf gekommen, und es war ganz wie zu Hause. Ich fuhr von Dorf zu Dorf, von einem Dorf zum anderen; und immer mehr schien es mir, als wäre es eine Fahrt nach Hause, nur heute vor fünfzig Jahren.“

Am fünften Tag schließlich findet der Erzähler, abweichend von der vom Veranstalter vorgegebenen Route, auf der Kilimandscharo View Lodge die Stelle, „von der aus Fritz Lang mein Bild gemalt hatte.“ Als Anti-Utilitarist ist ihm jeglicher sportliche Kampfgeist, jeglicher zur Schau gestellter Bezwingerwille der „Outdoor-Sportskanonen“ ein Graus. Am siebten Tag flog ich zurück ist daher auch eine Anti-Abenteuer- und -Heldengeschichte:

Wie sie sich aufmachten, und am Ende würden ihre Füße auf dem Kibo stehen wie auf einem Besiegten. Und dass dies manchem Climber immer noch nicht genügte. Er wäre erst ganz oben angekommen, wenn die Bergkreuze verschwunden wären, die ihn immer noch um ein paar Zentimeter überragten. Und ich zurückblieb.

Ihm genügt das Sehen, das Unterwegssein mit den Augen. „Ja. Ich wusste es nun. Das Ziel meiner Reise war diese Aussichtsveranda, von der aus ich meinen Berg sehen konnte.“ Und beinahe stellt sich ein Genesis-Feeling ein: „Nun war es Abend, und ich dachte, dass es gut war“. Der fünfte Tag. Und am nächsten Tag, bevor es am siebten Tag zu „final destination“ zur Eiswette nach Bremen gehen soll, verbringt der Erzähler – die letzten Sätze von Stadlers Debüt Ich war einmal – erinnernd, nämlich: „fertig kommt von fährtig, zur Abfahrt bereit“ – auf der Terrasse seiner Lodge „mit nichts als Schauen“, zugleich schon auch gedanklich voraus reisend auf die Insel Lefkada und den neuen Roman Irgendwo. Aber am Meer – wird ihm der für die hanseatische Herrengesellschaft notwendige Smoking samt eines Lackschuhs von einem Affen geklaut. Das stört aber den modernen Don Quichotte nicht mehr, er ist am Ziel seiner Reise (nach innen) angekommen:

Fritz Lang, von dem ich so viel wie nichts wusste als dieses Bild, der seinen und meinen Kilimandscharo im dritten Jahr nach Afrika malte, habe sein Leben in ein Vorher und Nachher geteilt […] und wusste nun für immer, dass die Sehnsucht nach diesem Berg, die so lange meine Zukunft war, nun in der Erinnerung mein Heimweh wäre.

Wie der „Kibo mit Palme“ zum Ausgangs- und Zielpunkt einer Sehnsuchts- und Liebesgeschichte des Erzählers Stadler wird, so das Bild „Glowing Fall“ (1975) von Mark Tobey. Es ist dies der Beginn seiner Liebes- und Sehgeschichte mit dem US-amerikanischen Maler Mark Tobey (1890-1976), der als Wegbereiter des Abstrakten Expressionismus gilt.

„Jede Liebe beginnt mit einem Blick. Das war auch bei mir so. Eines Tages sah ich ihn, es ‚Glowing Fall‘, Marks Bild, in das ich mich augenblicksweise und augenblicklich verliebte.“ Zu diesem Zeitpunkt war Tobey bereits drei Monate tot und Stadler gerade aus dem Priesterseminar von Rom nach Freiburg im Breisgau übergesiedelt, um weiter zu studieren: „Es war etwas Leuchtendes, ein Licht, das mich anstrahlte, und ich fing Feuer.“ Und wie!

Es ist Heinrich Wiegand Petzet, der Heidegger-Freund, der Stadler mit Tobey bekannt macht. Und ab da ist Stadler 40 Jahre mit Mark unterwegs bis zu diesem großartigen Essay mit zahlreichen Abbildungen von Tobeys Werken. Und wie immer bei Stadler bestimmen die mäandernden Wiederholungen die Grundmelodie des Werks: „Mein Buch und meine Sätze sollten so miteinander verwoben sein, ‚interwined‘. Also verflochten wie die Linien und Bilder von Mark es sind, dachte ich. Und sein Leben auch. Wie die Linien des Lebens. Von ‚Moving Focus‘ bis ‚All-over‘. Marks Schreiben der Bilder ist auch ein Übersetzungsvorgang der Welt in seine Welt, die We-are-all-waves-Welt.“

Stadler reist an die verschiedensten Orte, an denen Tobey gelebt und gemalt hatte: von Trempealeau am Mississippi, wo Stadler sein „Trempealeau-Erkenntnis“ hat, nämlich, dass Tobeys Bilder „keine Abbildungen sein sollten, sondern eine Bewegung von hier nach dort. Eine Art ‚poetry in motion‘“, nach Basel, wo Tobey zuletzt lebte und auch begraben liegt, nach New York oder Seattle. Er lässt verschiedene Ausstellungen Revue passieren, erinnert an Künstler- und Lebensfreundschaften und Marks Lebenspartner, liest sich durch die Kataloge und Tobey-Literatur und vergegenwärtigt sich und den Leserinnen und Lesern die wunderbare Welt Tobey, den er selbst als „große(n) Vergegenwärtiger unter den Malern, denen (er) begegnen durfte“ begreift: „Weder abstrakt noch gegenständlich. Weder links noch rechts. Weder Dur noch Moll. Einfach da.“ So macht er den „Kosmos“ Tobey – kongenial unterstützt von den zahlreichen Abbildungen, die er mit ebenso subtilen wie klugen Erläuterungen versieht – lesbar: einmal mehr in der für Stadler typischen Art – mäandernd den sichtbaren und unsichtbaren Wellenbewegungen Tobeys und letztlich auch des eigenen Lebens nachspürend. So wird der kunsthistorische Essay in manchen Passagen auch als Kommentar des eigenen Schreibens verständlich. Ein Genuss, dieses nachzuvollziehen und zugleich auch hier nochmals das Stadlersche Diktum vergegenwärtigt zu finden: „Mein Leben hat keinen Plot“ und „das Leben ist nicht systematisierbar“, aber auch: „Jedes einzelne Leben ist die Welt.“

Arnold Stadlers Unterwegssein in der Welt des Malers Mark Tobey ist eine literarische und bilderreiche Vergegenwärtigung, eine Liebesgeschichte als Rauschzeit, eine Rauschzeit als vierzigjährige Liebesgeschichte, so wie das Leben der vierzigjährigen Protagonisten Irene und Alain und ihrer Freunde Babette, Justus, Inge, Elfi und Norbert. Stadler hat – wie eingangs erwähnt in seiner Taschenbauchausgabe – die Partitur in ihren ‚Melodien und Wiederholungen als Ohrwurm‘ um-, fort und weitergeschrieben. So sind insbesondere Anfang und Ende neu komponiert. So etwa indem nun das Eingangskapitel aus der Sicht Alains beginnt. Doch immer noch gilt, was ich bei der Erstausgabe hier geschrieben habe: „Die Geschichte von Alain, Babette, Irène (genannt Mausi), Justus, Inge, Toby, Elfi und Norbert lässt sich als Summe der bisherigen Stadler-Werke lesen, angefangen von der autobiografisch grundierten Trilogie Ich war einmal, Feuerland, Mein Hund, meine Sau, mein Leben, über Der Tod und ich, wir zwei, über Ein hinreißender Schrotthändler, Eines Tages, vielleicht auch nachts, Sehnsucht. Versuch über das erste Mal, über Salvatore und Komm, gehen wir bis zu New York machen wir das nächste Mal. Und natürlich sind auch die Stadler’schen Essays über Johann Peter Hebel, Adalbert Stifter oder über die Maler Jakob Bräckle, Fritz Lang oder die Künstlerin Margaret Marquardt mitzulesen, weil diese direkt oder indirekt zitiert werden, wie auch einige Reden, Nach- und Vorworte.

Doch das Schöne an Rauschzeit ist: Man muss die angeführten Texte gar nicht kennen, um im Satzkosmos von Rauschzeit mit Vergnügen selbstvergessen einzutauchen. Oder gleich, wenn so viel Subjektivität an dieser Stelle gestattet sein mag (oder auch nicht, möchte ich mit Stadler sagen), um den Roman im Kopf, als dem „Glücks- und Unglücksspeicher“ der Stadler’schen Figuren, gleich selber beim Lesen weiterzuschreiben. Zumal Stadler Mausi- und Alain-Kapitel in auktorialer Erzählweise (Mausi) und Ich-Perspektive (Alain) so gekonnt miteinander abwechselt und durch Leser- und Selbstkommentare sowie durch eine Fülle von Zitaten und Kryptozitaten, die Entstehung des Romans mitreflektiert, mitschreibt, sodass am Ende Autor und Erzähler verschwimmen.“

Angefangen von Ich war einmal über all die anderen Romane, Erzählungen und Essays entsteht so ein dichtes Textgewebe, beginnen verschachtelte und labyrinthische Text(t)räume zu leben, in denen man sich verlieren kann und doch nicht. Ein Werk, das mit jedem neuen Stadler-Text um ein Kapitel wächst, das dazu auffordert immer wieder neu und anders gelesen zu werden. Schließlich gilt das Jakob Bräckle-Zitat, das als Motto seine Tobey-Liebeserklärung ziert, auch und gerade für das Schreiben von Arnold Stadler. „Die erste Kunst aller Zeiten ist nichts anderes als Sehnsucht nach einer schöneren Welt“.

Titelbild

Arnold Stadler: Am siebten Tag flog ich zurück. Meine Reise zum Kilimandscharo.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2021.
240 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783103972504

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Titelbild

Arnold Stadler: Mein Leben mit Mark. Unterwegs in der Welt des Malers Mark Tobey.
Hanser Berlin, Berlin 2022.
170 Seiten , 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783446274846

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Titelbild

Arnold Stadler: Rauschzeit. Roman.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2024.
560 Seiten , 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783596195305

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