Auf der Suche nach der engagierten Literatur

Der von Ingar Solty und Enno Stahl herausgegebene Tagungsband „Literatur im politischen Kampf“ versammelt Beiträge zu einem linken Literaturbegriff

Von Günter RinkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Rinke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zur Einstimmung auf die Lektüre dieses Sammelbandes, der eine Münchener Tagung zum Oberthema „Richtige Literatur im Falschen“ dokumentiert, eignet sich der vierte Teil der Dokumentarfilmreihe Was war links? (2003) von Andreas Christoph Schmidt. Die darin gegebene Bilanz der 68er Bewegung und ihrer Ausläufer wirkt – darauf verweist das Präteritum im Titel – wie ein Abgesang auf linke Literatur- und Filmexperimente, 35 Jahre nach „68“ und fast fünfzehn Jahre nach dem Niedergang des „real existierenden Sozialismus“.

Wenn die Filmreihe so gemeint war, dann war der Abgesang jedenfalls verfrüht, denn die Lektüre heutiger linker Publikationen verschafft uns ein Déjà-vu-Erlebnis: alles schon dagewesen. Das zeigen vor allem die beiden umfangreichsten Beiträge des Bandes, verfasst von den Herausgebern Ingar Solty und Enno Stahl, in denen sie vor allem zwei Fragen zu beantworten suchen: Wie kann die Literatur den Weg zu den „Arbeitern“ finden, und was taugt heute noch die (zu Unrecht?) viel gescholtene Widerspiegelungstheorie nach allen avantgardistischen und postmodernen Ab- und Umwegen der Literatur und Kunst?

Als Lehre aus der „Arbeiter*innenbewegung“ der Weimarer Republik, die angeblich die Kunst demokratisierte, schwebt Solty vor: „Der passiv konsumierten (unbewussten) Literatur von oben müsste eine bewusste, aktiv geschaffene Literatur von unten entgegengesetzt werden – und somit der herrschenden Literatur und dem Publikum der herrschenden Klasse ein neues Publikum.“ Man wüsste gerne, wer genau heute die „Herrschenden“ („Schlipsträger“? „diejenigen, die morgens und nicht abends duschen“?) und wer die „Beherrschten“ eigentlich sind. Beispiele für eine demokratisierte Literaturproduktion in der Nachkriegszeit sind für Solty der „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ und der „Bitterfelder Weg“ in der DDR. Das Scheitern des letzteren, von dem vor allem die Parole „Greif zur Feder, Kumpel!“ bekannt ist, wird in dem lesenswerten Beitrag von Anett Gröschner im selben Band allerdings lakonisch konstatiert. Zu fragen ist in diesem Zusammenhang weiterhin, welche bleibenden literarischen Werke der westdeutsche „Werkkreis“ der Nachwelt denn hinterlassen hat.

Enno Stahl, der sich kürzlich in seinem Roman Sanierungsgebiete (2019) mit Problemen der Gentrifizierung in Berlin auseinandersetzte, versucht der Widerspiegelungstheorie neues Leben einzuhauchen. Dabei zitiert er Theorie-Klassiker wie Hans Heinz Holz, Lenin und Thomas Metscher und setzt sich kritisch mit Georg Lukács und dessen Vorliebe für den bürgerlichen Roman des 19. Jahrhunderts auseinander. Er ist aber von diesem gar nicht so weit entfernt, wenn er an den aus den Debatten um den poetischen bzw. bürgerlichen Realismus bekannten Totalitätsanspruch erinnert, den der Roman zu erfüllen habe. Nun soll es um die Herstellung einer „neue[n], gebrochene[n] Totalität“ gehen.

Erfrischend sind Stahls undogmatische Überlegungen zur adäquaten Widerspiegelung von Wirklichkeit in der Literatur. „Wer urteilt darüber, was richtig oder falsch ist? Gibt es die Kategorien ‚richtig‘ und ‚falsch‘ im Rahmen eines künstlerischen Werks?“, fragt er zu Recht und lässt die marxistisch-leninistische Ideologie als unhinterfragbaren Maßstab zur Beantwortung dieser Fragen nicht gelten. In Ländern, die die Lehren Lenins in die Praxis umsetzten, wurden diese Fragen kurzerhand von der Partei beantwortet. Die angemessene Widerspiegelung der Realität war dort kein ästhetisches Problem, sondern eine Machtfrage. Die DDR-sozialisierte Anett Gröschner liefert in ihrem Beitrag dafür Anschauungsmaterial.

Dass sich spätere Konfliktlinien und Machtstrukturen schon 1919/20 andeuteten, zeigen die ersten vier Aufsätze über „Literatur und Literaten in der Münchener Räterepublik“. Die in den Beiträgen von Jonas Bokelmann, Norbert Niemann und Leonhard F. Seidl vorgestellten Autoren schrieben aus unorthodox anarchistischen, nicht parteikommunistischen Impulsen heraus oder zeigten sich, wie etwa Ernst Toller, von gewaltbereiten Kommunisten wie Eugen Leviné und Max Levien abgestoßen. So entstanden Konflikte nicht nur mit den Freikorps und Reichswehrverbänden, die ihre Gegner niedermetzelten, sondern auch innerhalb der linken Bewegung.

Bokelmann, der sich vornehmlich mit Werken von Albert Daudistel und B. Traven beschäftigt, stellt zutreffend fest, „dass Gegnerschaft zu Krieg und Militarismus das treibende Motiv von Novemberrevolution und Rätebewegung nicht nur in Bayern gewesen ist“. Zielbewussten Spartakisten reichte das nicht aus, sie orientierten sich am bolschewistischen Umsturz in Russland. Daudistel erzählt am Anfang seines Hauptwerks Das Opfer (1925) von der Vagabondage seines Protagonisten Heinrich Hölzl, der im Krieg zum Revolutionär wird. In der kommunistischen Parteizeitung Die Rote Fahne lobt K.A. Wittfogel ihn wegen manch realistischer Schilderung, kritisiert ihn aber, weil seine „künstlerischen Mittel kleinbürgerlich[]“ seien. In Anlehnung an Ernst Bloch (Erbschaft dieser Zeit) verteidigt Bokelmann die kolportagehafte Erzählweise von Daudistel und Traven.

In seiner ausführlichen Re-Lektüre von Oskar Maria Grafs autobiographischem Buch Wir sind Gefangene, in dem wiederum bohemehaft anarchistische Züge des Autors zutage treten, konstatiert Norbert Niemann, dass nach Grafs Wahrnehmung die Gesellschaft nicht nur durch Klassengegensätze gespalten, sondern ein Riss „auch durch die Reihen der progressiven Milieus in Kunst und Politik“ gegangen sei. Auch in diesen Milieus nahm sich Graf als Außenseiter wahr. Gleiches kann wohl über Erich Mühsam gesagt werden, dem Leonhard F. Seidl ein Porträt widmet. Als Mentor sowohl Mühsams als auch Ernst Tollers und anderer Autoren (zeitweise auch des Dramatikers Georg Kaiser) tritt immer wieder Gustav Landauer in Erscheinung, der ein höchst unorthodoxes Konzept von Sozialismus vertrat.

Sehr verdienstvoll ist es, dass Cornelia Naumann an die Revolutionärin Sonja Rabinowitz, später verheiratete Sonja Lerch, erinnert. Diese unerschrockene Pazifistin und Revolutionärin, die sich im Januarstreik 1918 engagierte und dafür verhaftet wurde, hat es sicherlich verdient, dass sie nicht vergessen wird. Ihr Mann, der Romanist Eugen Heinrich Lerch, distanzierte sich von ihr aus Karrieregründen und strengte einen Scheidungsprozess an, als sie bereits als „Landesverräterin“ im Gefängnis saß, wo sie Ende März 1918 unter nicht ganz geklärten Umständen starb. Naumann erwähnt, dass Ernst Toller sie in seinem Drama Masse Mensch unter dem Namen Sonja L. zu einer literarischen Figur machte. Es wäre eine Nachbemerkung wert gewesen, auf welch eindrucksvolle Weise er das tat.

Praktische Fragen des literarischen Schreibens in der Gegenwart werden nur von dem Schriftsteller Michael Wildenhain erörtert. Zunächst geht Wildenhain in seinem Beitrag auf seine Prägung durch die Hausbesetzungen in den 1980er Jahren ein. „Orientiert waren sie an einem eher anarchistisch inspirierten Begriff von (permanenter!) Revolte, und wohl weniger an der Vorstellung eines revolutionären Umsturzes.“ Nach der Darlegung von Formproblemen des Erzählens kommt Wildenhain zu einem relativ vage bleibenden Begriff von politischer Literatur, die einen gesellschaftliche[n] Echo- oder Resonanzraum“ brauche. Insgesamt sind seine Aussagen beglaubigt durch seine Autorschaft, er hat zahlreiche Romane und Erzählungen, darunter auch Kinder- und Jugendbücher, geschrieben.

Schließlich beschäftigt sich Chris Reitz mit Ideologemen und Medienstrategien der sogenannten Neuen Rechten, wobei er den Bogen von Halle und Hanau bis Utøya und Christchurch spannt. Informativ sind seine Ausführungen über rechte Denkfiguren wie „Wolfszeit“ und Kommunikationsstrategien wie „Memetic Warfare“. Zu hinterfragen ist die Einordnung dieser Erscheinungen in eine linke Erzählung, nach der die autoritäre Umgestaltung der freiheitlichen Gesellschaft durch die „herrschenden neoliberalen Parteien“ nicht erst kurz bevorstehe, sondern schon eingeleitet sei. Da liest man an einseitige Faschismustheorien erinnernde Sätze wie: „Der Ethnonationalismus der Neuen Rechten formiert sich nicht als Widerstand gegen den freien Kapitalverkehr, sondern stellt eine autoritäre Reaktionsbildung auf die Widersprüche des zeitgenössischen Kapitalismus dar.“ Die blässlich bleibende Klassenkampfrhetorik, die auch in anderen Beiträgen aufscheint, verhüllt die theoretischen Differenzen im Spektrum heutigen linken Denkens. Der sprachliche Gestus ist (zu) oft der der Intoleranz, nicht der des Dialogs. Ist jede einwanderungskritische Position von vornherein als rechtsradikal und rassistisch delegitimiert? Erübrigt sich darüber jegliche Debatte? Wird als Gesprächspartner ernst genommen, wer statt von Kapitalismus von Marktwirtschaft spricht und diese für reformierbar hält? Störend ist auch oft die (Selbst-)Verpflichtung zur Gendersprache, die die Vermischung von Kategorien (z.B. sozioökonomischen mit dem Genderaspekt) zur Folge hat und beim Lesen irritiert. Der – bis auf das große Binnen-I – kleingeschriebene Schlussbeitrag des Grazer Autors Stefan Schmitzer, der angesichts überhand nehmender rechter Umtriebe schon meint, die Linke könne einpacken, erscheint angesichts der Debatten über cancel culture, political correctness usw. als reiner Zweckpessimismus. Ein heimattümelnder Liedtext eines in Österreich erfolgreichen Schlagersängers ist noch nicht ohne Weiteres das Vorzeichen einer neuen Herrschaft der Barbarei. Abschließend ein Wort zum einleitenden Vortrag von Dietmar Dath, dem Science-Fiction- und Marxismusspezialisten, der in seinen Texten gern von einer Metaebene auf die nächste wechselt, bis man nur noch mit Mühe ahnt, was er meint. Er macht neugierig auf die Verfilmung des Jack London-Romans Martin Eden von Pietro Marcello, den er auf dem Lido in Venedig schon sehen durfte, während wir in Deutschland wegen der Pandemie weiter auf ihn warten müssen. Und er gibt den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Tagung den kryptischen Satz mit auf den Weg: „[S]o schreiben, dass das Verhältnis von Variablen und Invarianten gemäß den tatsächlichen Handlungsmöglichkeiten der Lage bestimmt ist.“ Jedenfalls kann man den Herausgebern nicht vorwerfen, dass ihr Buch nicht zum Nachdenken anregen würde.

Titelbild

Ingar Solty / Enno Stahl (Hg.): Literatur im politischen Kampf. Schriftstellerinnen und Schriftsteller in Revolution und Reaktion.
Verbrecher Verlag, Berlin 2021.
200 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783957325020

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