Ein feuilletonistischer Blick auf Marx überträgt seine Ideen in die heutige Zeit

In „Herr der Gespenster“ führt Thomas Steinfeld die Gedanken von Karl Marx weiter und gelangt so zur Occupy-Bewegung und zu Donald Trump

Von Rafael Arto-HaumacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rafael Arto-Haumacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt vielerlei Arten, wie man sich Karl Marx (1818–1883) nähern oder sich von ihm distanzieren kann. Man kann ihn und sein Werk müde belächeln mit dem Hinweis, seine Überlegungen zum Klassenkampf und zum Gemeineigentum in einer klassenlosen Gesellschaft seien von der Realität längst widerlegt; es gebe gerade noch eine Handvoll Länder mit kommunistischem System.

Man kann Marx auch, in alter konservativer Manier, hysterisch bekämpfen, weil man befürchtet, die bloße Berufung auf ihn sei gleichbedeutend mit dem Wunsch, das kapitalistische System abzuschaffen und an seine Stelle ein planwirtschaftliches zu setzen. Ebenso kann man sich mit ihm analytisch auseinandersetzen und etwa aufdecken, wo er recht hatte und wo nicht. Schließlich kann man ihn als unbezweifelbare Ikone sehen und in seinem Sinne überzeugt sein, es müsse doch neben dem kapitalistischen System mit all seinen Verwerfungen und trotz gescheitertem real existierenden Sozialismus einen alternativen wirtschaftlich-politischen Weg geben.

Es gibt Berge an Literatur, die sich diesen Ansätzen verschreiben – nicht nur jetzt zum 200. Geburtstag von Marx. Erfrischend anders ist die Herangehensweise von Thomas Steinfeld. Der ehemalige Feuilleton-Chef und derzeitige Kulturkorrespondent der Süddeutschen Zeitung hat mit Herr der Gespenster eine „Folge von Essays, die um die Gegenstände der Marx’schen Theorie kreisen“, veröffentlicht. Die über viele Jahre entstandene Sammlung greift zentrale Gedanken von Karl Marx auf, so wie sie dieser in seinen Schriften, hauptsächlich im ersten Band von Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie (1867) sowie im Manifest der Kommunistischen Partei (1848) entwickelte. Dabei geht es Steinfeld weniger um eine systematische Auseinandersetzung als vielmehr um das Weiter- und Selbstdenken, „stets mit einem Blick auf die Gegenwart“: Marxʼ Ideen werden zum Ausgangspunkt eigener Gedanken, die mitunter von Marx wegführen, nur um wieder zu ihm zurückzufinden.

Dabei erscheinen die Gedanken des umstrittenen Ökonomen zunächst als „Gespenster“, als herumgeisternde Ideen, von denen jeder schon einmal gehört hat, ohne dass sie recht greifbar wären oder sich zu einem großen Ganzen materialisieren würden – es sei denn, man hat sich als Spezialist bereits intensiv mit ihnen beschäftigt. Steinfeld lehnt sich mit seinem Buchtitel an die Untersuchung Marxʼ Gespenster (1993) des französischen Philosophen Jaques Derrida sowie an den Anfangssatz im Manifest der Kommunistischen Partei an: „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus“.

In einem feuilletonistisch-plaudernden Ton, der die gedankliche Dichte und Tiefgründigkeit stets stützt und für ihre Zugänglichkeit sorgt, führt Steinfeld durch die mitunter sperrige Marx’sche Ideenwelt von Geld und Kapital, Tauschwert und Gebrauchswert, Eigentum, Gleichheit, Arbeit, Mehrwert, Revolution, Marke oder Fetischcharakter der Ware. Dabei schlägt er den Bogen zur aktuellen weltpolitischen und -ökonomischen Lage, indem er Querverbindungen zu Phänomenen wie Finanzkrise, Globalisierung, Occupy-Bewegung, Migration oder Donald Trump schafft.

Damit gelingt Steinfeld die überraschend fruchtbare Auseinandersetzung mit Marx aus einem feuilletonistischen Blickwinkel heraus und mit aktuellen Bezügen, ohne ihn zum Visionär mit unvergänglichen Ideen zu verklären oder die Widersprüche in dessen Argumentationen, etwa zum Gebrauchs- und Tauschwert, zu ignorieren. En passant werden die wichtigsten Begriffe der Marx’schen Lehre anschaulich gemacht. Steinfeld zeigt, dass man spannende Einsichten in Marxʼ Welt gerade auch dann gewinnen kann, wenn man Marx nicht ausdrücklich erklären will oder nachweisen möchte, ob er nun ein genialer Ökonom oder ein konfuser, verkopfter Theoretiker war. Gerade die ideologische Zwanglosigkeit, die Haltung, Marx nicht zu vereinnahmen (oder sich von ihm vereinnahmen zu lassen) und das fehlende Diktat, ihn auf Biegen und Brechen für aktuell erklären zu müssen, lassen Steinfeld den Raum, die Ideen von Marx hin und her zu wenden und assoziativ, jedoch mit überzeugender Plausibilität, Verbindungen zu aktuellen Themen zu entwickeln.

Steinfelds Ausführungen leben zweifellos von seiner Belesenheit und seiner philosophisch geschulten Argumentation, die weder abstrakte Ebenen noch plakative Direktheit scheut. Zudem beherrscht er die Kunst, Marxʼ mitunter diffuse und disparate Gedanken in eine nachvollziehbare Struktur zu bringen und seiner eigenen Gedankenentwicklung scheinbar mühelos einzugliedern.

Herr der Gespenster ist ein unkonventionelles Marx-Buch, weder wissenschaftlicher Kommentar noch Biografie noch Exegese, das durch die Verknüpfung von wirtschaftlichen, philosophischen, geschichtlichen und politischen Themen auch aktuelle Gesellschaftsanalyse ist – die freilich nicht den Anspruch auf Vollständigkeit oder auf wissenschaftliche Belastbarkeit erhebt. Als ob das nicht genug wäre, motiviert die Lektüre des Buchs obendrein, Marx‘ Hauptwerk Das Kapital wieder aus dem Bücherregal zu nehmen, den Staub vom Kopfschnitt zu blasen und sich in die nicht immer einfache Lektüre zu vertiefen. Nachdem Steinfeld die „Gespenster“ durch seine Kapitel gescheucht und im übertragenen Sinne verdinglicht hat, lohnt sich die erneute Lektüre durchaus.

Titelbild

Thomas Steinfeld: Herr der Gespenster. Die Gedanken des Karl Marx.
Carl Hanser Verlag, München 2017.
287 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783446256736

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch