Stimmenhörer oder: meine Probleme möchte ich haben

Zu Andi Schoons Erzählung „Die schwache Stimme“

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Irgendwas mit Stimme. Oder Stimmen. Laut, leise, von außen, innen, links, rechts. Oder vielleicht geht es um etwas, das die Protagonisten der Erzählung Andi Schoons, Kultur- und Medienwissenschaftler an der Universität Bern, irgendwie mit einem inneren Selbst identifizieren. Oder auch nicht. Das ist alles etwas unklar. Das Ganze geht didaktisch los und bleibt es auch: „Das Bauchgefühl gibt wahre Zeichen, der Ruf des Herzens ist echt. Welches Organ sie auch entsenden mag, innere Stimmen gelten als unfehlbar. Dabei ist dem Ratschlag aus der Tiefe nicht immer zu trauen, ich würde sogar sagen: Die innere Stimme ist ein schwer durchschaubares Miststück. Sie weiß mehr über uns als wir selbst. Sie wirkt wie ein schwaches Gift – unmerklich, aber gewiss. – Lassen Sie mich von einigen Personen und ihren Einflüsterungen berichten.“ Was folgt, sind vier fortysomethings Personalien aus der akademisch gehobenen Bürgerlichkeit, globalisiert. Darauf weisen die Orte hin – es geht von Berlin/Potsdam über Hamburg-St. Pauli  (trendy!), Tanger (zu Paul Bowles nach einem kleinen Abstecher nach Rumänien) nach Bern.

Da ist zuerst Alois Paschen, „einsamer Waldgänger“: Achtung: Anspielung. Ernst Jünger. Und richtig: Alois erhält im Traum Anweisungen von Carl von Clausewitz, ist ein verschüchterter Anhänger der Konservativen Revolution minus Revolution, denn dieser zu Anfang als Unternehmensberater tätige und in der Freizeit Bratsche spielende Irgendwiewas will wohl authentisch sein. Alois ist enttäuscht von Sven in der Boston Consulting Group, da wird eben nicht nach preußisch-clausewitzscher Kriegsordnung gearbeitet. Alois sinniert über Musik, tags darauf erlebt er in Potsdam eine Epiphanie. Mit einer solchen werden auch die anderen drei Protagonisten ausgestattet, typographisch abgesetzt durch Großdruck. Da passiert jedes Mal etwas, was irgendwie mit Stimmen zu tun hat. Was könnte das bei Alois sein? Er erinnert sich an einen Schlossbesuch bei Freund Dietrich, jetzt Herausgeber eines rechten Periodikums mit dem Titel: „Der Marsch“ (oops!). Das Schloss ist tapeziert mit Reichskriegsflaggen, die Kehlen der Sprösslinge Dietrichs sind voll mit Nazi-Liedgut. Einerseits bewundert Alois Dietrichs landsknechthaftes SA-Selbstbewusstsein, andererseits stört es ihn: „Diese Möchtegern-Elite hatte weder Maß noch Stil. Die brüllten auf Demos grauenhaft plakatives Zeug ins Megafon und ließen sich von besoffenen Kleingeistern feiern.“ Wird es Alois bei Hausmusik, Bratsche und der betörend bürgerlichen Natascha in Berlin besser ergehen? Nein, denn die entpuppt sich, wie auch ihre Gäste, nach Aufführung melancholischer Mahler-Musik doch bloß als eine bei grässlichem Russenpop völlig entgrenzt Hopsende.

Bevor man zu Sarah Tobler, Medienkünstlerin im hippen St. Pauli, kommt, raunt Schoon fragend eine Erkenntnis heraus, denn er sieht eine Korrespondenz zwischen der „neobiedermeierlichen Zone“ des linkshedonistischen St. Pauli und dem neurechten Milieu. Sei das nicht „unheimlich“? Keine neue Frage; und man kriegt auch keine neue Antwort dazu. Und wo zwickt es Sarah? Ihre Epiphanie erlebt sie auf der Biennale in Sevilla: „Das hier war also heute Abend das Zentrum der politischen Kunst. Aber es war auch eine ganz normale Party“. Tja, so komplex ist die Moderne. Sarah hat postkoloniales Bewusstsein und möchte den Satz beherzigen: „You have to beat the shit out of yourself to end the condition of slavery.” Kaum möglich, wenn frau ausgestattet ist mit zwei Kindern und einem Mann, der als Redakteur bei Nido die Botschaft verbreitet, „dass die moderne Partnerschaft die Selbstverwirklichung beider Elternteile ermögliche“. Das nervt Sarah, ihr bleibt nichts anderes, als betrunken und säuerlich ihre Faust in Richtung des Verlagsgebäudes zu schütteln, in dem ihr Mann Klugheiten absondert. Sarah will das alles loswerden. Aber man weiß ja: geht nicht, der eigene Kopf ist immer dabei.

Das begreift in der dritten Geschichte der Anthropologe Dieter Ganske, der nach Tanger gereist ist, um Paul Bowles zu besuchen. Selbstverständlich ist er gender-, ethno- usf. sensibel: „Dieter liebte es, Schauplätze ungestört auf sich wirken zu lassen, obwohl es ihm immer auch um die Thematisierung der eigenen Perspektive ging. Das war der Kern seiner anthropologischen Methode: keine Aussage ohne Reflexion der Sprecherposition. Sein zweites Leitmotiv war die Suche nach der Essenz einer Kultur.“ Und mit was für Stimmen plagt sich dieser politisch korrekte Anthropologe herum? Seine Epiphanie erlebte er, als er nach Rumänien reiste. Dort, so ein Gerücht, sei die vermeintlich wahre Folklore nichts anderes als eine Erfindung des Ceausescu-Regimes. Wieder fake. Dieter wird tiefsinnig. Er ist auf der Suche nach (s)einer Stimme: „Ganz unten, ganz hinten erahnte er sie zu jeder Zeit, doch sie war von anderen Stimmen abgelenkt, mit ihnen vermischt, von ihnen überdeckt.“ Nun sitzt er in einem marokkanischen Café und beobachtet Männer, die sich, vom weiblichen Dämon Aisha Quandisha besessen, in Trance getanzt selbst verletzen: „Dieter hatte erlebt, wonach er sich gesehnt hatte. Und nun, da er es gesehen hatte, wusste er nicht mehr, ob es ihm gefiel. Dies war ohne Zweifel ein authentischer Moment gewesen. Es war sogar ein Moment der Erlösung mit im Spiel, jemand hatte vor seinen Augen die innere Stimme bekämpft, und dies vielleicht sogar erfolgreich.“ Bei Bowles muss Dieter feststellen, dass den Authentizität null interessiert, er sei Schriftsteller, mit Dokumenten könne er machen, was er will.

Und wieder belehrt uns Schoon, im Übergang zur vierten Geschichte: „Jedes innere Bild muss der äußeren Realität notwendig widersprechen, umso krasser, je vollständiger es ist.“ Auch das ist nicht neu – dass Menschen aus Phantasien zusammengeleimt sind, die sich an der Realität stoßen. Was aber hat das mit Konrad Bruckner, Professor für Predigtlehre in Bern, zu tun? Vielleicht dies? Zweimal im Jahr predigt er selbst in einer Kirche. Dabei geht es immer um die „Ambivalenz der Freiheit zwischen Demut und bürgerlicher Subjektivierung“, denn: „Das protestantische Subjekt ist auf sich selbst und seine innere Stimme zurückgeworfen.“ Das also fasst Konrad als Problem auf. Und seine Epiphanie? Da muss es schon Cambridge sein, wo ihm auffällt: die dortigen upper class stiff lips laufen arg selbstbewusst herum: „Eigentlich disgusting.“

Damit sind die Stimmen fast am Ende ihres Raunens. Man hat von Problemen erfahren, von denen man nicht weiß, ob es welche sind. Vielleicht sollte man allen Protagonisten Tucholskys Satz „Meine Probleme möchte ich haben“ entgegenflüstern – aber Bücher hören ja nicht zu.

Noch fehlt ein Stimmenhörer. Der Erzähler übernimmt wieder. Ein Anonymus erwacht nachts, bleibt bis 6 Uhr wach, als läge ein Gewitter in der Luft – eine Epiphanie ohne Offenbarung, es bleibt dem Wachenden verborgen, warum er wach ist. Das klärt sich später. Er bekommt einen Anruf, ein Freund habe sich um 6 Uhr das Leben genommen. Wieder wird sinniert. Der Nachtwacher überlegt: „Bis dahin“, also 6 Uhr, müsse dieser Freund „mit einem Stimmengewirr gerungen haben. Dann ist er der falschen Einflüsterung gefolgt.“ Unser Nachtwacher bekommt ein wenig Angst. Hat er magische Fähigkeiten? Auch das klärt sich. Monate danach wiederholt sich seine magische Insomnie, wieder beschleicht ihn ein „unheimliches Gefühl“. Später telefoniert er herum, aber: „Es ist nichts vorgefallen. Überhaupt nichts“. Das könnte sein.

Titelbild

Andi Schoon: Die schwache Stimme. Erzählung.
Textem Verlag, Hamburg 2018.
120 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783864851896

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