Steiniger Weg zum guten Stoff

Um „Knotenpunkte von Textilkunst und Epigraphik“ geht es in einem von Tanja Kohwagner-Nikolai, Bernd Päffgen und Christine Steininger herausgegebenen Tagungsband

Von Alissa TheißRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alissa Theiß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der umfangreiche, Ende 2021 erschienene Band Über Stoff und Stein. Knotenpunkte von Textilkunst und Epigraphik geht zurück auf die 15. internationale Fachtagung für mittelalterliche und frühneuzeitliche Epigraphik vom 12. bis 14. Februar 2020 in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München. Eine Tagung, die, wie es im Vorwort heißt, in der Tradition der Münchner Epigraphik steht und an die im Jahr 1997 abgehaltene Tagung Inschrift und Material anknüpft. Der Tagungsband ist dem damaligen Mitorganisator der Tagung Walter Koch, Professor für historische Grundwissenschaften und begnadeter Epigraphiker, gewidmet.

Die insgesamt 25 Beiträge verteilen sich dabei auf ein einleitendes und fünf thematische Kapitel. Die Beiträge sind auf Deutsch oder Englisch, wobei stets je ein deutsches und ein englisches Abstract vorangestellt sind.

Im Vorwort schreiben die drei Herausgeber, Tanja Kohwagner-Nikolai, Bernd Päffgen und Christine Steininger, der literaturwissenschaftliche Fachdiskurs habe mittlerweile die Dimension textlicher Materialität für sich entdeckt. Etwas, das in der Epigraphik viel geläufiger sei. In der Tat, Inschriften werden mehr und mehr als materielle Objekte eigenen Werts begriffen, wovon der Tagungsband ein beredtes Zeugnis ablegt. Überhaupt wird eine starke Hinwendung zum Objekt, sei es Original oder Replik, deutlich: Parallel zur Tagung fand eine begleitende Sonderausstellung im Diözesanmuseum Freising statt, die im Band mit einem Bericht gewürdigt wird. Während der Tagung demonstrierten außerdem Kunsthandwerkerinnen verschiedene Techniken zur Herstellung textiler Inschriften. Eine von ihnen ist Jessica M. Grimm, die ihre Erfahrungen mit Goldstickereitechniken ebenfalls in einem Beitrag vorstellt. Da die Mitherausgeberin Tanja Kohwagner-Nikolai gleichzeitig ein DFG-Projekt zu Kaisermänteln mit Goldstickereien leitete: Synergieeffekt at its best! Grimms Bemerkung dazu ist es Wert, zitiert zu werden: „In an ideal world, research and experimentation should always go hand-in-hand like this.“

Ein Ziel der Tagung war es, den Fokus erstmals auf textile Inschriften zu legen, eingeteilt in drei Bereiche: 1.) steinerne und andere Denkmäler (etwa Grabplatten) sowie Kunstwerke mit Inschriften, auf denen Textilien dargestellt sind (etwa Epitaphien), 2.) Schrift auf Textilien und 3.) Beschreibungen dieser Objektgattungen in Textzeugnissen. Dabei beschränken sich die Untersuchungen nicht auf die lateinische Schrift. Auch beispielsweise Textilien mit arabischen Inschriften werden in den Blick genommen.

Mit seinen über 380 Seiten können hier nur einige Beiträge des Bandes schlaglichtartig herausgegriffen werden. Lesenswert, so viel sei schon vorweggenommen, sind sie alle. Zunächst jedoch ein kurzer Überblick über den Aufbau des Bandes: Das Kapitel Einleitung umfasst drei Beiträge, darunter den bereits erwähnten Tagungsbericht. Kapitel zwei ist Inschriften auf Textilien aus kirchlichen Zusammenhängen gewidmet. Das dritte Kapitel behandelt textile Inschriften sowie Inschriften auf Textilen (in Form von Graffiti in der Kapelle von Schloss Bruck bei Lienz). Michael Peter erläutert in diesem Kapitel in seinem Beitrag über Samte mit gewebten Inschriften außerdem detailliert die faszinierende Technik des Webens solcher Textilien und den komplizierten Prozess des Webstuhleinrichtens − der im Fall eingewebter Inschriften noch sehr viel komplexer war als normalerweise. Allein die Einrichtung des Webstuhls konnte mehrere Jahre in Anspruch nehmen, was, abgesehen von den an sich schon kostbaren verwendeten Materialien, den hohen Preis der Stoffe erklärt. Samte mit Inschriften stellten dabei die exklusivste Form dar und waren den höchsten gesellschaftlichen Rängen vorbehalten.

Das dritte Kapitel widmet sich epigraphischen Denkmälern als Quelle für Textil- und Kostümkunde. Mirjam Goeth beschäftigt sich mit zwei Grabplatten aus der Pfarrkirche Maria Immaculata in Biburg, die seit mindestens 100 Jahren von der Forschung der Seligen Bertha zugeordnet werden, wobei eine der Platten aber gar keine Frau, sondern einen Mönch zeigt, wie Goeth klar anhand der abgebildeten Kleidung belegen kann. (Anders als im Codex sangallensis 857, wo in der historisierten E-Initiale am Anfang des Nibelungenlieds [S. 291] eine Figur mit Frauenkleidung zu sehen ist, die von der Forschung meist als Abbild des Dichters identifiziert wird.) Weitere Beiträge beschäftigen sich mit unterschiedlichen Trachtendarstellungen in Norddeutschland, Siebenbürgen oder mit städtischen Frauenkopfbedeckungen im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit. Ein weiterer Beitrag untersucht Schmuck- und Kostümdetails auf fürstlichen Porträts Lucas Cranachs des Älteren und vergleicht sie mit archäologischen Funden aus der Fürstengruft der Stadtpfarrkirche Sankt Martin in Lauingen an der Donau. Ramona Baltolu widmet sich dem Gebiet der Kinderkleidung auf Grabmälern und Votivtafeln des 16. und 17. Jahrhunderts, wobei sie Kleidung für Säuglinge bis zum älteren Kind von etwa neun Jahren betrachtet. Kleinkinder, egal ob Junge oder Mädchen, trugen in der Regel lange Hemden, während sich die Kleidung der älteren Jungen aus höheren Schichten kaum von der Kleidung erwachsener Männer unterscheidet.

Das vierte Kapitel ist textilen Inschriften in der Literatur gewidmet, wobei der Begriff Literatur hier weit gefasst ist und auch die Chronistik einschließt. Mit Inschriften auf Textilien in der mittelhochdeutschen Literatur und ihrer Funktion für die Dichtung befasst sich der Beitrag von Almut Schneider, der zugleich eine detaillierte Interpretation zu bedeutenden Textilien in Konrads von Würzburg Engelhard liefert. Andreas Dietmann nimmt Gewandsauminschriften in der mittelalterlichen Kunst in den Blick. Sein Beitrag basiert nicht auf einem Vortrag der Tagung, sondern ist Resultat des dort Gehörten und Diskutierten und bildet im Grunde eine Synthese aus den auf der Tagung behandelten Themen samt Forschungsabriss.

Im fünften und letzten Kapitel geht es schließlich um Inschriften auf Bildteppichen, in der Hauptsache des 15. und 16. Jahrhunderts. Besonders spannend ist hier die paläographische Untersuchung von Martin Wagendorfer, der zwei Inschriften des frühen 16. Jahrhunderts auf unterschiedlichen Materialien, nämlich auf Stoff und auf Stein, betrachtet, die auf den gleichen Urheber, Johannes Fuchsmagen, zurückgehen. Wagendorfer legt dar, dass die Wahl einer bestimmten Schriftart wohl ganz bewusst geschah, um beispielsweise historische Personen oder Ereignisse zu verdeutlichen. Den Abschluss bildet der Beitrag von Sebastian Karnatz und Tanja Kohwagner-Nikolai, der mit Gemälde- und Tapisserienzyklen aus der Münchner Residenz, die im Auftrag Herzogs Maximilians I. entstanden, ins 17. Jahrhundert führt.

Exemplarisch seien hier einige der 25 Beiträge herausgegriffen und detaillierter besprochen: In ihrem einleitenden Beitrag Über Stoff − Liturgische Gewänder und ihre Inschriften gibt die Mitherausgeberin Tanja Kohwagner-Nikolai zunächst einen Überblick über die erhaltenen liturgischen Gewänder des Mittelalters mit Erläuterungen zu ihrer historischen Entwicklung, ihrem Gebrauch und natürlich ihren Inschriften. Der Beitrag fasst alles Grundlegende zu den einzelnen liturgischen Kleidungsstücken zusammen und ersetzt damit das bisher unumgängliche mühsame Wälzen verschiedener Lexika. Er sei jedem ans Herz gelegt, der sich schnell einen fundierten Überblick über dieses Themenfeld verschaffen möchte.

Im ersten Beitrag des zweiten Kapitels nimmt María Encarnación Martín López mittelalterliche Stoffe und Kleidungsstücke Spaniens vom 10. bis 13. Jahrhundert in den Blick, die Inschriften aufweisen (ohne dabei zwischen gewebten und gestickten Inschriften zu unterscheiden), wobei sich die Autorin auf lateinische Schrift konzentriert und das große Gebiet der kalligraphischen arabischen Inschriften (Kufi) ausklammert. Sie führt aus, dass Textilien Träger ikonographischer Programme waren, wobei die begleitenden Inschriften selbst Teil dieser Programme sind und das Dargestellte erläutern.

Besonders spannend sind hier Beispiele des 12. Jahrhunderts mit Me-fecit-Inschriften, die eine weibliche Autorschaft der Stücke belegen: Das sind zunächst das Banner des Bischofs Ot (Odo) von Urgell (Museu Tèxtil i d’Indumentària, Barcelona) sowie die Stola des heiligen Narcissus von Girona (Iglesia de Sant Feliu [Kirche des heiligen Felix], Girona). Während die Autorin letztere ins 12. Jahrhundert datiert und die Inschrift MARIA ME FECIT − Laila Monge Siméon folgend − mit einer Nonne namens Maria aus dem Kloster des heiligen Daniel in Girona in Verbindung bringt, wird die Stola im Katalog der virtuellen Ausstellung Tesoros Hispánicos de la Liturgia Medieval der Universidad Complutense in Madrid aus dem Jahr 2020 in das 10./11. Jahrhundert datiert und ihre Schöpferin beziehungsweise Donatorin (denn me fecit lässt beides zu) mit der Äbtissin Maria aus dem Kloster Sant Pere de les Puelles in Girona identifiziert (https://www.ucm.es/tesoros/estola).

In der Fußnote 13, die in Martín López’ Beitrag die lateinische Inschrift wiedergibt, ist leider die Inventarnummer der im Folgenden dargestellten Stola Eleonores von Kastilien (Plantagenet) (Museo de la Real Colegiata de San Isidoro, León) hineingerutscht. Die Stola Eleonores bespricht die Autorin ausführlicher, wobei sie den Kunsthistoriker Fernando Galván Freile zitiert und ihm bei seiner Einschätzung, die Inschrift der Stola (ALIENOR […] ME FECIT) weise Eleonore als Schenkerin an das Kloster aus, widerspricht. Martín López führt hier an, dass es sich ihrer Meinung nach vielmehr um ein Geschenk einer Königin an eine andere, nämlich von Eleonore an ihre Tochter Berenguela, handelt, die die Stola dann selbst an das Kloster gegeben haben könnte.

Ohne hier weiter ins Detail gehen zu können, sei an dieser Stelle auf die Arbeiten von Jitske Jasperse, insbesondere auf Medieval Women, Material Culture, and Power. Matilda Plantagenet and her Sisters, sowie auf den von Therese Martin herausgegebenen Band The Medieval Iberian Treasury in the Context of Cultural Interchange verwiesen, die beide 2020 als Open Access erschienen sind. Das war möglicherweise zu spät, um noch von Martín López berücksichtigt werden zu können. Der sich explizit mit gestickten Inschriften von adligen Frauen befassende Aufsatz Having her hand in it? Elite women as makers of textile art in the Middle Ages von Alexandra Gajewski und Stefanie Seeberg im 42. Journal of Medieval History aus dem Jahr 2016 fehlt leider ebenfalls im Literaturverzeichnis.

Um reale Stoffe geht es auch im Beitrag von Beata Biedrońska-Słota. Die Autorin widmet sich ganz den arabischen Inschriften, und zwar auf Textilien, die sich in polnischen Museen und Sammlungen finden. Etwas irritierend ist die im Text dreimal unterschiedlich wiedergegebene Schreibweise der Ilkhaniden, die sich vermutlich auf das Jonglieren mit polnischen, deutschen und englischen Texten zurückführen lässt. An dieser Stelle sei erwähnt, dass ganz zu Beginn des Bandes eine Art Disclaimer abgedruckt ist, der darauf hinweist, dass der Band unter schwierigen Bedingungen während der Covid-19-Pandemie entstanden ist. Es ist also generell Nachsicht geboten.

Biedrońska-Słota stellt in ihrem Beitrag wirklich herausragende Stücke vor, unter anderem fünf liturgische Gewänder des 13. und 14. Jahrhunderts aus der Marienkirche in Danzig sowie ein türkisches Zelt vom Anfang des 17. Jahrhunderts aus dem Nationalmuseum in Krakau. Das fragmentarisch erhaltene Zelt besteht aus einem reich verzierten Stoff, wobei die Inschriften, die in blumiger Sprache die heroischen Taten des Herrschers preisen, wohl in Bezug zu den floralen Ornamenten stehen. Interessanterweise handelt es sich bei den Inschriften hier nicht um Koran-Zitate, sondern um Texte aus der persischen Dichtung. Von besonders herausragender Schönheit muss ursprünglich die goldschimmernde Zeltdecke gewesen sein, die mit blauen Tulpen- und Nelkenblüten-Ornamenten dekoriert ist, wohl die metaphorischen persischen Zeilen visualisiert und an Zeltbeschreibungen aus der mittelalterlichen Literatur denken lässt.

Zur Herkunft der Stoffe führt die Autorin, ohne näher darauf einzugehen, unterschiedliche Theorien aus der älteren Forschung an: Zentralasien, Südwestasien, Iran sowie nicht näher definierte „Saracen workshops“. Hier ist als Ergänzung ein Blick in Isabelle Dolezaleks 2017 erschiene Monografie Arabic Script on Christian Kings. Textile Inscriptions on Royal Garments from Norman Sicily zu empfehlen, die sich sehr detailliert und kenntnisreich mit der Provenienz von Stoffen mit arabischen Inschriften auseinandergesetzt hat.

Im Vorwort formulieren die Herausgeber die Hoffnung, mit dem Band neue Forschungsansätze für Textilforschung, Epigraphik und verwandte Disziplinen geliefert haben zu können. Das ist ihnen mustergültig gelungen. Das Who’s who der Textil- und Inschriften-Forscherinnen und -Forscher ist hier ebenso vertreten wie das Who’s who der zu diesem Thema wichtigsten (Objekt-)Quellen. Der Band zeigt, was interdisziplinäre Forschung leistet: mehr Breite, mehr Tiefe, mehr Dimension.

Mit 89 Euro bewegt sich der Band im höheren Preissegment, was sicher auch auf die reiche Illustration zurückzuführen ist (insgesamt 274 meist farbige Abbildungen). Wäre für die Fotos Glanzpapier verwendet worden, läge der Preis wohl noch deutlich höher. Der Qualität der Abbildungen tut das im Übrigen kaum einen Abbruch.

Zu guter Letzt sei noch auf die jedem Kapitel vorangestellten Karikaturen von Harald Drös hingewiesen, die während der Tagung entstanden sind. Sie belegen, ebenso wie die Momentaufnahmen aus dem Tagungsbericht, dass die Teilnehmenden offensichtlich viel Spaß auf der Tagung hatten. Gemeinsam diskutieren und zu neuen Erkenntnissen gelangen lässt sich doch am besten in Präsenz!

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Tanja Kohwagner-Nikolai / Bernd Päffgen / Christine Steininger (Hg.): Über Stoff und Stein. Knotenpunkte von Textilkunst und Epigraphik. Beiträge zur 15. Fachtagung für mittelalterliche und frühneuzeitliche Epigraphik in München 2020.
Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2021.
XII, 384 Seiten, 89,00 EUR.
ISBN-13: 9783447116978

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