Das Frauenproblem geht alle an

Hildegard E. Keller gibt die gesammelten Werke der argentinischen Schriftstellerin Alfonsina Storni heraus

Von Werner JungRSS-Newsfeed neuer Artikel von Werner Jung

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Alfonsina Storni ist deutschen Leser*innen weitgehend unbekannt. Dabei ist sie zu Lebzeiten in ihrer „zweiten Heimat“ Argentinien mit acht Lyrikbänden, die zwischen 1916 und 1938 – davon in rascher Folge zwischen 1916 und 1920 die ersten vier – erscheinen, und weiteren Büchern mit Theaterstücken, vor allem aber als Kolumnistin verschiedener Zeitschriften eine anerkannte und bewunderte Schriftstellerin gewesen.

1892 im Tessin geboren, wandert die Familie 1896 nach Argentinien aus, gelebt wird von den Einnahmen der als Hauslehrerin beschäftigten Mutter. Nach dem Studium am Lehrerseminar in Coronda 1909 arbeitet Storni ab 1911 in einer Primarschule von Rosario. Parallel dazu entstehen erste literarische und feuilletonistische Texte, die gehäuft zwischen 1919 und 1921, zunächst in der Wochenschrift La Nota, dann auch in Argentiniens größter Tageszeitung La Nación publiziert werden. Anfang der 20er Jahre engagiert sich Storni als Dozentin für Kindertheater wie auch für „Literatur und Deklamation“ an der Escuela Normal de Lenguas Vivas. Nachdem sich ihre engen Schriftstellerfreunde Horacio Quiroga 1937, dessen Tochter Eglé im Februar 1938 und Leopoldo Lugones, ebenfalls im Februar, das Leben genommen haben, reist Storni, wie die Herausgeberin dieser Ausgabe, Hildegard E. Keller, bemerkt, am 18. Oktober nach Mar del Plata, „schreibt ihr letztes Gedicht ‚Ich gehe schlafen‘ und schickt es an die Redaktion von ‚La Nación‘. Am frühen Morgen des 25. Oktober stürzt sie sich von einer Mole ins Meer. Beerdigung im Familiengrab einer befreundeten Familie.“

Die schweizerische Autorin und Literaturwissenschaftlerin Hildegard E. Keller führt dem deutschsprachigen Lesepublikum in einer liebevoll und aufwändig gestalteten vierbändigen Edition eine Auswahl aus dem Werk einer argentinischen Autorin vor, die man durchaus als Pendant zu jenem Phänomen bezeichnen kann, das in Europa und vornehmlich Deutschland als ‚Neue Frau‘ in den 20er Jahren für Furore gesorgt hat. Denn im Mittelpunkt vor allem der Prosatexte – Kurzprosa, Glossen, Skizzen, Beobachtungen und Reflexionen, die in Kellers Ausgabe die beiden Bände Chicas. Kleines für die Frau (Bd. 1) und Cuca. Geschichten (Bd. 2) bilden – steht der Aspekt der Emanzipation der Frau. Wobei Storni immer wieder betont, dass es „eigentlich kein ‚Frauenproblem‘ [gibt], sondern eines, das alle Menschen angeht. Auch ist es keine Novität unserer Zeit, sondern war immer schon da, bald still, bald krisenhaft.“ („Ein Frauenproblem?“, 1920, in: Chicas)

Es handle sich vielmehr um ein soziales Problem, ja, um eine „übergreifende Herausforderung des sozialen Wandels“, dass nämlich – und völlig zu Recht – klassische Rollenvorstellungen und vermeintlich angestammte patriarchalische Verhältnisse ins Wanken geraten seien. Freilich nimmt sie dabei so etwas wie den „parfümierten Feminismus“ von ihrer Kritik nicht aus: „Genau betrachtet ist er nichts anderes als eine schlecht kaschierte Verbindung althergebrachter weiblicher List mit intellektuellen Versatzstücken, der böse Flecken auf einer Angelegenheit hinterlässt, die zu ihrer Durchsetzung der Integrität und Nüchternheit bedarf.“

Verstreut im Werk finden sich immer wieder auch Selbstreflexionen, die sich paaren mit Überlegungen zum Phänomen der ‚schreibenden Frau‘. In dem bemerkenswerten Essay Die Frau als Romanautorin (1921) schreibt Storni, dass es in der Kunst wie den Wissenschaften um des Menschen „Kampf mit sich selbst“ gehe. Wer dies ablehne, könne ihrer Meinung nach nie zum Autor eines gewichtigen Romans werden: „Das ist der Grund, warum Romanautorinnen normalerweise farblose oder falsche Werke schreiben, aus einem verkürzten und armseligen Romantizismus heraus. Tiefe des Verstehens setzt immer auch die Tiefe des Erlebens voraus.“ (Cuca)

Ihr abschließendes Resümee lautet, dass den großen Frauenroman eine Frau nur dann werde schreiben können, „wenn sie von der eigenen Person absieht – konkret: von der Frau, die in der Schriftstellerin lebt.“ Frauenliteratur ist eben, wenn sie gut ist, keine Frauenliteratur, sondern – ohne alle Binde- und Abstriche – einfach nur gute Literatur.

Hildegard E. Keller hat eine schöne Auswahlausgabe der Stornischen Texte vorgelegt, die in Vor- und Nachworten auf eine hierzulande noch zu entdeckende Autorin aufmerksam macht. Stornis Texte liegen nun erstmals in deutscher Übersetzung vor, wobei Keller nicht bloß auf eine zweibändige argentinische Werkausgabe von 1999/2002 zurückgreift, sondern durchaus eigene „Neufunde“ in Zeitschriften gemacht hat. Anmerkungen zur Textüberlieferung und kleinere Verständnishinweise runden diese vorzügliche Edition ab.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Alfonsina Storni: Cimbelina. Theaterstücke.
Hg. und übersetzt von Hildegard E. Keller.
Edition Maulhelden - Bloomlight Productions GmbH, Zürich 2021.
272 Seiten, 28 EUR.
ISBN-13: 9783907248089

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Titelbild

Alfonsina Storni: Cardo. Interviews & Briefe.
Hg. und übersetzt von Hildegard E. Keller.
Edition Maulhelden - Bloomlight Productions GmbH, Zürich 2021.
304 Seiten, 29 EUR.
ISBN-13: 9783907248072

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Titelbild

Alfonsina Storni: Cuca. Geschichten.
Hg. und übersetzt von Hildegard E. Keller.
Edition Maulhelden - Bloomlight Productions GmbH, Zürich 2020.
264 Seiten, 28 EUR.
ISBN-13: 9783907248041

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Titelbild

Alfonsina Storni: Chicas. Kleines für die Frau.
Hg. und übersetzt von Hildegard E. Keller.
Edition Maulhelden - Bloomlight Productions GmbH, Zürich 2020.
264 Seiten, 28 EUR.
ISBN-13: 9783907248034

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