Im Maschinenraum der Vorstellungskraft

Der materialreiche Katalog zur Marbacher Ausstellung „Die Erfindung von Paris“ versucht, die Idee des intellektuellen Paris (als Projektionsfläche) nachzuzeichnen

Von Simon ScharfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simon Scharf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Versuch, europäische Kultur- und Geistesgeschichte ikonografisch festzuhalten, hätte wohl zwangsläufig den Rekurs auf Venedig und Paris zur Folge. Während beide Städte gegenwärtig nur noch schwach belichtet sind, leuchtet die französische Vergangenheit, wie die Marbacher Ausstellung „Die Erfindung von Paris“ perspektivenreich illustriert, umso heller. Die physische Dokumentation derselben bietet kongenial und überaus präzise einen zeitgeschichtlichen Einblick, der nicht zuletzt das Widersprüchliche, Abseitige und Fragmentarische der Thematik umreißt.

Auch wenn eine solch dialogische Geschichte von Metropole und literarisch-philosophischer Kultur einen deutlich weiteren Horizont bis ins 17. und 18. Jahrhundert besitzt, setzen Ausstellung und Text den Fokus auf Paris als „Ikonographie der Moderne“ (Wolfgang Matz) im ausgehenden 19. und langen 20. Jahrhundert: Paris erscheint dabei gerade in der Zwischenkriegszeit als ein radikal ambivalenter Ort. Das Unstete und Flüchtige des wirtschaftlichen Fortschritts zeichnet das Bild einer im Umbruch begriffenen (Massen-)Metropole zwischen Kriegsverheerungen und Blütezeit. Die Zuspitzung der wesentlichen Konflikte des Jahrhunderts auf das deutsch-französische Verhältnis bewirkt zudem, dass die paradoxe Sogwirkung der französischen Hauptstadt gerade im Rahmen der deutschen Geisteselite auf fruchtbaren Boden fällt. Folgerichtig wird Paris aus der Perspektive deutscher Literaten zum konstruktiven Imaginarium, zur Baustelle und Projektionsfläche im Spannungsfeld von Krise und Krisenbewältigung. Sein Umriss als schillernder Ort intellektueller Beweglichkeit und Bedeutungsvielfalt spiegelt dabei die biografischen Brüche der Überforderung und Verlassenheit eines Rainer Maria Rilke, dessen kurzer Parisaufenthalt am Anfang des Jahrhunderts in literarisierter Form in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge gebrochen zur Geltung kommt. Im Gegensatz dazu wird die Stadt für Kurt Tucholsky ab Mitte der 1920er Jahre zum magischen Ort des Neubeginns und der Zuflucht vor deutscher Eindimensionalität und Enge, aber auch vor den Anflügen eigener Depressionen. Als letztes Idyll von Kunst und Kultur – auch in Anbetracht eines zunehmend entkoppelten Kapitalismus, der in alle Lebensbereiche greift – zeigt sich hier symptomatisch, wie die Metropole zum Hintergrund fruchtbarer Kreise von Intellektuellen wird, angezogen von französischen Vorbildern und mit bedeutender Strahlkraft für entsprechende Formen in Deutschland.

Das Ineinandergreifen von persönlichen und gesellschaftspolitischen Erfahrungen des Wandels und der Brüche wird gerade künstlerisch folgenreich aufgegriffen: Die grundstürzenden Veränderungen der Moderne führen die Literatur der Zeit – angelehnt an die Bewegungen des Fußgängers in der Stadt – zu Darstellungsformen des Fragmentarischen und Unvollendeten: Die für das Leben in der Metropole charakteristisch gewordene Figur des Flaneurs, der sich stolpernd seinen Weg bahnt, sich zwischen ziellosen Beobachtungen und emsigen Dokumentationen durch den Raum navigiert und dabei das Sicht- und Vorstellbare sowie die eigene Erinnerung in Einklang zu bringen sucht, wird vorbildhaft für einen spezifischen literarischen Stil: Walter Benjamins unvollendetes Passagenwerk, die kurzen und punktuellen Notate und Montagen Siegfried Kracauers sowie Ernst Jüngers Pariser Tagebuch stehen exemplarisch für eine großstädtische Wahrnehmungskrise, bei der Darstellbarkeit und Erzählbarkeit des Visuellen nicht mehr garantiert werden können. Eng damit verknüpft ist notwendigerweise auch das fotografische Sehen: Die französische Hauptstadt entwickelt sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Zentrum der Fotografie. Die Rasanz gesellschaftspolitischer Veränderungen verschärft die Sehnsucht nach speicher- und fixierbaren Orientierungspunkten der Gegenwart. Parallel zu Lyrik und Poesie als Verdichtungen von Gegenwart wird das Foto zum Sinnbild und elementaren Medium des Bewahrens von Erinnerung – zwischen Einstellungen des Alltags und bildlichen Metaphern oder Sinnbildern für größere Zusammenhänge. Der ungeheure, auch architektonisch motivierte Reiz der Hauptstadt in ihren Verästelungen und signifikanten Orten lässt die Zahl der Fotografen exponentiell steigen; die eigentliche Absicht der Schaffung einzigartiger Motive wird durch die schiere Unzahl fotografischer Dokumente im 20. Jahrhundert konterkariert – bis ins heutige Zeitalter des Massentourismus ist der perfekte Augenblick rar, das endlose wiederkehrende Motiv dagegen zur Normalität geworden.

Mit Kriegsbeginn und deutscher Okkupation in den beginnenden 1940er Jahren neigt sich die intellektuelle Blütezeit der französischen Metropole in ihrer Wirkungsmacht für die deutschen Schriftsteller ihrem Ende zu. Lediglich als Abglanz dieser Epoche erlangt Paris als Fixpunkt der Postmoderne in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einige Bedeutsamkeit: Von Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir initiiert, prägen die Theorie-Experimente linker Denkerfiguren von Michel Foucault und Roland Barthes bis Jaques Derrida und Gilles Deleuze einen fast mythische Züge tragenden Stil, der reihenweise Studenten aus Deutschland an die Institutionen der Sorbonne und des Collège de France bringt. Gegen Denktraditionen opponierend knüpft Theorie als Lebensformin unmittelbarer Weise an die Lebensnormalität an und erzeugt eine enorm gesteigerte öffentliche Wirksamkeit der Intellektuellen, die weit in die Gesellschaft hinein wirken und zudem international für Aufsehen sorgen.

Der Marbacher Ausstellungskatalog überführt die Vielstimmigkeit dieser Geschichte mustergültig in eine entsprechende Form: Thematische Überblicksdarstellungen zu Literatur und Fotografie im Paris der Moderne und Postmoderne werden dabei von poetischem Text (Ulrike Draesner) und Interview (mit Georges Arthur Goldschmidt) flankiert. Dieses kaleidoskopische Formprinzip wird fortlaufend auch über die „Gangarten“ aufrechterhalten: Der Text koppelt die kurzen Darstellungen zu den relevanten intellektuellen Akteuren der Zeit an jeweils einen spezifischen Modus des Flanierens und rekurriert auf die Beschreibungen der Ausstellungsstücke in Text und Bild. Die erlebte Aneignung der Stadt wird damit performativ als Aneignung des Textes sichtbar. Abschließend richtet der Katalog seinen Fokus auf die zentralen Persönlichkeiten der Fotografiegeschichte der Zeit und bindet auch dies zurück an das Sichtfeld des Flaneurs. So entsteht ein sorgsam komponiertes und nie ausfransendes oder willkürliches Textgeflecht, das der Komplexität der Materie in beeindruckender Weise gerecht wird und einen faszinierenden und ambivalenten Blick auf das intellektuelle Paris der Moderne ermöglicht.

Titelbild

Susanna Brogi / Ellen Strittmatter (Hg.): Die Erfindung von Paris.
Deutsche Schillergesellschaft, Marbach am Neckar 2018.
349 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783944469386

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