Nahaufnahmen aus dem Mittleren Westen

Elizabeth Strout beschreibt in „Alles ist möglich“ Leidenschaften, Sehnsüchte und bittere Erfahrungen

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ganz alltägliche Lebens- und Liebesgeschichten aus einer amerikanischen Kleinstadt erzählt Elizabeth Strout auf eine zuweilen außeralltäglich anmutende Art. Erschöpft und wie ausgetrocknet wirken manche Gestalten, die mit Teilhabe und Sympathie anschaulich, aber nicht distanzlos porträtiert werden. Strout beschreibt anhand episodisch auftretender Figuren Gefühle und Gemütszustände. Manche ihrer Gestalten sprechen sehr viel, sagen aber nicht, was sie bewegt. Sie reden kraftvoll, mitunter derb. Trotzdem erwecken einige Charaktere bisweilen den Eindruck, als ob ihre Präsenz, ihr Geltungsbewusstsein wie auch ihr Werben um Aufmerksamkeit nur der Angst geschuldet sind, endgültig übersehen zu werden. Betteln sie um Verständnis? Oder haben sie sich, autoritär auftretend, längst aufgegeben?

Ein zynischer Misanthrop ist Dr. Richard Small, negativ bis ins Mark. Er und seine Frau Shelly, von der Ostküste stammend, besuchen den Mittleren Westen. Small ist ein arroganter und narzisstischer Kriegsveteran, der sich oft beschwert und den eigenen Groll zu genießen scheint. Aber Dottie, die Vermieterin, bleibt gelassen. Dr. Small, der Arzt, legt auf seinen akademischen Titel größten Wert. Er möchte noch immer ausnehmend wichtig sein, aber er war es schon lange nicht mehr. Dottie, geschäftstüchtig, eine stattliche Erscheinung, hört ihnen zu und lauscht auch an der Zimmertür. Sie hört, wie sich Small und seine Frau über sie amüsieren, „als ob sie ein Clown wäre, der in einer Zirkusarena über seine zu großen Schuhe stolpert“. Auf das kalte Gelächter folgt das Liebesspiel, ein Akt, in dem sich Shelly als „sinnliche Frau inszenierte“, ein Schauspiel erkalteter Zweisamkeit: „Nur hatte das, was Dottie hörte, nichts mit Liebe zu tun – die Grunzer, die der Mann ausstieß, erinnerte sie eher daran, dass es Frauen gab, für die alle Männer Schweine waren. Dottie hatte Männer nie als Schweine gesehen, aber dieser Mann lieferte eine sehr glaubwürdige Nachahmung; es war ekelhaft und dabei auf schaurige Weise faszinierend. (…) Shelly verschwand gleich hinterher unter die Dusche, was nach Dotties Meinung nur eine Frau tat, die an ihrem Mann keine Freude hatte.“ Dr. Small wird wieder abreisen, und seine Frau wird ihn begleiten.

In der Stadt lebt Tommy, fest davon überzeugt, dass sich Gott ihm offenbart hat, als seine Farm niedergebrannt war. Er hörte das „furchtbare Brüllen“ der sterbenden Kühe im Stall. Das Haus stürzte ein, und er deutete, wie in Trance, das Widerfahrnis als Form der Begegnung. Ihm war, als hörte er:

Es ist gut, Tommy. (…) Seither hatte er zwar vereinzelt Gottes Gegenwart gespürt, eine Empfindung, als wäre ihm ein goldenes Leuchten sehr nahe, aber nie wieder empfing er eine Botschaft von Gott wie in dieser Nacht, und er wusste nur zu gut, was die Leute dazu sagen würden, weshalb es auch bis an sein Lebensende ein Geheimnis bleiben musste – sein Zeichen von Gott.

Trotzdem berichtet er dann dem traurigen Pete unter vier Augen von der Gotteserfahrung. Doch der Wink des Himmels stellte sich als Brandstiftung heraus. Pete weiß nämlich, dass sein Vater, ein traumatisierter Kriegsveteran, zornig über Tommy, die Farm angezündet hat. Nun berichtet Tommy seiner Frau von der Erfahrung mit Gott, erzählt aber nichts von Petes Version. Ob alles möglich ist? Shirley meint: „Warum soll es das denn nicht geben? Warum sollte es nicht genau so gewesen sein, wie du es in der Nacht damals empfunden hast?“ Shirley sagt das aus Liebe. Aber Pete verschweigt Tommy weiterhin die „jähe Gewissheit, dass ihm Gott niemals erschienen war“.

Die Frage nach Gott kehrt in Charlies Geschichte wieder. Er erinnert sich an zwei junge Geistliche, unter anderem einen Kaplan im Vietnamkrieg, der eine „Seele von einem Menschen gewesen“ sei. Er habe schlicht und glaubwürdig von Gott sprechen können. Der Priester starb in der Schlacht von Khe Sanh. Sein Nachfolger habe dann einen „blöden, salbungsvollen Ton“ angeschlagen, „als würde er Jesus-Pillen ausgeben, an die außer ihm niemand herankam“. Charlie besucht Selbsthilfegruppen, keine Gottesdienste. Er trifft junge, noch „völlig verpickelte“ Kriegsveteranen, die versehrt aus dem Irak heimgekehrt sind. Sie litten an Schlafstörungen und Alkoholproblemen:

Er hatte Jungen in ihrem Alter befehligt, und ihr Anblick machte ihn ganz krank. Das entsetzte ihn, dieser Abscheu, den er vor ihnen empfand. Mit ihnen dazusitzen machte all das, was ihn ohnehin schier umbrachte, noch schlimmer, denn er sah doch – exakt, wie er befürchtet hatte –, dass der Typ, der die Gruppe leitete, auch keine Lösung wusste. Kein Wunder, es gab ja keine. Darüber reden. Klar. Zigarettenpause, dann noch mehr Drüber-Reden. Beim dritten Mal ging er in der Zigarettenpause einfach, und danach schlug die Angst erst richtig zu.

Auswege gibt es nicht, aber das Leben geht weiter, irgendwie. Die Ängste nisten sich ein und bleiben. Von anderen traumatischen Erfahrungen berichtet Sebastian. Von seinem Stiefvater wurde er unzählige Male missbraucht. Sebastian liebt Patty, aber er hält ihre Nähe nicht aus. Sie nimmt ihn an, so wie er ist: „In ihrer Hochzeitsnacht hielten sie sich bei den Händen, aber weiter gingen sie nie.“ Eingebettet in das Gewebe der Porträts und Geschichten, die romanhaft aneinander gefügt sind, ist Lucy Barton, eine Gestalt aus einem früheren Roman Strouts. Von ihr wird erzählt, ohne dass sie auftritt. Die Schriftstellerin stamme aus der Kleinstadt und ging nach New York. Dort beschreibe sie Menschen, die nach Wegen suchten, „um auf andere herabblicken zu können“ – Menschen, die werten, entwerten und richten möchten, weil sie sich für überlegen und klug hielten. Elizabeth Strout ist ganz anders als Lucy Barton. Sie beobachtet, schaut nie herab, sondern schreibt gefühlvoll, zuweilen elegisch. Ihr Roman zeigt das weite Land der menschlichen Leidenschaften, der Ernüchterungen und Ängste, der Zwänge und Traumata, aber weil alles möglich ist oder sein könnte erzählt sie zugleich von der bleibenden Sehnsucht nach liebevollen Begegnungen, von der Hoffnung auf Mitgefühl, Freundlichkeit und Güte.

Titelbild

Elizabeth Strout: Alles ist möglich. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Sabine Roth.
Luchterhand Literaturverlag, München 2018.
252 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783630875286

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