Symbolfigur der Freiheit und Gerechtigkeit
Zum 100. Todestag von Rosa Luxemburg sind neue Bücher über die Revolutionärin erschienen
Von Dieter Kaltwasser
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSie war und ist eine der berühmtesten europäischen Revolutionärinnen und eine bedeutende marxistische Theoretikerin. Sie habe „jahrzehntelang auf eine revolutionäre Situation in Deutschland hingearbeitet“, schreibt Ernst Piper in seiner neuen Rosa Luxemburg-Biografie. Nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs gründete sie die „Gruppe Internationale“, aus dieser entstand der Spartakusbund. Zentrale Forderungen ihres Programms waren die Errichtung einer Räterepublik und die Entmachtung des Militärs. Die Novemberrevolution von 1918 habe sie aber als eine Situation beschrieben, so Piper, „bei der es nichts zu gewinnen gab.“ Liebknecht und Luxemburg hielten den Augenblick eines „revolutionären Umsturzes“ nicht für gekommen. Eine auf das „Proletariat gestützte Regierung“ hätte „nicht länger als 14 Tage zu leben“, Luxemburg monierte „die Unreife der deutschen Revolution“.
Der renommierte Historiker und Sozialdemokrat Heinrich August Winkler urteilte in seinem Werk Weimar 1918 – 33. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, dass Rosa Luxemburg angesichts des Abenteurertums in ihrer Partei kapituliert habe und dass „die ermordeten kommunistischen Führer in hohem Maße die Verantwortung für das Blut, das in den Januarkämpfen (1919) vergossen wurde“, trügen. Die Historikerin Christina Morina schreibt in ihrer zum Marx-Jubiläum erschienenen Gruppenbiographie Die Erfindung des Marxismus, durch ihren gewaltsamen Tod habe sich das Bild der Revolutionärin im Rückblick verklärt.
Der Politikwissenschaftler und bekannte Extremismusforscher Eckhard Jesse ist der Ansicht, aufgrund Luxemburgs Kritik an Lenin und ihres Freiheitsverständnisses sei sie für viele Linke eine Art Lichtgestalt und Vertreterin eines demokratischen Sozialismus. Doch dies seien reine Illusionen. „Wäre sie nicht […] ermordet worden, hätte wohl kaum jene geradezu panegyrische Verehrung eingesetzt.“ Ihr Extremismus sei nicht mit den Maximen des demokratischen Verfassungsstaates vereinbar – die Novemberrevolution solle nicht als „verpasste Chance“ betrachtet werden, sondern als eine „abgewendete Katastrophe“.
Doch werden diese Bewertungen und Einschätzungen den Ereignissen und der Politikerin und Theoretikerin Rosa Luxemburg gerecht? Die reflexhafte Abwehrhaltung ihr gegenüber hat in Deutschland Tradition. Am 2. Juni 1947 schrieb Bertolt Brecht in sein Arbeitsjournal: „Im Berliner Rundfunk soll in meiner ,Grabinschrift für Rosa‘ die Zeile ,eine Jüdin aus Polen‘ kritisiert worden sein – wahrscheinlich, um die ,Empfindlichkeit weiter Kreise in diesem Punkt‘ zu schonen“.
Der Doppelmord am Abend des 15. Januar 1919 durch rechtsextremistische Soldaten in Berlin hat in der deutschen Geschichte Folgen ausgelöst, im Guten wie im Schlechten. Die Verantwortlichen für die Verbrechen blieben weitgehend unbehelligt. Noch im Jahr 1962 konnte der Drahtzieher, Hauptmann Waldemar Pabst, voller Stolz in einem Spiegel-Interview erklären, dass er die beiden Kommunistenführer habe „richten lassen“. Der Mörder von Rosa Luxemburg war Hermann Wilhelm Souchon, ein Neffe des Admirals Wilhelm Souchon. Er kehrte 1935 unbehelligt nach Deutschland zurück, die Gräber von Liebknecht und Luxemburg wurden in der NS-Zeit eingeebnet, Souchon trat in die Luftwaffe ein und stieg im Zweiten Weltkrieg zum Oberst auf. Nach dem Krieg lebte er ab 1952 in Bad Godesberg und starb dort 1982.
Noch 1962 wurde in einem bundesamtlichen Bulletin der Doppelmord als „standrechtliche Erschießung“ erklärt und die Deutung von Waldemar Pabst akzeptiert. Klaus Gietinger hat in seinem Buch Eine Leiche im Landwehrkanal. Die Ermordung der Rosa Luxemburg, das seit seinem Erscheinen im Jahre 1993 einiges bewegte und 2018 mit einem neuen Vorwort neu aufgelegt wurde, erklärt: „Beide waren mythische Figuren der deutschen Arbeiterbewegung, Revolutionäre und Kriegsgegner, deswegen mussten sie sterben. Der Mord an ihnen war der erste Spatenstich zur Beerdigung Weimars. Ihr Tod vertiefte die Spaltung der Arbeiterbewegung, machte aus Kommunisten Stalinisten und aus Sozialdemokraten Pyrrhussieger.“
Der Sozialdemokrat und Reichswehrminister Noske wusste und duldete, was mit den Spartakistenführern am Abend des 15. Januar 1919 auf Geheiß von Waldemar Pabst passierte: Rechtsextreme Milizionäre stürmten ihr Wilmersdorfer Versteck und brachten die beiden ins Hotel Eden am Tiergarten, damals das Hauptquartier der Garde-Kavellerie-Schützen-Division unter dem Kommando Waldemar Pabsts. Es folgten Verhöre und Misshandlungen. Um 22:45 Uhr transportierte man den bewusstlos geschlagenen Liebknecht in den Tiergarten, wo er mit drei Schüssen ermordet wurde.
Über die Ermordung der Revolutionärin durch Angehörige der Garde-Kavallerie-Schützen-Division heißt es bei Gietinger: Sie wurde im und vor dem Hotel Eden blutig zusammengeschlagen und gewaltsam in ein Auto gezogen. „Der Wagen fuhr Richtung Cornelius-Brücke. Auf der Höhe der Nürnberger Straße, circa 40 Meter vom Haupteingang des Hotels entfernt, fiel ein Schuss, der links vor dem Ohr eintrat und auf der gegenüberliegenden Seite etwas tiefer austrat, aus kurzer Distanz abgefeuert wurde und zur ,Sprengung der Schädelgrundfläche‘ und einer ,Durchtrennung des Unterkiefers‘ führte. Rosa Luxemburg war sofort tot. Es war 23 Uhr 45 am 15. Januar 1919.“
Die letzten vier Jahren ihres kurzen Lebens hat sie überwiegend in Gefängnissen verbracht. Sie hat in dieser Zeit unermüdlich geschrieben: Die berühmte Junius-Broschüre, Flugblätter, Aufrufe und Beiträge zu den „Spartakus Briefen“, heimlich in der Haft verfasst und aus dem Gefängnis geschmuggelt. Die Briefe aus dem Gefängnis runden das Bild der politischen Schriftstellerin ab. Sie zerstörten nicht nur das von den Rechten tradierte trostlos falsche Bild der „blutigen Rosa“, sondern zeigen, was für eine feinfühlende, differenzierte und poetische Natur sie war.
Der in Berlin lebende und in Potsdam lehrende Historiker Ernst Piper hat zahlreiche Bücher zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts publiziert, zum Beispiel Nacht über Europa. Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs (2014). Er schildert Luxemburg als die bedeutendste marxistische Denkerin ihrer Zeit. Sie trat zwar für eine „Diktatur des Proletariats“ ein, aber kämpfte vehement gegen den autoritären Zentralismus Lenins, weshalb sie auch die Gründung der Kommunistischen Internationale ablehnte. Sie betrachtete sich als demokratische Kommunistin.
Wegen ihrer Revolutionstheorie, ihres Freiheitsbegriffs und ihres uneingeschränkten Internationalismus wurde sie zur Ikone des weltweiten Protests der 1968er-Bewegung. Ihr berühmter Satz „Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden“ wurde eine Parole der Bürgerrechtler in der untergehenden DDR. In ihrer Gedanken- und Ideenwelt ist vieles zu finden, was auch heute, in einer Zeit des erstarkenden Nationalismus und Rechtsextremismus, wichtig ist.
Piper beschreibt in seiner exzellent und frei von ideologischen Zwängen geschriebenen Biographie, welch eine charismatische Persönlichkeit Rosa Luxemburg war. 1871 wurde sie in der Kleinstadt Zamość, etwa 250 km südöstlich von Warschau im russischen Teil Polens geboren. Bereits ihre erste öffentliche Rede als 22-jährige Studentin in Zürich erregte die Aufmerksamkeit des Publikums. „Als leidenschaftliche Kämpferin“, so der Biograph, absolvierte sie 1898, „kaum in Deutschland angekommen, für die SPD eine Wahlkampftournee durch die Provinz Posen, die ihren legendären Ruf als brillante Rhetorikerin begründete.“
Sie gehörte vielen Minderheiten an. Sie kam aus einem bürgerlichen jüdischen Elternhaus, besuchte das Gymnasium in Warschau und sprach neben Polnisch und Jiddisch auch Russisch, Französisch und Deutsch. Sie perfektionierte erst während ihres Studiums in Zürich die deutsche Sprache. Dort lernte sie auch ihren langjährigen, aus Litauen stammenden Lebensgefährten Leo Jogiches kennen. Sie fand mithilfe einer Scheinehe in Deutschland ihre politische Heimat, war auf SPD-Parteitagen die einzige Frau mit einem Doktortitel, engagierte sich als rastlose Kämpferin für die europäische Arbeiterbewegung in sieben verschiedenen sozialistischen Parteien. „Sie hat ein Leben lang für eine Partei gekämpft, die sie nicht einmal wählen durfte“, so Piper. Dabei stritt sie innerhalb der SPD, wie mit Karl Kautsky, um den richtigen Weg zum Sozialismus. „Die Revolution ist großartig, alles andere ist Quark“, sagte sie 1906 in einer leidenschaftlichen Rede in Köln. Bei Kriegsausbruch votierte sie, entgegen der Linie ihrer Partei, gegen Kriegskredite, initiierte die Spartakus-Gruppe, die ab 1917 in die USPD mündet. Am 30. Dezember 1918 war sie Mitgründerin der KPD.
In seinem neuen Buch Rosa Luxemburg neu entdecken unternimmt es Michael Brie, Referent am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung, eine Theorie des demokratischen Sozialismus zu skizzieren. Bereits 2009 hatte Brie in einem Essay einer Textsammlung der Stiftung geschrieben, dass Freiheit im „Luxemburgianischen Verständnis“ unendlich weit vom marktliberalen Egoismus oder dem Selbstverwirklichungs-Kult der „neuen Mitte“ entfernt“ sei. Freiheit habe Rosa Luxemburg als soziale Tugend praktiziert, als Kampf für die Freiheit der Anderen: Ihr „Verständnis von Freiheit hat die Gerechtigkeit als Grundlage. Nur die, die anderen ein freies Leben als Andere ermöglichen, handeln gerecht. Ein solcher Begriff von Freiheit, der in der Gerechtigkeit gründet, ist nicht nur extrem kritisch gegenüber der Verwandlung von Freiheit in die Barbarei privilegierter Nutznießung sozialer Vorrechte, sondern gleichzeitig gegen alle gesellschaftlichen Strukturen und die sie garantierenden Herrschaftsverhältnisse gerichtet, die diese Barbarei erst ermöglichen.“
Dietmar Dath schreibt in einem Nachwort zum Reclam-Band Friedensutopien und Hundepolitik mit ausgewählten Schriften und Reden von Rosa Luxemburg, dass ihre Stimme „es an Beredsamkeit mit den originellsten und elegantesten Kollegen ihrer Zeit aufnehmen konnte, mit dem Österreicher Karl Kraus, dem Franzosen Anatole France und dem Amerikaner Mark Twain.“ Ihr Text Tolstoi als sozialer Denker (1908), der die Sammlung eröffnet, stehe „der Sprache seines Gegenstands in nichts nach (was man von universitärer Literaturkunde und literaturkritischem Feuilleton selten sagen kann)“. Schöngeistiges allerdings sei nur ein Nebenfach für die Autorin gewesen. Der Band enthält u.a. Frauenwahlrecht und Klassenkampf aus dem Jahr 1912, dessen Verknüpfung der Geschlechterfrage mit anderen Unrechtsfragen immer noch aktuell ist, die Verteidigungsrede vor der Frankfurter Strafkammer – Anfang 1914 wurde Rosa Luxemburg angeklagt, weil sie im September 1913 öffentlich zum Kampf gegen die Kriegsgefahr aufgerufen und an alle Arbeiter appelliert hatte, im Falle eines Kriegs nicht auf ihre französischen Brüder zu schießen –, und den Artikel Die Ordnung herrscht in Berlin, der einen besonderen Bekanntheitsgrad erlangt und einen Tag vor ihrer Ermordung durch Freikorpssoldaten in der Tageszeitung Die Rote Fahne erschien. Er endet mit den Sätzen:
„Ordnung herrscht in Berlin!“ Ihr stumpfen Schergen! Eure „Ordnung“ ist auf Sand gebaut. Die Revolution wird sich morgen schon „rasselnd wieder in die Höh‘ richten“ und zu eurem Schrecken mit Posaunenklang verkünden: Ich war, ich bin, ich werde sein!
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