Berlin Calling − Reifeprüfung in Westberlin

Fil Tägerts „Mitarbeiter des Monats“ über das Erwachsenwerden in den 1980er-Jahren

Von Sebastian BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im September 2016 erschien im jungen Verlagsprogramm Rowohlt Hundert Augen Fil Tägerts zweiter Roman Mitarbeiter des Monats. Damit gelingt dem Berliner Comiczeichner und Entertainer eine Hommage an das Coming-of-Age einer Jugend in den 1980er-Jahren und ein überzeugendes Plädoyer für die Reifeprüfung eines Heranwachsenden im Kosmos der geteilten Stadt.

Westberlin im Sommer 1985: Es ist die Zeit des New Wave, des Punk-Rock, der Hausbesetzungen, kurz: des enthemmten Lebens. Auf der Suche nach sich selbst und seinem Platz in der Gesellschaft wandelt der 19-jährige Protagonist Nick durch die pulsierende Großstadt und träumt von einer Karriere als Künstler oder Musiker. Und mitten in seiner Selbstfindungsphase begegnet ihm seine erste Liebe.

Nick ist Single, hat die mittlere Reife und arbeitet ohne große Ambitionen als Aushilfe in einer McDonald’s Filiale, wo er einen roten Hut und eine „funky Clowns-Uniform“ tragen muss, und sich mit dem Store-Manager und seinen Arbeitskollegen herumärgert. Erfüllung in seiner Tätigkeit findet er weniger, kündigt gefühlt häufiger als er zur Arbeit erscheint und kehrt letztlich doch immer wieder an den Grill zurück. Die Mitarbeiterführung des Unternehmens durchschaut er rasch, denn anders als seine Arbeitskollegen hat er nicht das Ziel, dort alt zu werden, denn „nur, wenn man das lange genug durchhielt, wurde man irgendwann zum Manager befördert. Der Manager hatte nun überhaupt keinen Hut mehr. Genau wie wir alle, bevor wir bei McDonald’s angefangen hatten.“

Nach seiner Arbeit streift er mit seinen besten Freunden Burner, La Boum und Milbe auf der Suche nach der großen Liebe und dem Sinn des Lebens durch das Nachtleben Westberlins. Er ist ein Heranwachsender mit ausgeprägtem Individualitätsbedürfnis, der sich aber keiner Subkultur zuordnen lassen will: „Ins Linientreu gingen die Leute, die sich was in die Haare machten. Das waren unsere Leute. Wir machten uns was in die Haare, und dann machten wir die Haare hoch, aber wir waren jetzt nicht ‚New Wave‘ oder so was. Irgendwie waren wir allerdings auch nicht NICHT New Wave. Keine Ahnung. Punk war ja vorbei, und was anderes kam irgendwie nicht. Wir waren die mit was in den Haaren.“ Während seiner dreimonatigen Odyssee durch Berlin, in der er diverse prägende Erfahrungen sammelt, wie etwa die erste Liebe, Trennung oder Verlustängste, lernt er den Wert einer Freundschaft kennen, bildet berufliche Zielvorstellungen und reift vom Jungen zum Mann, der für seine erste Liebe und das gemeinsame Glück sprichwörtlich alles auf eine Karte setzt.

Was wie die Blaupause aus einer geläufigen Coming-of-Age-Story klingt, akzentuiert sich in Tägerts Roman erstaunlich unkonventionell und frisch. Denn überzeugend ausgefeilt, changiert Mitarbeiter des Monats zwischen zwei Welten: Zwar spielt die Handlung im geteilten Berlin der 1980er Jahre und fernab unserer heutigen digitalisierten Welt, doch die paradigmatischen Leitmotive Liebe und Heranreifen rekurrieren auf zeitlose Erfahrungen und Befindlichkeiten der Jugend jeder Generation. Dadurch gelingt es Tägert, seine Geschichte auch für das aktuelle, vermutlich jüngere Lesepublikum anschlussfähig zu gestalten.

Angesichts der zunehmend vorherrschenden Erwartung, dass jeder, der sich im Feld der Künste bewegt, auch einmal einen Roman schreiben sollte, bestand Tägert bereits im Jahr 2014 seine literarische Feuertaufe mit Pullern im Stehn. Die Geschichte meiner Jugend. Nach eigener Aussage schrieb er damals ein Buch, das er selbst nicht gut fand, denn „jeder Hirbel schreibt ja jetzt ein Buch“ (Interview in der Berliner Morgenpost, 19. Januar 2015).

Mit seinem zweiten Roman kann Tägert mehr als zufrieden sein, denn es ist eine deutliche literarische Weiterentwicklung erkennbar. Als Comiczeichner gelingt es Tägert durch ein versiertes Sprachspiel und eine differenzierte Figurenkonstellation, eine überzeugende Narration zu entwickeln. Dies äußert sich vor allen Dingen im Rahmen realitätsnaher Dialoge und des Dreiecksverhältnisses zwischen dem Protagonisten, seiner Liebe Jacky und einem unerwarteten Nebenbuhler:

„Ich wählte Jackys Nummer. „Ja?“, fragte sie. „Hier ist Nick the Nickmaster.“ Schweigen. „Jacky – alles klar?“ „Nick. Warum rufst du hier an?“ „Warum? Na, du meintest doch, ich soll mich melden, wenn …nach drei Monaten… oder was?“ Jacky seufzte. „Nick, ich bin jetzt mit Speichel zusammen.“ „…“ „Bist du noch dran?“ „Ja. Wa … seit wann denn?“ „Ist das denn wichtig?“ „Aber … hä? Speichel ist doch … ist er nicht `ne totale Hohlbirne?“

Getragen durch den Ich-Erzähler Nick und durch die Fokussierung auf einen Zeitraum von wenigen Monaten, stellt sich eine angenehme Balance in der Erzählgeschwindigkeit ein, so dass der knapp 300-seitige Roman eine kurzweilige Lektüre garantiert. Durch die abgestimmte Komposition zwischen zeitdeckendem und zeitdehnendem Erzählen kommen die Alltagserfahrungen des Ich-Erzählers in der Narration authentisch und ironisch zur Geltung, so zum Beispiel als er sich einer OP zur Beschneidung unterzieht und den Heilungsprozess beschreibt:

„Zwei Wochen lang jede Stunde den Penis eincremen ist leichter gesagt als getan. […] Ich cremte und cremte. Wenn ich mal zu war, kriegte ich gleich Panik, dass jetzt alles umsonst gewesen sein könnte. […] Noch nie hatte ich etwas so gewissenhaft betrieben wie dieses regelmäßige Cremen. Es gab meinem Leben Struktur, und ich erkannte: Vorher war gar nicht so viel Struktur da gewesen.“

Gerade weil Tägerts Autorschaft im satirischen Comicgenre wurzelt und er sich auf diese Form der Prosa wie kaum ein anderer versteht, bereichert er den Literaturbetrieb durch seinen versierten Einsatz von Sprache. So wechselt die Narration zwischen knappem, legerem Jugendjargon und tabuisierter Vulgärsprache, ohne jedoch anrüchig zu wirken: „Schon wieder hatten wir Sex gehabt. Wahnsinn. Wir mit unserem dauernden Sex immer. Anal diesmal sogar, zum ersten Mal. Mit irgendwelchen Tricks hatte sie den Einäugigen in die verborgene Bucht bugsiert. So ging also dieses sagenumwobene anal.“

Die dem Alter des Protagonisten entsprechende Sprache trägt schließlich auch zur Ausgestaltung seiner Lebenswelt bei. In die Mitte des sozialen Raumes Großstadt geworfen, befindet er sich in der Orientierungsphase, um die ihm vom urbanen Kollektiv zugedachte gesellschaftliche Position zu klären. Er sieht sich als „astreinen Bukowski“, liest im Waschsalon Dostojewski und kann aus Ernst Lubitschs Satire Sein oder Nicht-Sein zitieren. Seine jugendliche Nachdenklichkeit rührt aus der Angst vor einer ungewissen Zukunft und ist Folge des Abschieds von der Jugend: „Alle hatten wir Angst vor dem Tag, an dem wir unserer eigenen Banalität ins Gesicht schauen mussten. Dieser Tag würde kommen, das Ende der Jugend. Auch ich würde bald kein Teenager mehr sein, und was sollte ich dann machen, als Twen?“

Auf diese Weise entpuppt sich das in den Roman eingeschriebene gesellschaftliche Potenzial: Der dargestellte Reifeprozess kann abstrahiert, Wahrnehmungen des heranwachsenden Protagonisten können auf die eigene außerliterarische Welt übertragen werden und eine identitätsstiftende Funktion übernehmen. In dieser Hinsicht mag die Geschichte auch eine Orientierung bei den Fragen „Wo ist mein Platz im Leben? Habe ich schon gefunden, wonach suche?“ bieten. Dieser Aspekt entspricht auch einer Episode aus dem Leben Pablo Picassos, die als allegorische Referenz auf das Thema des Romans gelesen werden kann: Im Jahre 1900 führte es den damals 19-jährigen Künstler mit seinem Freund Casagemas nach Paris, um künstlerische Verwirklichung zu finden. Während dieser Phase wurde Picasso mit einem ersten tragischen Verlust in seinem Leben konfrontiert, denn Casagemas nahm sich aus unerwiderter Liebe zu einer Frau das Leben. Die Erfahrungen, die Picasso in der Großstadt machte, ließen ihn reifen, beförderten ihn in seinem künstlerischen Schaffen und läuteten schließlich seine „Blaue Periode“ ein. Angelehnt an diese Episode generiert Tägert die Geschichte seines Protagonisten Nick.

Dass der Autor die Inspiration für seinen Roman aus seiner eigenen Lebenswirklichkeit schöpft, hilft ihm ein überzeugendes Narrativ zu entwickeln. Er kennt die Stadt und ihr Milieu und weiß, wie sie zu seiner Jugendzeit waren. So gelingt es ihm zahlreiche real existierende Plätze im Berliner Wedding in seinen Erzähltext handlungstragend zu integrieren, wie beispielsweise das Rudolf-Virchow Krankenhaus:

„Ich würde mich endlich beschneiden lassen. […] Nachdenklich fand ich mich zwei Wochen später im Virchow-Krankenhaus ein. Virchow-Krankenhaus, da sollte man denken: so gut wie Virchow. So wie Vollmilchschokolade Vollmilch und Atomkraft Atome enthält, so enthält dieses Krankenhaus die Fähigkeiten, die Könnerstufe, die Essenz und Konsequenz Virchows, wer immer das auch war. So sollte man denken. So dachte ich aber nicht, sondern ich dachte: Oh no.“

Mit einer direkten Ansprache der Leserschaft und einem Versprechen, am Ende des Romans alle Geheimnisse zu lüften, wählt Tägert ein geschicktes erzähltechnisches Instrument zur Spannungssteigerung, was an folgendem Beispiel sichtbar wird: „Was ich wohl mit diesen ganzen Kartenspielen will, wa? Tja, Freunde, da müsst ihr das Buch schon bis ganz zu Ende lesen, das wird nämlich erst am Schluss erklärt. Die meisten Leser hören ja heutzutage schon nach zwei Dritteln auf, aber das läuft hier nicht. Sorry.“

Mit Mitarbeiter des Monats gelingt Fil Tägert eine erstaunlich kurzweilige und handwerklich gut ausgereifte Geschichte, die fernab hochpolitischer Ost-West-Geschichte verläuft und die aufgrund ihrer sehr persönlichen Coming-of-Age-Story, in der Tradition von Heinz Strunks Fleisch ist mein Gemüse (2004), auch einem jungen Publikum viel Vergnügen garantiert. Mit Fil Tägert hat die deutsche Literaturlandschaft einen Autor gewonnen, dessen literarische Entwicklung sicherlich noch Vielversprechendes für die Zukunft bereithält.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Fil Tägert: Mitarbeiter des Monats. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2016.
302 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783498058098

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