Theater als aktivistische Instanz?

Ein Interview mit dem Dramaturgen Boris Motzki

Von Lisa Christin SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisa Christin Schmitt

Boris C. Motzki ist Dramaturg und Regisseur. Seit der Spielzeit 2018/2019 ist er am Staatstheater Mainz als Dramaturg aktiv. Hier ist er unter anderem für seine Betreuung der Stücke „Sophia, der Tod und ich“, „Villa Alfons“, „Der Menschenfeind“ oder seine Übersetzung von „Der Vorfall“ nach Deirdre Kinahans „Rathmines Road“ bekannt. Zudem arbeitet der 43-Jährige als Gastdozent an mehreren Institutionen sowie als Autor. Nebenbei hostet er zusammen mit dem Schauspieler István Vincze den Podcast Playspotting, in dem sie gemeinsam ihre Lieblingsautoren diskutieren.

Ich gehe davon aus, dass nicht alle Menschen wissen, was Dramaturg*innen am Theater überhaupt machen. Was sind denn typische Aufgabenbereiche?

Dramaturgie ist nach außen ein etwas unsichtbarer Beruf. Ich versuche das immer damit zu erklären, dass wir eigentlich drei große Bereiche haben: programmieren, produzieren und kommunizieren. Programmieren heißt, wir gestalten den Spielplan. Wir wählen also die Stoffe aus, die Stücke, Romane, Filme, die wir adaptieren, die Geschichten, die wir erzählen, die Themen, die wir zur Diskussion stellen wollen. Damit einhergehend machen wir uns auch Gedanken, welche Regieteams dazu gut passen könnten. Wie werden wir Stücke aus unserem (in diesem Falle) festen Ensemble hier am Staatstheater mit 26 festen Spieler*innen besetzen? Es kommen – je nach Bedarf – oft auch noch Gäste dazu.

Dann produzieren – das betrifft die jeweiligen Produktionen. Wir haben immer ca. sechs bis acht Wochen Proben, plus Vorbereitungsvorläufe. Dabei betreuen wir in dieser Probenzeit die jeweilige Produktion in enger Zusammenarbeit und unter Absprache mit dem Regieteam. Wir machen die Fassungen zusammen, wir reden über die ästhetische, als auch inhaltliche Konzeption. Wir sind sozusagen auch die ersten Zuschauer*innen auf den Proben. Das heißt, wir sind nicht wie das Regieteam jeden Tag bei den Proben, sondern kommen immer stichprobenweise dazu. Eben wenn schon etwas entstanden ist. Wir überlegen dann, ob es so funktioniert oder nicht. Versteht man es oder ist etwas unverständlich? Wo passt etwas nicht zu der Konzeption, die man mal hatte?

Das Kommunizieren betrifft schließlich das, was wir jetzt gerade auch machen. Wir reden über Theater und wir versuchen es zu vermitteln. Wir versuchen natürlich, dafür zu werben, aber eben auch ins Gespräch zu kommen über die Themen, die uns wichtig sind und die wir mit den jeweiligen Produktionen zeigen wollen. Zu diesem Bereich gehören Gespräche, Vorbereitungen, Matineen oder auch die Einführungen, die wir hier vor fast jeder Produktion machen und dabei etwa eine Viertelstunde lang etwas über Konzeption, Autor und Regie erzählen. Auch das Programmheft gehört noch zu diesem Bereich.

Jetzt haben Sie ja gesagt, dass auch das Auswahlverfahren oder die Erstellung des Spielplans eine Aufgabe des Dramaturgen ist. Gibt es bestimmte Kriterien, anhand deren dann zum Beispiel entschieden wird, welche literarischen Werke inszeniert werden? Also inwiefern wird auch der aktuelle Diskurs über bestimmte Themen oder aber auch das persönliche Interesse mit in diese Entscheidungen einbezogen?

Das ist ein langwieriger Prozess und den kann man nicht ganz einfach beschreiben, weil dabei Vieles zusammenkommt. Wir lesen als Dramaturgie-Team ganz viel. Das ist eine der Grundaufgaben. Wir lesen viele aktuelle Stücke, die wir von den Verlagen geschickt bekommen oder die wir selbst irgendwo gesehen haben oder von denen wir gehört haben. Im Schnitt lesen wir schätzungsweise ungefähr zwei neue Stücke pro Woche. Dann haben wir eine wöchentliche Sitzung, in der wir uns diese gegenseitig vorstellen, damit wir sie nicht alle selbst lesen müssen. Dann überlegen wir, was interessant sein könnte. Das wird dann noch einmal von einem anderen Kollegen gelesen. So wählen wir aus, was aktuelle Stücke betrifft.

Gleichzeitig überlegen wir natürlich auch immer, welchen großen Klassiker man wieder einmal auf die Bühne bringen könnte.

Darüber hinaus gibt es gewisse Kriterien, die ein Stadt- und Staatstheater in der Regel erfüllen muss. Das heißt, man macht zum Beispiel ein Familienstück zur Weihnachtszeit.

Oh ja, die sind immer schön.

Das ist etwas, das tatsächlich auch immer mit am besten verkauft ist, weil natürlich die Kindergärten und Schulen ein solches Stück besuchen. Das muss nicht immer ein Märchen sein. Es heißt auch nicht mehr „Weihnachtsstück“, sondern soll für jegliche Religionszugehörigkeiten passen. Das heißt, es können eben auch Abenteuergeschichten für Kinder sein. Wir hatten kürzlich zum Beispiel den „satanarchäolügenialkohöllischen Wunschpunsch“ von Michael Ende.

Solche Geschichten sind zum Beispiel als Produktion gesetzt. Das machen wir jede Spielzeit. Meistens – das sind letztlich die Gesetze einer solchen Institution – bringen wir auch eine Komödie, also ein unterhaltsames Werk, dazu auch oft ein Musical.

Gleichzeitig sind wir sehr daran interessiert, junge und zeitgenössische Autoren zu fördern, was wir über Stückaufträge machen. David Gieselmann hat z.B. ein Stück über den Wirecard-Fall für uns geschrieben. 

Aus all dem – und aus den Meinungen verschiedener Dramaturg*innen bildet sich schließlich ein Spielplan, der einige Gesetze abbilden muss und natürlich viel damit zu tun hat, wie die jeweiligen Geschmäcker bei uns sind.

In der aktuellen Spielzeit – 2022/23 – ist mir aufgefallen, dass wirklich sehr viele Stücke häusliche und sexuelle Gewalt thematisieren. Das war insbesondere bei „Der Vorfall“, aber auch in „Vater Unser“, „Das wirkliche Leben“, oder auch in „Der kleine Horrorladen“ der Fall. Folgt das Staatstheater da bewusst einer gewissen gesellschaftskritischen oder aktivistischen Programmatik?

Häufig fällt einem der thematische Zusammenhang erst später auf, oder wenn man – wie jetzt – darauf aufmerksam gemacht wird. Der rote Faden sollte in dieser Spielzeit nicht sein, dass wir uns nur mit den Themen Missbrauch, sexualisierte und häusliche Gewalt beschäftigen, sondern der Spielplan ergibt sich eben aus den beschriebenen Prozessen. Welche Themen sind gerade da, welche Stoffe gibt es, die uns interessieren?

„Vater unser“ war zum Beispiel ein Stoff, den ich sehr, sehr gerne machen wollte, weil ich das für einen wahnsinnig guten Debütroman von Angela Lehner halte. Gar nicht mal wegen der Themen, sondern aufgrund des Erzählmodus: Die Hauptfigur erzählt als unzuverlässige Erzählerin. Wir wissen also nie, was wir glauben können. Und dazu kommen dann diese sehr harten und natürlich sehr wichtigen Themen, die uns gegenwärtig sehr beschäftigen.

„Der Vorfall“ hat eine andere Geschichte. Das Stück hat unser Chefdramaturg vor knapp fünf Jahren auf einem Festival in England gesehen. Wir hielten es für einen sehr guten Text, hatten aber eine Zeit lang nicht die passende Regie dafür. Wir sind grundsätzlich bemüht, nicht einfach über die Stücke zu entscheiden und dann den Regisseuren zu sagen „Ihr müsst jetzt oder ihr dürft nicht“. Sondern wir versuchen im Austausch mit der Regie im Dialog herauszufinden, was die jeweilige Regie gerade interessiert.Für „Der Vorfall“ hat sich schließlich Kathrin Mädler als Regisseurin gefunden. Ich habe das Stück übersetzt und war dann im engen Austausch mit der Autorin Deirdre Kinahan, die auch bei uns war. Ein solcher Austausch liegt uns sehr am Herzen. Sie kam dann vor der Premiere zu einem Talk, hat die Premiere geschaut und ich konnte davor mit ihr ein Interview machen sowie ein Portrait über sie für die FAZ.

Wie gehen Sie bei der Übersetzung beziehungsweise der Adaption von einem Stück wie „Rathmines Road“ vor? Das sind ja anspruchsvolle Themen. Muss da auf etwas Bestimmtes geachtet werden? Konnte man etwas verändern oder wurde alles beibehalten?

Ich habe versucht, das Stück 1:1 zu übertragen, auch weil es die deutschsprachige Erstaufführung war. Natürlich gab es ein paar Kürzungen. Bei manchen Proben bemerkt man, dass sich bestimmte Dinge erzählen und man sie nicht auch noch sagen muss. Manchmal gibt es auch Stellen, die schlicht zu lang sind, sodass es besser ist, etwas herauszunehmen. Davon gab es in diesem Fall aber nicht viel.

Wichtig ist die Frage, wie man mit der Besetzung der Trans-Rolle umgeht. In diesem Fall war es so, dass die Rolle auch eine Trans-Spielerin übernommen hat, die auch die Autorin persönlich kennt. Die Rolle wurde auch mehr oder weniger für sie geschrieben. Es gab allerdings bei uns ohnehin den Wunsch, die Rolle mit einer Trans-Spielerin zu besetzen. In unserer Kontaktlage war es jedoch so, dass es bei vielen entweder zeitlich oder mit Blick auf das Alter nicht passte. Jedenfalls haben wir da also leider keine Trans-Schauspielerin gefunden. Kathrin Mädler hatte einen guten Tipp von einer Spielerin, mit der sie schon häufiger und länger zusammengearbeitet hat. So kamen wir zu Isa Weiß, die die Rolle dann als Gast bei uns, wie ich finde, sehr bemerkenswert und feinsinnig gespielt hat.

Ist denn der Wechsel von einem Roman oder von einem Film hin zur Bühnenfassung generell schwer? Wie genau setzt man das um?

Es ist immer schwierig, weil es einen Medientransfer beinhaltet. Die Grundfrage lautet dabei stets: Warum macht man das überhaupt, wenn der Film doch so gut war? Es gibt ja einen Grund, weshalb das Ganze als Film oder eben Roman erschienen ist. Was kann also der Medientransfer leisten? Verloren gehen kann viel, das wissen wir ja. Die Effektmöglichkeiten eines Films haben wir natürlich nicht auf der Bühne. Gleichzeitig haben wir wiederum beim Lesen eines Romans die Imaginationen im Kopf des Einzelnen, die wir in dieser Form nicht theatral übertragen können, weil wir ein Bild voraussetzen.

Ein Grund für eine Bühnenfassung kann zum Beispiel ein Perspektivwechsel sein. Womöglich ist der Roman nur aus der Sicht einer Person geschrieben und man möchte es in der Theaterfassung multiperspektivisch erzählen. Oder man empfindet das Thema als so wichtig, dass man es gerade jetzt auf der Bühne sehen will, es aber kein entsprechendes aktuelles Stück gibt.

Von Seiten der Zuschauer und der Kritik wird seit 30 Jahren angeprangert, dass man neuerdings nur noch Romane und Filme mache. Dabei gibt es Romanadaptionen schon Ende des 19. Jahrhunderts. Eine der berühmtesten war „Der Graf von Monte Christo“. Das kommt auch daher, dass man eben eigentlich nach Stoffen sucht.

Gegenwärtig lässt sich eine Masse an mehr oder minder aktivistischer Literatur, also Büchern, die sich gesellschaftskritisch äußern, feststellen. Ist das auch beim Theater spürbar?

Das ist, glaube ich immer eine Frage der Wahrnehmung und Definition. Natürlich gibt es einige virulente gesellschaftliche Themen und einen verstärkten Diskurs. Das fing ja schon mit der Krise der Geflüchteten an, über #MeToo, bis hin zu Klima. Es gibt natürlich sehr viele virulente Themen, die sich in den letzten zehn Jahren – vielleicht sogar angefangen mit der großen terroristischen Welle – sehr zugespitzt haben. Und es gibt natürlich auch eine Sensibilisierung für viele Themen. Es gibt eine politisiertere Jugend als noch zu meiner Zeit. Ich bin Jahrgang 1980. Zu Schul- und Studienzeiten lebte man in meiner Generation größtenteils eher apolitisch, entertainmentmäßig dahin, würde ich behaupten.

Ich frage mich, ob das nicht sowieso eine Wellenbewegung ist? Ich glaube, dass gerade die 70er Jahre auch schon sehr politisiert waren. Die Frauenbewegung war damals ein sehr, sehr großes Thema, auch im philosophischen wie im theaterwissenschaftlichen Diskurs. Jemand wie Judith Butler kommt genau aus dieser Zeit, und wird jetzt wieder herangezogen – zu Recht. Aber das war eine Zeit lang aus dem allgemeinen Bewusstsein ein wenig verschwunden. Ich würde sagen, die 80er und 90er und auch noch die 00er Jahre waren da etwas apolitischer. Insofern bin ich mir nicht sicher, ob das jetzt gerade ein Thema ist oder vielmehr generell etwas, das es mal mehr, mal weniger gibt.

Natürlich sind die angesprochenen Themen momentan Gegenstand der gesellschaftlichen Diskussion. Daher gibt es im Moment auch viel mehr Theaterstücke, die sich zu diesen Themen äußern, als es vor 15-20 Jahren der Fall war. Heute ist immer sehr der Widerhall gesellschaftlicher Diskussionen im Theater zu sehen.

Würden Sie auch schon die Beschäftigung mit gesellschaftskritischen Themen mit einem gewissen Aktivismus gleichsetzen?

Tatsächlich nicht, denn ich glaube, das ist gerade in unserer Branche – und das kann man genauso für Medien, Film-, Fernseh- und Literaturschaffende sagen – eine Grundaufgabe. Der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten – wie es oft heißt. Bestenfalls regt man das Publikum zum Nachdenken und zum Diskutieren an. Die andere Aufgabe wäre die Unterhaltung, das Entertainment. Bestenfalls kann das auch mal zusammengehen.

Ich würde behaupten, dass z.B. „Der Vorfall“ bei all der Heftigkeit der Thematik gleichzeitig auch ein sehr spannendes Stück ist, weil es auch mit gewissen Mitteln des Well-made plays, des Krimis, des Thrillers, der Aufdeckung arbeitet, um auf ein wichtiges Thema hinzuweisen. Das finde ich daran zum Beispiel sehr gelungen. Ich würde nicht sagen, dass das Stück grundsätzlich aktivistisch ist. Im Theater ist es ja immer – Gott sei Dank – so, dass wir eher Fragen stellen und gar nicht so viele Antworten geben können oder wollen.

Welche literarischen Werke würden Sie gerne zeitnah auf der Bühne sehen oder auch selbst bearbeiten?

Da gibt es ganz, ganz viele. Manchmal findet man im Belletristischen gerade mehr, was einen interessiert, als in dramatischen Texten. Ich bin ein großer Fan von Virginie Despentes, die ja die große Vernon-Subutex-Trilogie gemacht hat. Die war bereits auf verschiedenen Bühnen zu sehen, bei uns passte es bisher leider noch nicht. Wir waren auch sehr interessiert an ihrem neuen Buch Liebes Arschloch (frz.: Cher connard), dessen Rechte wir jedoch leider nicht bekommen konnten. Das sind Stoffe, die ich sehr bühnentauglich finde, weil sie große gesellschaftliche Panoramen mit sehr „saftigen“ Figuren erzählen.

Ich selbst mache nächstes Jahr in Neuss Madame Bovary. Das ist z.B. ein Stoff, den ich seit Jahren gerne mal für die Bühne bearbeiten wollte. Es gibt außerdem einen ganz tollen italienischen Roman aus den 70er Jahren, der kürzlich wiederentdeckt wurde: Gianfranco Calligarichs Der letzte Sommer in der Stadt. Das wäre auch einer der Romane, die ich gerne unbedingt für die Bühne bearbeiten würde.