Tipps und Tools
Der Wiener Altgermanist Hermann Reichert erleichtert den Zugang zu Semantik und Syntax des ‚Nibelungenliedes‘
Von Heribert Hoven
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWenn wir die Originalsprache eines literarischen Textes nicht beherrschen – und dies wird bei rund 90 % der Weltliteratur zutreffen, auch auf die meisten der sogenannten Heiligen Schriften –, benötigen wir die Hilfe einer Übersetzung. Falls diese gelungen ist, führt sie oft vom Original weg und stellt somit ein eigenständiges Kunstwerk dar. Besser wären also, so ein Gedankenspiel des Literaturprofessors Hermann Reichert, schlechtere Übertragungen, weil sie den Leser auf den Originaltext zurückwerfen. Vorausgesetzt natürlich, dass er diesen einigermaßen erfassen kann, wie es etwa für den, der Deutsch spricht, bei mittelalterlichen, genauer: bei mittelhochdeutschen Texten durchaus der Fall sein dürfte.
So wird etwa der heutige Leser schon einigermaßen stutzig, wenn er in der Simrock’schen Übersetzung des Nibelungenliedes, Handschrift C, bereits im zweiten Vers auf „preiswerte Helden“ (für: heleden lobebæren) stößt. Allerdings gibt es im Übergang vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen zahlreiche Bedeutungsverschiebungen, lautliche Veränderungen und grammatische Wandlungen, die ein Verständnis des Originals erschweren. Um trotzdem einen Zugang zu diesem zu schaffen, hat Reichert für das Nibelungenlied in der normalisierten Fassung der Sankt Galler Handschrift B ein Nibelungenlied-Lehrwerk verfasst. Der etwas steifleinen stabende Titel erklärt sich schnell und schlüssig. Mit stupendem Fleiß und großer Sachkenntnis untersucht er Zeile für Zeile die sprachlichen Wendungen und grammatischen Eigenheiten des Epos. Er erklärt Sachzusammenhänge und entschlüsselt die formelhafte Sprache und das ritualisierte Auftreten einer Kriegerkaste ebenso wie manchen ironischen Seitenhieb. Dabei gelingen viele Detailbeobachtungen, die dem mittelalterlichen Menschen durchaus geläufig waren, dem heutigen Leser jedoch entgehen beziehungsweise fremd sind.
Im Kommentieren und Interpretieren hält sich der Autor indes zurück und verweist stattdessen auf die Arbeiten von Kollegen sowie auf eigene Vorarbeiten. Besonders einfühlsam geht er auf Leseneulinge ein, die er sehr persönlich mit „Sie“ anspricht und für die er „zeitsparende“ und „hilfreiche“ Tipps und Tools bereithält. Natürlich wird man das Lehrwerk nicht in einem Zug lesen können oder wollen. In seinen „Hinweisen zur Benutzung“ empfiehlt Reichert daher ein Vorgehen Schritt für Schritt. So etwa das laute Lesen von kleineren Einheiten, „am besten jeden Tag“, weil sich im Hören so manche Bedeutung von selbst erschließt. Deshalb finden sich im Anhang umfangreiche Ausführungen zur Aussprache und Metrik. Diese und der ausführliche Grammatikteil weisen über das Nibelungenlied hinaus und eignen sich, dem Anspruch des Buches entsprechend, vorzüglich zum Erlernen des Mittelhochdeutschen.
Speziell auf das Nibelungenlied bezogen ist das beigefügte „Vollständige Wörterbuch zum Nibelungenlied“, das also ein Nachschlagen in den einschlägigen und oft mehrbändigen Wörterbüchern erspart. Auf diese, die auch digital nutzbar sind, wird allerdings verwiesen. Ebenfalls digital zugänglich ist auch die von Reichert herausgegebene normalisierte Textfassung der Sankt Galler Handschrift, sodass also einer parallelen Lektüre nichts mehr im Wege steht. Darüber hinaus bietet die neu bearbeitete und erweiterte zweite Auflage des 2007 erstmals erschienenen „Lehrwerks“ noch einen besonderen Service: Bei der ersten Erwähnung eines Phänomens wird auf die entsprechenden Parallelstellen oder die Seiten des Anhangs hingewiesen, welche diesem gewidmet sind. Somit ist man bestens gerüstet für weitere Erkundungen rund um den ersten Höhepunkt der deutschen Literatur, der um 1200 einsetzt.
Viel philologischer Fleiß ist auf das Nibelungenlied verwendet worden. Es ist inzwischen befreit von der Last, ein Nationalepos zu sein, die das 19. Jahrhundert über ihm aufgetürmt hatte. Wäre es daher jetzt nicht an der Zeit, im Lichte all des minutiösen Spürsinns noch einmal darüber nachzudenken, ob in eben diesem Epos nicht ein mystisches Weltbild in dieser Form – kollektive Identität stiftend mit all ihren Rang- und Genderkonflikten und einem enormen rezeptiven Sog – vielleicht zum letzten Mal auf eine christlich-höfische Gesellschaft trifft, die sich der Vernunft zu öffnen beginnt und den Schritt vom fahrenden Sänger zum Schriftsteller wagt?
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg
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