Kanon = Klassiker?

Regina Toepfers zweiter Beitrag zur Kanon- und Klassikerdiskussion im Hinblick auf vormoderne Dichtung

Von Sotirios AgrofylaxRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sotirios Agrofylax

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über den Kanon beziehungsweise die Kanonisierung bestimmter Texte nachzudenken, ist eines der zentralen Themen der letzten Jahrzehnte. Dabei ist es nicht nur eine Diskussion innerhalb der Literaturwissenschaft, sondern auch im Feuilleton wird diese Diskussion lebhaft geführt. Mit ihrem zweiten Sammelband – der erste behandelte die Klassiker des Mittelalters -– beteiligen sich Regina Toepfer und ihre Beitragenden nur am Rande an dieser Diskussion, die vor allem auch eine Frage der Diversifikation ist. Das Buch scheint nicht Teil dieser aktuellen Debatte sein zu wollen. Es stellt eine Sammlung der Vorträge einer Ringvorlesung an der Technischen Universität Braunschweig aus dem Sommersemester 2019 dar.

Nur in einem Beitrag steht eine Frau im Zentrum, nämlich Elisabeth von Nassau-Saarbrücken und die in ihrem Umfeld entstandenen Werke. Dies mag vor allem daran liegen, dass hier im Band das 15. und 16. Jahrhundert im Fokus stehen und damit, meiner Meinung nach, nur die ‚frühste‘ Frühe Neuzeit. Spannend wäre es, die Frage von Kanon und Klassiker auch und vor allem an Werke des 17. und des hier gänzlich ausgelassenen 18. Jahrhundert zu stellen. Für Goethe und Schiller mag dies schon viel passiert sein, für andere wie etwa Johann Christoph Gottsched und Luise Adelgunde Victorie Gottsched wäre es sicher sehr interessant.

Schon 1994 debattierten unter anderem Renate von Heydebrand und Simone Winko den Zusammenhang zwischen der Zusammenstellung eines literarischen Kanons und der Kategorie Geschlecht. Trotz dieser Debatten und dem klaren Ergebnis, dass Jahrhunderte lang der Kanon geprägt war von männlichen Autoren, Wissenschaftlern und Kritikern, die zahlreiche weibliche Autorinnen mehr oder weniger bewusst ausgespart haben, hat sich an der Dominanz männlicher Schreibender in den zahlreichen Kanons wenig verändert. Bis heute erscheinen regelmäßig – oft in den Feuilletons der großen Zeitungen – mehrere solcher Listen, die die vermeintlich beste Literatur in einer kompakten Auflistung zusammenstellen, mit primär männlichen Dichtern und deren Texten im Fokus. Oder es macht sich mal wieder einer der zahlreichen Literaturkritiker auf den Weg, seinen Kanon in Buchform auf den Büchermarkt zu werfen. Glücklicherweise gibt es Bewegungen wie #breiterkanon, die kraftvoll versuchen, all dem entgegenzuwirken.

Um Kanonkritik geht es diesem Sammelband tatsächlich nur am Rande, primär wird die ‚Klassikerfrage‘ gestellt. Gerade in der Frühen Neuzeit ist diese allgegenwärtig. Denn viele Texte der Antike tauchen in dieser Zeit im europäischen Westen teilweise zum ersten Mal in der Originalfassung auf. Da muss sogar Homers Odyssee als Klassiker verteidigt werden. Zu den in diesem Sammelband abgehandelten Klassikern der Frühen Neuzeit gehören noch heute so bekannte Namen wie Hans Sachs, Sebastian Brant und Martin Opitz, aber auch der Klassikerstatus von Martin Luther und William Shakespeare stehen zur Debatte. Die meisten Beitragenden diskutieren die Frage, was eigentlich ein Klassiker sei. Dass man dafür keine einfache und allumfassende Definition finden kann, wird sehr schnell deutlich. Für Das Narrenschiff von Sebastian Brant konstatiert zum Beispiel Joachim Hamm in seinem Beitrag, dass es Kriterien wie Langlebigkeit, stete Lesendenschaft und produktive Rezeption zwar problemlos erfüllt. Aber machen diese das Werk damit gleich zum Klassiker? Hamm stellt im Verlauf dann vor allem die Frage der Kanonisierung als wichtiges Kennzeichen für den Klassikerstatus eines Werkes in den Vordergrund. Dieses unterliegt der Annahme, dass ein Werk dann zu den Klassikern gezählt werden kann, wenn es in die großen Kanons regelmäßig aufgenommen wurde und wird. Dies mag richtig sein, erweitert allerdings nur die Bandbreite an Problemen der Definition. Mir scheint vor allem die Rezeption beziehungsweise die Langlebigkeit der Rezeptionsfähigkeit ein wichtiges Argument für den Klassikerstatus. Schafft es ein Werk über einen langen Zeitraum, ohne den Zwang von Literaturlisten und Kanons eine beträchtliche Lesendenschaft zu bewahren, dann kann man dem Werk einen Klassikeraufkleber verpassen, wie es die Buchhändler mit dem bekannten roten Bestseller-Aufkleber tun. Mehr auch nicht. In diesem Sammelband finden sich viele interessante Gedanken über den Klassikerstatus zentraler Werke der Frühen Neuzeit. Ob sie nun zu den Klassikern zählen, bleibt der Lesendenschaft überlassen. Dieses Buch gibt aber wieder einmal einen wichtigen Anstoß, um über Fragen rund um Kanon und Klassiker neu nachzudenken.

Titelbild

Regina Toepfer: Klassiker der Frühen Neuzeit. Unter Mitwirkung von Nadine Lordick.
Georg Olms Verlag, Hildesheim 2022.
X, 526 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-13: 9783615004472

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