Vom Kalevala nach Mittelerde

Eine Edition früher Texte beleuchtet einen Ausgangspunkt für J. R. R. Tolkiens phantastische Welt

Von Rainer ZuchRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Zuch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit seiner neuesten Veröffentlichung aus der Schatzkiste des Altmeisters J. R. R. Tolkien geht der Klett-Cotta-Verlag noch weiter zu dessen Anfängen als Autor, als das mit Beren und Lúthien der Fall war. Die Geschichte von Kullervo stellt Tolkiens ersten Versuch dar, eine eigene Geschichte zu entwickeln. Von Mittelerde ist noch nichts zu sehen, dennoch ist die kurze und – wie so oft bei Tolkien – unvollständige Erzählung ein entscheidender Schritt dorthin.

Über die Datierung liegen keine genauen Angaben vor, die Niederschrift lässt sich aber eingrenzen auf zwischen 1912 und 1916. Kurz zuvor (1911) hatte Tolkien das finnische Nationalepos Kalevala entdeckt, was für die Geschichte von zentraler Bedeutung ist. Die Geschichte von Kullervo ist finster, brutal und in Teilen inkonsistent. Aber gerade letzteres hatte für Tolkien durchaus einen eigenen Wert.

Kullervo und seine Schwester Wanona sind die Kinder Kalervos, den dessen Bruder Untamo mit Hass und Missgunst verfolgt. Schließlich tötet Untamo seinen Bruder und entführt die Familie in die Sklaverei. Kullervo und Wanona erweisen sich aber als für jeden Dienst untauglich. Während Kullervo eine unbezähmbare Kraft entwickelt und zu einem aggressiven Menschenfeind wird, zieht seine Schwester einsam durch die Wälder. Eines Tages erzählt ihm seine Mutter, was Untamo der Familie angetan hat und schenkt ihm ein besonderes Messer. Kullervo schwört Untamo Rache, der ihn daraufhin zu töten versucht. Dies wird jedoch durch den zauberischen Hund Musti verhindert. Schließlich verkauft Untamo Kullervo an den Schmied Asemo. Dessen Frau schickt ihn mit ihren Herden auf die Weide und gibt ihm einen Kuchen mit, in dem sie boshaft einen großen Stein einbäckt. An diesem Stein zerbricht Kullervos Messer, woraufhin er die Weidetiere in Raubtiere verwandelt, die die Frau des Schmieds töten. Kullervo flieht und stößt in den Wäldern auf ein einsames Mädchen, mit dem er eine Weile zusammenlebt. Als sie jedoch entdecken müssen, dass sie Bruder und Schwester sind, stürzt sich Wanona in einen Fluß. Kullervo kehrt zu seinem Onkel zurück, tötet alles, was er vorfindet, bevor er sich schließlich in sein Schwert stürzt.

Im Prinzip unternimmt Tolkien hier eine Nach- und zum Teil Neuerzählung eines Abschnitts des Kalevala. Die Bestandteile des Buches sind darauf angelegt, die wichtigen Verflechtungen mit Tolkiens Werk ausführlich zu beleuchten. Die Herausgeberin, die Literaturwissenschaftlerin und Tolkien-Spezialistin Verlyn Flieger, schlüsselt in ihrer Einleitung und dem abschließenden Kommentar diese Bezüge sehr instruktiv und nachvollziehbar auf. Die Geschichte von Kullervo ist zweisprachig wiedergegeben, außerdem einige Handlungsentwürfe und Namenslisten. Darauf folgen zwei kommentierte Versionen eines Vortrags Tolkiens über das Kalevala, die wohl nach dem Ersten Weltkrieg entstanden. Dies alles verdeutlicht, dass wir es bei Die Geschichte von Kullervo mit einer wichtigen Schnittstelle in Tolkiens Werk zu tun haben.

Der eine Aspekt ist Tolkiens Orientierung am Kalevala, als er seinen ersten Versuch als fiktionaler Schriftsteller unternimmt. Zwar hält sich die Geschichte überwiegend an das Epos, aber vor allem über die Orts- und Personennamen beginnt Tolkien eine eigene Nomenklatur zu entwickeln. Wahrscheinlich war das – erst seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts bekannte – Kalevala eine Inspirationsquelle für seinen Wunsch, eine Mythologie zu schaffen, die er England widmen könne, wie er in einem Brief äußerte.

Interessant ist nun, dass Tolkien das Kalevala vor allem wegen seines gänzlich unepischen Charakters interessierte. Das geht aus den beigegebenen Vorträgen hervor, in denen er das Unmoralische und Unheroische ebenso wie die ungezähmte Fabulierlust hervorhebt, die keine Rücksicht auf Konsistenzen und Wahrscheinlichkeiten nehme. Es werde nicht stringent und logisch erzählt, es gäbe keine positiven Helden und keinen tieferen Sinn, sei aber düster und tragisch. Das Kalevala sei noch nicht durch ein Korsett ethischer und literarischer Formung gegangen und führe somit eine authentischere Sprache als andere – „richtige“ – Epen.

Der zweite zentrale Aspekt ist die Auswirkung auf die Mittelerde-Erzählungen. So sind die Parallelen zu Die Kinder Húrins unübersehbar, der für Tolkien neben Beren und Lúthien zentralen tragischen Geschichte aus dem Ersten Zeitalter Mittelerdes. Auch dort gibt es mit Túrin Turambar einen tragischen Helden – jedoch ohne die finstere Persönlichkeit Kullervos –, der nach langem Umherirren in der Welt das Verbrechen des Inzests begeht und sich in sein Schwert stürzt, während Niënor, seine Schwester, in einen Fluss springt. Der Einfluss des Kalevala reicht also recht weit. In der für Die Geschichte von Kullervo entwickelten Nomenklatur verbinden sich überdies Tolkiens Versuche, Finnisch zu lernen, mit seinen ersten Überlegungen zur Elbensprache Quenya.

Der umfangreiche Apparat, der in dieser Ausgabe die Geschichte umgibt, macht klar, dass das Zielpublikum Tolkienforscher und -aficionados sind, die sich eingehender mit der Entstehung Mittelerdes beschäftigen wollen. Das gilt hier in noch höherem Maße als für die Ausgabe von Beren und Lúthien. Für das Verständnis und die Entwicklung von Tolkiens literarischen Weltentwürfen beleuchtet dieses Buch gleichwohl einen zentralen Punkt, an der Nationalepik und Privatmythologie ihre Wege kreuzen.

Titelbild

J. R. R. Tolkien: Die Geschichte von Kullervo.
Herausgegeben von Verlyn Flieger.
Übersetzt aus dem Englischen von Joachim Kalka.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2018.
240 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783608960907

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch