Tristan is not dead

Robert Schöller und seine Kolleg*innen blicken in den Maschinenraum der Mythosmaschine „Tristan“

Von Stefan SeeberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Seeber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mediävalismus ist das (mediävistische) Schlagwort der Stunde. Spätestens seitdem Richard Utz 2017 sein Medievalism. A Manifesto veröffentlicht hat, ist das Fortleben mittelalterlicher Stoffe unter neuzeitlichen Rezeptions- und Produktionsbedingungen wieder im Mittelpunkt auch der germanistischen Überlegungen angelangt. Während für das Nibelungenlied die vor allem deutsche (und in Teilen höchst problematische) Dimension des Mediävalismus zentrales Thema ist, bietet der Tristanstoff wesentlich breitere, europäische Perspektiven. Das macht ihn besonders attraktiv für eine kulturwissenschaftlich orientierte Germanistik, die auch über den Tellerrand der eigenen Disziplin zu schauen wagt. Der Tristan als europäische Ursprungserzählung von leidvoller Liebe (so liest ihn Denis de Rougement) ist deshalb ideal dazu geeignet, Phänomene der Konstanz und Variation in der Beschäftigung mit dem immer aktuellen Themenkomplex von Liebe und Betrug neu zu beleuchten.

Der Titel des Sammelbandes, tristan mythos maschine, ist Heiner Müller entlehnt. Robert Schöllers luzide, kenntnisreiche und wunderbar lesbare Einleitung zum Buch breitet das Spektrum der Deutungs- und Nutzungsmöglichkeiten dieses Mythos und seiner immer neuen Nutzungsmöglichkeiten vor der Leserschaft aus. Ausgehend von Rainer Warnings pointierter und zu Widerspruch herausfordernder Tristan-Lektüre (Die narrative Lust an der List. Norm und Transgression im Tristan) erarbeitet Schöller die Eckpunkte der Beschäftigung mit dem Tristanstoff in Literatur, Film, Hörspiel und bildender Kunst. Besonders die Fassung Gottfrieds von Straßburg wird zum Kristallisationskern einer Mythenadaptation, die im 19. Jahrhundert mit Richard Wagners neuer Fassung der Thematik eine eigene, das 20. Jahrhundert bestimmende Ausprägung erfährt: „Der Tristan […] legt mit Wagner seine mittelalterlichen Kleider ab und macht sich auf den Weg in die Moderne.“

Was den Stoff so attraktiv für moderne Künstler*innen macht, wird in Schöllers Einführung zum Band besonders klar herausgestellt: Die bereits bei Gottfried angelegte Individualität der Figuren, die sich gegen die gesellschaftlichen Regeln stellen, ist ebenso wichtig wie die tragische Dimension einer Liebe, die sich nicht in gegebene gesellschaftliche Muster zu fügen vermag. Die Debatte darüber, ob dem Tristanstoff Tragik innewohne, wird durch das Buch neu angestoßen werden, nachdem bereits Regina Toepfer (Höfische Tragik: Motivierungsformen des Unglücks in mittelalterlichen Erzählungen) entsprechende Untersuchungen zu Gottfrieds Text angestellt hat. Hier wird durch den Blick auf die longue durée des Stoffes die tragische Potenz in ihrer jeweiligen Ausgestaltung deutlicher greifbar.

Die Eröffnung des Sammelbandes ist damit fulminant; auch die Ankündigung, dass durchaus bewusst gehalten werde, wie sehr jede Aktualisierung des Mythos „notwendig subjektiv“ bleibe, macht deutlich, dass die Stoßrichtung dieses Buches innovativ ist. Der Anspruch ist, die Tiefengrammatik des Mythos, der immer noch operierenden „Tristan-Mythosmaschine“ aufzuzeigen. Programmatisch setzt Ulrike Draesner dies in ihren beiden Gedichten zur Einführung um. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Tristan-Mediävalismus wird hier um eine künstlerische Perspektive bereichert, die eine eigene Ausdeutung verlangt. wasserwaage mit hermelin und Isoldenerfindung decken Erzählprinzipien des Mythos auf und führen die ursprüngliche Artifizialität der in das kollektive Gedächtnis übergegangenen Mythen von Tristan, Isolde und Marke vor Augen. Damit machen sie zweierlei deutlich: erstens, dass die Beschäftigung mit dem Stoff nicht abgeschlossen ist, dass sie im Gegenteil schier unabschließbar bleibt, und zweitens, dass die Subjektivität des Mediävalismus eine unhintergehbare Produktionsvoraussetzung ist, die auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den modernen Tristangeschichten mit bedacht werden muss. Denn der Mythos lagert Verstehensschichten an, die berücksichtigt werden müssen, will man der Intention der Künstler*innen gerecht werden. So bringt jede Zeit ihren eigenen Tristan hervor – ihn im Spannungsfeld von Innovation und Tradition zu deuten, ist die Herausforderung eines akademischen Mediävalismus, der sich nicht in Folklore erschöpft, sondern seinen Gegenstand ernst nimmt.

Schöllers Einführung und Draesners Lyrik folgen 15 Einzelbeiträge, die eine Bandbreite vom 19. bis ins 21. Jahrhundert abdecken und die neben Oper, Drama, Roman und Comic auch den Film als mediävalistisches Medium berücksichtigen. Diese Bandbreite an Aufsätzen kann kein einheitliches Bild der „Mythosmaschine“ zeichnen, sondern will vor allem die Varianz und Variabilität ausstellen, die mit der Aktualisierung des Stoffes untrennbar verbunden sind. Damit einher gehen auch unterschiedliche Vorstellungen sowohl davon, wie der Mythos zu verstehen ist, als auch davon, wie die Maschine funktioniert, die ihn immer weiter reproduziert und neu produziert. Dieses Verständnis reicht vom Versuch des bloßen Motivabgleichs bis hin zur produktiven Auseinandersetzung mit dem Mythos. Einen Motivabgleich unternimmt Michelle Koch für Louis Malles Film Damage, Ulrich Barton bietet eine Motivgeschichte der Minnegrotte in der Literatur bis zur Gegenwart. Motivzitate in Form von Namensnennung finden sich beispielsweise, wenn der deutsche Flüchtlingshelfer in Jenny Erpenbecks Roman Gehen, ging, gegangen einen seiner Schützlinge Tristan nennt, weil er ihn als ellende begreift – das arbeitet Janina Dillig in ihrem Aufsatz heraus. Motivzitate sind aber auch als Klangmotive zu finden wie in Luis Buñuels L’Âge d’Or mit seiner Verwendung des Liebestod-Motivs aus Wagners Tristan im Kontext einer erotisch aufgeladenen Paarszene, die nicht zur erhofften Vereinigung der Liebenden führt (analysiert von Andrea Laquidara).

Wolfgang Schmitt macht für Lars von Triers Melancholia die produktive Rezeption des Todestriebs in Wagners Oper als wesentliches poetisches Moment geltend, Ingrid Bennewitz stellt für das Brangäne-Hörspiel Herbert Rosendörfers hingegen die ironisch-distanzierte Wagner-Rezeption heraus, welche die Oper auch an ihren mittelalterlichen Stoffgrundlagen misst. Simone Brandes zeigt für Salvador Dalís Tristan fou auf, wie sehr Dalí Wagners Tristan mit seiner eigenen Person verbindet, um ein „imaginäres surrealistisches Kopftheater“ zu kreieren, und Marco Canani führt eindrucksvoll vor Augen, wie sich Charles Swineburnes Tristram of Lyonesse im Angesicht der grassierenden Tristanrezeption des 19. Jahrhunderts um die authentische Rückführung des Stoffes hin zu seinen mittelalterlichen Quellen bemüht – und dabei deshalb scheitern muss, weil auch seine Bearbeitung Kind ihrer Zeit und ihrer Entstehungsumstände ist.

Besonders beeindruckt Julian Reidys Analyse des „memory contests“ zwischen Will Vespers Tristan-Roman von 1911 und der Reisebeschreibung seines Sohnes Bernward, die posthum 1977 erschienen ist: Reidy zeigt deutlich auf, wie der Vater Vesper den Stoff völkisch-nationalistisch besetzt und im Sinne der Volkserziehung aufbereitet, während der Sohn Vesper die Bemühungen seines Vaters unterläuft und den Stoff zeitgeschichtlich neu auflädt, indem er ihn subjektiviert und mit seiner eigenen psychischen Disposition kurzschließt. Hier wird am Beispiel erfahrbar, wie die „tiefgreifenden erinnerungskulturellen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts“ den Umgang mit dem Stoff formen. Kritisch anzumerken ist allerdings, dass Will Vesper, anders als von Reidy dargestellt, mit den Helden des Eilhart’schen Tristrant und auch mit Bérouls Romanfragment durchaus eine heroische Kämpferfigur Tristan zum Vorbild nehmen konnte, die sich weit mehr als Gottfrieds sinnierender Held zur nationalistischen Vereinnahmung eignete; Vesper allein an Gottfried zu messen, wird seiner Intention deshalb nicht gerecht.

Einige Aufsätze erscheinen bei der Lektüre hingegen eher unaufgehoben im Kontext des Bandes, das gilt bereits für den ersten Beitrag von Martina Heer und Livio Janett zur Geschichte des Namens Tristan. Gottfrieds Werk bietet eine lateinische Herleitung des Namens von tristis, die sich gegen den keltischen Ursprung des Namens positioniert. Hier und auch in der weiteren Stofftradition geht es um die Assoziation des Helden mit dem Schicksal des Unglücklichen (dem er bei Gottfried im Übrigen entgehen will, indem er sich als triureloser Tristan imaginiert, eine Art contradictio in adiecto, die am Ende des Fragments formuliert wird, V. 19.464). Aber diese Benennung hat keinerlei Zusammenhang mit der offensichtlich durch populäre Filme mit Schauspielern wie Brad Pitt befeuerten temporären Beliebtheit des Vornamens Tristan im anglophonen Raum, die in keinem Verhältnis zum Tristanstoff steht.

Auch Albrecht Classens Relektüre der Forschungsgeschichte zu Denis de Rougements Die Liebe und das Abendland (1939) überrascht, weil sie gerade nicht die in diesem Kontext eigentlich zu erwartende Mythopoetizität des Stoffes in der Darstellung de Rougements thematisiert, sondern im Gegenteil de Rougements essayistischen Stil der Bearbeitung und seine problematischen Bewertungskategorien noch einmal als disqualifizierende Elemente aus Sicht der Tristanphilologie herausstellt.

Durch Yahya Elsaghes Analyse der Tristan-Novelle Thomas Manns scheint ein Riss zu gehen: Im ersten Teil der Arbeit wird in hervorragender Weise die erzählerische Umsetzung des Wagner’schen Librettos in Gabriele Klöterjahns Klavierinterpretation vorgeführt. Danach wendet sich Elsaghe jedoch dem Antisemitismus Manns zu, der der neuen Isolde (Gabriele Klöterjahn) gerade keinen neuen Tristan an die Seite stellt, sondern den „bloß aus Lemberg“ gebürtigen Spinell, an dessen Exemplum Elsaghe Wagners antisemitisches Pamphlet vom Judentum in der Musik in der Novelle umgesetzt sieht. Die Leerstelle Tristan, die Elsaghe auf diese Weise herauspräpariert, wird aber nicht mit dem Stoff und seiner Neubearbeitung durch Mann in Zusammenhang gebracht, die Frage nach dem Warum der antisemitischen Neucodierung des Helden als Anti-Held wird nicht gestellt.

Verdienstvoll an der „Mythosmaschine“ ist, dass sie neben Oper, Film, Literatur und Hörspiel auch Illustration und Comic mit in ihr Analysespektrum einbezieht. Die kurzen, aber pointierten Ausführungen von Georg Hofer und Mariana Scheu zu Alfred Kubins Titelillustrationen von Manns Novelle heben deutlich den Stellenwert der Abbildung als „eigenständige[…] bildkünstlerische[…] Auseinandersetzung“ mit dem Stoff hervor. Und Matthias Däumers Beitrag zu Tristan im Comic, der den Band beschließt, zeigt klar auf, wie sehr das Medium den Gegenstand mit formt, den es transportiert: Indem Däumer die Comics nicht auf ihre Nähe zum mittelalterlichen Mythos hin befragt, sondern sie im Gegenteil als eigenständige Adaptionen ernst nimmt, vermag er zu zeigen, dass das Tristanmotiv in diesem Medium neu funktionalisiert wird als Auseinandersetzung mit der Heteronormativität, die in der Gegenwart zunehmend hinterfragt wird.

Insgesamt bietet die „Mythosmaschine“ nicht nur gut lesbare, sondern auch vielseitige und inspirierende Beiträge, die bislang Unbekanntes eröffnen und neue Perspektiven auf vermeintlich Bekanntes erlauben. Einzig die explizite Anbindung der einzelnen Aufsätze an den gegenwärtigen Diskurs zu Mediävalismus und Mittelalterrezeption kommt dabei zu kurz, da die einzelnen Analysen nicht über den eigenen Gegenstand hinaus ins Allgemeine zielen. Hier hätte der einleitende Beitrag Schöllers mehr Verbindungsarbeit leisten können, um die Grammatik des Mythos als Grundlage einer lebendigen Sprache deutlicher herauszuarbeiten. Am Mediävalismus und an Tristan interessierte Leser*innen finden in diesem Sammelband vielfältige Anregung zu weiterführenden Überlegungen, und es kann mit Fug und Recht festgehalten werden: Tristan ist sehr lebendig, und er wird die Forschung ebenso wie die Kultur noch eine geraume Weile beschäftigen.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Kein Bild

Nathanael Busch / Michael Dallapiazza / Robert Schöller / Andrea Schindler / Pema Bannwart (Hg.): tristan mythos maschine. 20. jh. ff.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2020.
306 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-13: 9783826072208

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch