Gefährliches Spiel mit der Wahrheit

Ilija Trojanows Roman „Doppelte Spur“ durchleuchtet die Welt der Oligarchen und Whistleblower

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwei Whistleblower setzen sich nahezu gleichzeitig mit dem investigativen Journalisten und Autor Ilija in Verbindung – der eine mit brisanten Materialien aus der östlichen, der andere mit nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Dokumenten aus der westlichen Hemisphäre. Alle ihm zugespielten Materialien enthüllen Machtmissbrauch, Korruption und kriminelle Verbindungen, die bis hinauf zu den beiden Präsidenten der Weltmächte reichen – „Schiefer Turm“ nennt Ilija den amerikanischen, „Mikhail Iwanowitsch“ den russischen.

Aber was erwarten die geheimnisvollen Absender der geleakten Papiere von ihm? Offenbar soll er aus dem Durcheinander der vielen Dokumente eine „plausible Erzählung“ destillieren und mit dieser an die Öffentlichkeit gehen. Aber ist das nicht ein bisschen viel verlangt angesichts der Fülle an Materialien, die ihm da zugespielt wurden? Und wie zuverlässig ist das Material, über das er da plötzlich gebietet? Weiß Ilija doch ganz genau: „Wir leben im Sternzeichen der Leaks. Nicht Flüsse, nicht Bäche, kein klares Wasser, kein sichtbarer Grund. Nur undichte Stellen. Deichbrechende Leaks, politisch relevant, diskursiv einflussreich; verdunstende Leaks, manipulative Leaks, phantasmagorische Leaks.“

Mit seinem zuletzt erschienenen Roman Macht und Widerstand (2015) hat Ilija Trojanow die Geschichte zweier Männer vorgelegt, die aus Antipoden im sozialistischen Bulgarien zu Antipoden nach dem Systemwechsel 1989/90 wurden. Fazit des gut recherchierten Buches: Während sich die einen immer auf der Seite der Macht finden, egal wie sich das System nennt, unter dem die sich etabliert, bleibt den anderen nichts übrig als zu revoltieren, Widerstand zu leisten. Doppelte Spur, fünf Jahre später erschienen und ebenfalls unter der Genrebezeichnung ‚Roman‘ angetreten, setzt diese Argumentation fort, indem es den Reporter Ilija Trojanow – gleichnamiges Alter Ego des Romanautors – auf eine globale Verschwörung treffen lässt, die sich nicht mehr aus der klassischen Ost-West-Konfrontation des vergangenen Jahrhunderts erklären lässt.

Mühsam versucht Ilija, sich in den Dokumenten zurechtzufinden, sie einer Ordnung zu unterwerfen, aus der sich dann vielleicht die erwartete Geschichte von ganz allein ergeben würde. Doch er braucht Hilfe und findet sie schließlich in Gestalt des amerikanischen Wirtschaftsjournalisten Boris und der über Kindesmissbrauch in der Geldaristokratie recherchierenden Emi. Im steten Austausch miteinander sichtet man die Materialfülle. Was sich dabei immer deutlicher herausschält: Wo es um die ganz großen Geschäfte geht, um Geld in kaum mehr vorstellbaren Größenordnungen, um globalen Einfluss und Macht, die sich nicht mehr eingrenzen lässt, ist es letzten Endes egal, ob man sich Demokrat oder Liberaler nennt, seine politische Position links, rechts oder in der Mitte sieht – „Politik ist für mich strukturelle Gewalt, die es zu entlarven gilt“ und der Rechtsstaat dabei nicht mehr als ein „Beuteverteidigungssystem“, argumentiert Ilija im Roman –, denn alles ist mit allem verwoben, amerikanische Millionäre mit russischen Oligarchen, Politiker und Mafiosi, Showbusiness und Unterwelt, Finanzkapital und Geheimdienste.

Die Frage, die für Trojanows Protagonisten immer dringlicher wird, lautet freilich: Kann man auf die Wahrheit der übermittelten Informationen überhaupt vertrauen und welches Risiko geht man ein, wenn man seine Erkenntnisse der Öffentlichkeit zugänglich macht? Dass ihr Tun – Ilija und Boris arbeiten an entlarvenden Büchern, Emi, mit der den Erzähler alsbald eine Liebesgeschichte verbindet, an einem Dokumentarfilm – nicht ungefährlich ist, merken die Rechercheure spätestens, als ein von ihnen beauftragter Detektiv, der den wahren Arbeitsort der sich DeepFBI nennenden amerikanischen Quelle eruieren soll, wenig später tot aufgefunden wird. Deshalb zieht sich Ilija nach der Veröffentlichung seiner Recherchen auch an einen sicheren Ort zurück, ein „selbstverwaltetes Dorf am Rande des Urwalds“.

Von hier aus beobachtet er „die um sich greifende Kakistokratie“ und kommt zu dem Schluss, dass in der politischen Gegenwart „die Wahrheit der Macht schutzlos ausgeliefert ist.“ Was kann man tun, um diesen Zustand zu ändern? Ilija ist sich sicher, dass es mit Aufklärung allein nicht getan ist und Transparenz  letztlich ein utopisches Ziel bleibt. Stattdessen braucht es mehr „Menschen, die sich aufbäumen“ gegen all jene, die „Unsicherheit […] verbreiten, bis einzig dem eigenen Propheten vertraut wird.“ Ob das aber nicht nur ein schöner Traum ist, vermag der Journalist nicht zu beantworten.

Ilija Trojanow hat (vielleicht zu) viel in sein neues Buch hineingepackt. Pizzagate und Jeffrey Epstein (unter dem Namen Geoffrey Wasserstein), Trump-Tower und aus der kollabierenden Sowjetunion noch während und nach der Gorbatschow-Zeit auf illegale KGB-Konten in aller Welt überwiesenes Volksvermögen („Die Große Vaterländische Plünderung“), Wahlfälschungen und Privatisierung von Geheimdiensten, Schmuggel von bedrohten Tierarten und organisierten Kindesmissbrauch. All das liefert ein erschreckendes Bild unserer heutigen Welt, in der Wahrheit und Lüge, Original und Fake oft nicht mehr auseinanderzuhalten sind. Ein Zustand, gegen den der Autor, ursprünglich zu seinen immer umfangreicher werdenden Recherchen inspiriert durch das „Phänomen Trump“, nicht erst mit Doppelte Spur Sturm läuft. „Warum empören wir uns eigentlich nicht mehr darüber?“, lautete seine Frage dazu in einer Sendung des Deutschlandfunks Kultur vom 27. Juli 2020. Er selbst hat seine Empörung in die gut 240 Seiten dieses Buches hineingeschrieben. Eines Buches, das als ‚Roman‘ im klassischen Sinne freilich nicht so richtig funktionieren will.

Titelbild

Ilija Trojanow: Doppelte Spur. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2020.
288 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783103900057

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