Berichte aus dem Schlachthaus Warschau

Szczepan Twardoch imaginiert ein blutiges Warschau 1937

Von Karl-Josef MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karl-Josef Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Szczepan Twardochs Roman mit dem deutschen Titel Der Boxer bedient eine Fülle von Klischees. Das Buch ist bevölkert von allerhand brutalen Kriminellen, korrupten Politikern, treuen Ehefrauen und Huren jeden Alters. Menschen werden auf jede erdenkliche Art gequält und geschlachtet, eine Zwölfjährige wird vergewaltigt, ein orthodoxer Jude geschächtet und gevierteilt. Twardoch spart nicht mit Blut und Sperma, seine Helden gieren nach Sex unterschiedlichster Spielarten ebenso wie nach Alkohol, Nikotin und Kokain – ein Unterwelt-Thriller mit historischem Hintergrund, der Roman spielt im Jahr 1937 in Polens Hauptstadt Warschau.

Der grassierende polnische Antisemitismus ist jederzeit präsent, besonders anschaulich im Boxkampf zwischen dem Juden Shapiro und dem Faschisten Ziembiński, den der Jude gewinnt. Die jüdische Bevölkerung wohnt in ihrem eigenen Stadtviertel, von großen Teilen der polnischen Bürger verachtet. Nicht so von Jan Kaplica, dem Paten, für den Shapiro das Schutzgeld eintreibt und der schließlich ein grausames Ende finden wird. Shapiro wird ihn beerben, der Boxer wird zum König, im Polnischen Król, so auch der Originaltitel des Romans.

Bedenkenlos zeichnet Twardoch dabei ein Bild dieser polnischen Mafia nach amerikanischer Vorlage. Gegen Ende des Romans fantasiert Jakub Shapiro ein mögliches alternatives Leben in New York, als Gehilfe von Meyer Lansky, von der Presse in den USA damals – fast schon bewundernd – als Boss der Bosse bezeichnet: „Und Lansky suchte starke Juden, Jakub wäre ideal, ohne Beziehungen, ganz auf sich allein gestellt und somit absolut loyal. Er hätte also die gleiche Arbeit gehabt wie in Warschau, genauso schöne Autos und Anzüge.“

Deutsche Leser haben es nicht ganz leicht, sich in dieser Umgebung zu orientieren. Der Übersetzer Olaf Kühl skizziert im Nachwort den historischen Hintergrund des Romans. Anstelle eines Glossars, so die Überschrift dieser knapp fünf Seiten. Wir hätten uns ausführlichere Erläuterungen gewünscht – einerseits. Andererseits hat Twardoch einen Roman geschrieben, keine historische Abhandlung. Die Geschichte Polens seit seiner Neugründung 1918 ist so komplex, dass selbst ein umfassenderes Nachwort an der Aufgabe scheitern müsste, eine deutsche Leserschaft mit ihr vertraut zu machen. Dennoch gelingt es Twardoch, den Leser trotz mancher Verständnislücken in den Bann zu ziehen.

Die Fassade des Mafia-Thrillers wird wiederholt durch längere irritierende Textpassagen oder Bemerkungen unterbrochen, die nicht in das vermutlich so eindeutig gezeichnete Bild passen wollen. Die scheinbar festgefügte Identität des Ich-Erzählers wird gleichzeitig immer wieder in Zweifel gezogen, besonders deutlich in der Bemerkung „Vielleicht war ich jemand anders.“

Zunächst scheint es so, als handele es sich beim Ich-Erzähler um den Sohn des von Shapiro ermordeten Naum Bernstein. Nach dieser Lesart lässt Shapiro dem Siebzehnjährigen eine Karte für den bereits erwähnten Boxkampf zukommen. Anschließend fordert er den Jungen auf, ihn zu begleiten. Ab diesem Moment wird Mojżesz Bernstein zum Schatten des von ihm verehrten Boxers. Der aufmerksame Leser allerdings kann sich nie sicher sein, ob es wirklich Mojżesz ist, der hier erzählt.

Angeblich sitzt Mojżesz fünfzig Jahre nach den im Roman geschilderten Ereignissen in Tel Aviv vor seiner Schreibmaschine Marke IBM Selctric II. In Israel hat er den Namen Mosch Inbar angenommen, war Kämpfer der Hagana und General, wird nicht mehr gebraucht und blickt nun schreibend auf seine Zeit in Warschau zurück. Diese Identität wird mehrfach leitmotivisch beglaubigt. Mosch Inbar, alias Mojżesz Bernstein, schaut aus dem Fenster seiner Wohnung und beobachtet  die immer gleiche Straßenszene in Tel Aviv:

Ich habe genug vom Schreiben. Stehe von der Maschine auf. Trete ans Fenster. Dasselbe Bild wie immer. Ein arabischer Junge schiebt ein Wägelchen […]. Ich habe ihn hier schon gesehen. […] Am Zeitungskiosk raucht ein Orthodoxer ein Zigarette […]. Ein Mädchen in Uniform geht an ihm vorbei, über der Schulter ein schwarzes Gewehr, der Lauf zeigt nach unten.

Andere Textstellen wiederum sähen Zweifel an der Identität des Ich-Erzählers, der Leser weiß lange Zeit nicht, was oder wem er glauben kann.

Shapiro, der Boxer und spätere König der Warschauer Unterwelt, strotzt geradezu vor Selbstsicherheit. Nach dem Boxkampf kleidet er sich mit höchster Sorgfalt: „Der Boxer zog die eleganten Schuhe an und schnürte sie zu, öffnete die Schublade und nahm die Armbanduhr heraus – Marke Glashütte, wie ich später feststellte.“ Er trägt die teuersten Anzüge, fährt einen amerikanischen Straßenkreuzer und ist selbstverständlich immer bewaffnet.

Dies ist die eine Seite von Jakub Shapiro. Die andere benennt der bekannte jüdische Journalist Bernard Singer. Singer ist eine von vielen historischen Figuren, die Twardoch in seinem Roman auftreten lässt: „Er erwarb den Ruf eines herausragenden politischen Kommentators und Berichterstatters aus dem Sejm. Er galt als bestens informierter Journalist und schrieb zweiwöchentlich politische Rundschauen, Reportagen und Feuilletons.“ Dieser Singer, dessen Feuilletons die Mutter des Ich-Erzählers „vergötterte“, hat Shapiro in einem seiner Artikel als einen „‚Banditen, der den Sportler mimt‘“ gekennzeichnet. Ein durchaus treffendes Bild, das Shapiro allerdings nicht hinnehmen kann. Er spricht den Journalisten in dessen Stammlokal an, und als dieser ihm nicht antwortet, hat das entsprechende Folgen:

‚Herr Singer?‘, fragte Shapiro. Singer musterte Shapiro von Kopf bis Fuß mit einem Blick voller Verachtung, antwortete nicht, drehte sich zur Bar und trank sein Bier weiter. ‚Herr Singer, wir müssen reden‘, sagte Shapiro. Singer reagierte nicht. ‚Na, dann eben nicht …‘ Jakub zuckte bekümmert mit den Schultern und schmetterte Singers Kopf auf die Theke.

Shapiro weigert sich, seine zwiespältige Persönlichkeit als Boxer und Bandit zu akzeptieren. Er möchte mit Singer auf Augenhöhe reden, er möchte eine Erklärung, warum dieser ihn kriminalisiert – was ja absolut der Wahrheit entspricht. Die Szene zeigt die ganze Zerrissenheit dieses Charakters. Er will selbst bestimmen, wer er ist und wie er wahrgenommen wird, dabei ist er letztlich ein Getriebener, ein König auf Zeit und ein Gewaltverbrecher, der schließlich seine Frau und seine Kinder verraten wird.

Twardoch spielt mit literarischen Genres und Klischees, besonders seine scheinbare Verherrlichung brutaler Gewalt erinnert an die Filme von Quentin Tarantino. Und wie bei Tarantino gelingt es dem Leser kaum, gegenüber dieser Gewalt so etwas wie Abscheu zu entwickeln. Der Boxer Shapiro hat Blut an den Händen – und bleibt dennoch aufgrund seiner Zerrissenheit eine beinahe liebenswerte Figur.

Gewalt erscheint in Twardochs Roman aber auch als unbändiger Hass gegen die jüdische Bevölkerung. Eine der eindrucksvollsten Szenen des Buches schildert, wie rechtsradikale Schläger zwei jüdische Händler fast zu Tode prügeln:

Den ersten, den mit Eimern handelnden Samuel Gerschom, verprügelten die Burschen mit den Stielen von roten Fahnen, brachen ihm den Arm und schlugen ihm zwei Vorderzähne aus. […] Als sie schließlich, nachdem sie ihm die Zähne, Geld und Ware geraubt hatten, von ihm abließen, dankte er still dem Allmächtigen, mit stummen blutigen Lippen, und schlich sich vom Kercelak in seine Wohnung in der Gęsia.

Der zweite Jude, ein Änderungsschneider, sieht die Schläger auf sich zukommen, möchte aber noch vor seiner Flucht den Auftrag seiner Kundin erledigen: „Jósef war fast fertig, als das Geschrei und die Warnrufe einsetzten. Jósef ließ seinen Auftrag nicht einfach liegen.“ Als er sich, nachdem er seinen Auftrag erledigt hat, zur Flucht entschließt, misslingt dies, weil er sich nicht von seiner Singer-Nähmaschine trennen kann, der Grundlage seiner materiellen Existenz:

Aber er konnte die Maschine nicht aufgeben. Er ließ das Wägelchen, griff sich nur den Koffer mit der Singer, doch die Flucht gelang ihm nicht. Sie erwischten ihn an der Ecke Chłodna, schlugen ihn bewusstlos, brachen ihm die Nase, den Unterkiefer und fünf Rippen, spendierten ihm eine Gehirnerschütterung und eine innere Blutung.

Szczepan Twardoch hat einen lesenswerten Roman geschrieben, der sich den Teufel um politische Korrektheit schert und stattdessen ein vielschichtiges, sarkastisches und oft quälendes Bild menschlicher Abgründe zeichnet. Wie in dem bekannten Erich-Kästner-Gedicht bleibt am Ende auf die Frage nach dem Positiven im Sinne des Guten und Schönen wohl nur eine Antwort: „‚Herr Twardoch, wo bleibt das Positive?‘ Ja, weiß der Teufel, wo das bleibt.“

Titelbild

Szczepan Twardoch: Der Boxer. Roman.
Übersetzt aus dem Polnischen von Olaf Kühl.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2018.
463 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783737100083

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