Zwischen Tradition und Reformation, Selbst- und Fremdbestimmung
Henrike Lähnemann und Eva Schlotheuber schreiben über Nonnen im späten Mittelalter, über „Unerhörte Frauen“ und ihre Netzwerke der Liebe
Von Rahel Micklich
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseScito quod nullis amor est medicabilis herbis – „Wisse, gegen die Liebe ist kein Kraut gewachsen!“ Nicht gegen die der Fürsorge für Kranke und Sterbende, um die sich die Lemgoer (Lüneburger, Medinger, Derneburger …) Nonnen liebevoll gekümmert haben, nicht gegen die, die sie allererst in Bewegung gesetzt hat; aber auch nicht gegen die, mit der dieses Buch verfasst worden ist und die auch seine Leser ergreift, die sich darauf einlassen. Diese (dem besprochenen Titel entnommene) um 1350 zu Zeiten der Pest entstandene Aussage aus einer medizinischen Handschrift des Dominikanerinnenklosters Lemgo reflektiert in mehrfacher Hinsicht, worum es im und dem Buch der beiden Autorinnen, renommierte Professorinnen aus Oxford und Düsseldorf, geht: Um viele Dinge, beeindruckend viele – „aber die Liebe ist die größte unter ihnen“.
Dass es gelungen ist, (nicht nur) Äbtissinnen und Priorinnen als leistungsstarke Führungskräfte bei der effektiven Organisation ihrer Klöster – heutigentags würde man von Unternehmen mittlerer Größe sprechen – samt der für sie nötigen Netzwerke materialreich und lebensnah in den Blick zu bringen, (re)präsentiert die wissenschaftlich greifbare Außenseite monastischen Lebens, im Falle dieses Buches: Nonnenlebens. Denn das Außen, auch das der Gedanken, das etwa in den Tagebuchnotizen einer ihren Namen nicht preisgebenden Zisterzienserin zum Ausdruck kommt, ist das Bewegte dessen, was die Welt der Nonnen bewegt, findig und emsig Leben organisieren lässt: ihr Glaube, der Geschenk ist.
„Aber mit Gottes Hilfe und durch die Intervention Mariens“ sei nichts passiert, „aber ich ermahne diejenigen, die das hier lesen werden, damit sie sich vorsehen, dass sie nicht in ähnliche Gefahren laufen“ (das Laster der Neugierde hatte sich breit gemacht), heißt es, als die Schwestern von Heilig-Kreuz ihre klösterliche Klausur abgeschiedenen Lebens von der Welt wegen eines erzwungenen Umzugs ins städtische ‚Exil‘ Braunschweigs nicht mehr in gewohnter Manier fortzusetzen vermochten. Was sich in und mit diesen religiösen ‚Unternehmen‘ ereignet, organisatorisch ad extra, aber auch kulturell im Rahmen von Bildungsprozessen und handwerklichem Geschick, kommt nicht allein kenntnisreich und oft überraschend in den Blick – das Wissenssystem des überwältigenden Heininger Philosophenteppichs verrät auf Aristoteles und Boethius zurückgehende spekulativ-chartresische Züge! –, sondern erschließt neue Horizonte des Sehens, nicht nur für den interessierten Laien, sondern durchaus auch und vielleicht gerade für den (vermeintlichen) Experten.
Ein Highlight bildet Kapitel II zur klösterlichen Ausbildung der Mädchen und Frauen, in dessen intellektuellem Zentrum der genannte Teppich steht, den die Nonnen, Novizinnen und Laienschwestern höchstselbst angefertigt haben. Beeindruckend, wie Elisabeth Pawel, Äbtissin von Heilig-Kreuz, sich den (auch) bildungsreformierten Ideen der Kollegin aus Derneburg selbstlos und uneitel zu öffnen verstand, obwohl diese insbesondere auf die jüngeren Nonnen mächtig Eindruck gemacht hatte. Doch ist das längst nicht alles: Noch etliche weitere Artefakte aus den Manufakturen der ‚Bräute Christi‘ werden in Bild und Schrift vorgestellt. Sie stellen neben den (Ausführung und Gestaltung des Buches ermöglichenden) einzigartigen handschriftlichen Textzeugen wie dem zitierten Konventstagebuch, Andachtsbüchern und einer ungewöhnlichen Sammlung von etwa 1800 Briefen wahre Höhepunkte dieser selbst einzigartigen Publikation dar.
Struktur und Gemeinschaft bilde(te)n die Grundlage für Tradition und Reformation auch der Nonnenklöster, wobei der Aspekt der Reformation stets in den maßgeblichen Horizont der Tradition eingezeichnet erscheint: „Der Tag im Kloster war durch das Stundengebet, die sieben monastischen Horen, strukturiert, in denen vor allem die Psalmen rezitiert wurden.“ Die den liturgischen Tag eröffnende Vigil oder auch das Tagwerk beschließende Komplet verkörpern die symbolisch aufgeladene Dimensioniertheit so stabilisierter Tagesabläufe, die der Frömmigkeitspraxis der Schwestern den Gang der Heilsgeschichte verlässlich vergegenwärtigen. In ihnen mochte sich nun ereignen, was sich ereignet. Und was man tat, tat man nicht nur für sich, die eigene heilsverbürgende Gottesbeziehung, sondern für die ganze Welt. Der Mönche und Nonnen Gottesdienst war „zentral für die Errettung der Menschheit“, denn „sie waren […] Expertinnen des Immateriellen für den Bedeutungsraum jenseits der materiellen Welt“. Was für den Tagesablauf galt, galt mutatis mutandis für die Gestaltung des Jahres (und so des ganzen Lebens), „die von der liturgischen Wiederkehr der Ereignisse der Heilsgeschichte bestimmt wird.“
Dass das Symbolische nicht nur leer signifizierte, sondern Realität referierte, zeigt die Ebstorfer Weltkarte, deren Zentrum Jerusalem bildet und die das eigene Kloster bescheiden am Rande loziert. Sie wurde im 14. Jahrhundert im Benediktinerinnenkloster von den Ebstorfer Nonnen (und auch hier wieder: höchstselbst) angefertigt. Leider verbrannte sie im Zweiten Weltkrieg. Deren Karte war ihr Weltbild, ihr Weltbild deren Karte. Diese heute befremdlich anmutende Tatsache ermöglichte ihnen aus der Klausur heraus das ‚statische Reisen‘. So schrieb im 15. Jahrhundert ein Kartäusermönch den Dominikanerinnen von St. Katharina in Nürnberg eine Anleitung, „wie sie mithilfe einer Karte, eines Stechzirkels und des Vaterunsers im Geiste nach Jerusalem reisen können, ohne die Zelle zu verlassen. Sie sollten auf der Karte die Entfernung mit Stechzirkel am Meilenmaßstab ablesen und pro Meile ein Vaterunser beten, dann würden sie, wenn sie sich bis nach Jerusalem gebetet hätten, die gleichen Ablässe erhalten, die für Pilger ausgesetzt waren“.
Das Eine, das Alles zusammenhält, das Innen, das das Außen, auch das innere Außen der Gedanken, bewegt, kommt in diesen wie in anderen Fällen verblüffend anregend zur Sprache, indem schlicht mitgeteilt wird, worin ‚es‘ sich ausspricht, weil man es besser (und wohl überhaupt erst) erkennt, wenn das Wort Fleisch, der Glaube Tun und Tat wird. Im Buch geht es entsprechend facettenreich um die Liebe zu Gott und den Mitmenschen. Dem Buch um die Liebe, sie in ihrer mannigfaltigen Gestalt zur Sprache zu bringen. So bilden die ‚Gegenstände‘, von denen es handelt, die Erfahrungen und Bewährungen der Nonnen – eine Geschichte, die mehr ist als Geschichte, mehr auch als nur ein, wie es im Jargon jetzt heißt, ‚Narrativ‘: eine teilgebende nämlich, weil teilhabende Geschichte. Das ganze Buch ist voll davon.
Die so mitgeteilte Wirklichkeit, von der die Autorinnen souverän, strukturiert und inspiriert handeln, ist nicht nur informativ, sondern kommunikativ. Verbunden sind so Räume und Zeiten, die das gnadenlose Gesetz der Zeit zwar ‚trennt‘, die im Grunde jedoch ‚gnädig‘ immer noch verbunden sind. Dies gilt nicht nur für die Konvente, die pars pro toto repräsentieren, was über sie hinaus von Bedeutung ist: „Die Gemeinschaft der Lebenden und Toten überschritt die Zeitgrenzen durch die memoria, eine aktive Form der Erinnerung, durch die sich die lebenden und verstorbenen Konventsmitglieder über die Jahrhunderte vereinten.“ Verhielte es sich anders, fielen sie, die Räume und Zeiten, kontakt-, ja sinn- und verständnislos auseinander, denn jede Zeit referierte nur noch sich selbst. Dann aber wäre uns Vergangenes jenes „Buch mit sieben Siegeln“, von dem Johann Wolfgang Goethes Faust seinem Famulus zu verstehen gibt. Kommunikation erübrigte sich. Nicht so hier.
Das Ausgeführte vermittelt Wirklichkeit, die anspricht, die den Leser in seiner Gegenwart involviert, ihm die Augen öffnet nicht allein für das, was die wissenschaftliche Expertise noch nicht oder noch nicht hinreichend in den Blick gebracht hat: die viel zu oft noch ein Schattendasein fristenden Leistungen unerhörter Frauen – hier Nonnen –, sondern auch für das, was seine eigene Gegenwart mit der präsentierten Vergangenheit verbindet. Diese hermeneutisch stets kopräsente Pointe ist keineswegs angezielt, sie ereignet sich, und zwar aufgrund des vielschichtigen Zusammenspiels der Episoden und Geschehnisse, die von den Nonnen und ihren Netzwerken, von denen die Rede ist, nicht nur gemeistert, sondern im liebenden Dienst für ihre Sache bewältigt worden sind.
Henrike Lähnemann und Eva Schlotheuber kommunizieren und wollen kommunizieren, denn ‚ihre‘ Unerhörten Frauen sind ihnen nicht egal. Und so glückt, was oft schief geht: der Spagat zwischen exklusiv informierender Wissenschaft und inkludierender Mitteilung. Das, was sie zu sagen haben, ist über jede codierte Förmlichkeit hinaus solideste Wissenschaft, der es gelingt, Wissenslücken zu füllen, Perspektiven zu öffnen und neue oder weitere Möglichkeiten der Forschung aufzuzeigen. Sie schaffen es aber auch, Wissenschaft zu treiben, die, ohne sich im Populären zu verlieren, auch diejenigen erreicht, die nicht zur Gruppe derer gehören, die sich aktiv an der Forschung beteiligen.
Nicht also werden nur Experten angesprochen, sondern auch eine breiter interessierte Öffentlichkeit. Kommen Fachtermini zum Tragen, werden sie erklärt, entweder an Ort und Stelle oder im dafür vorgesehenen Glossar: „Funktionen wie die der Priorin, der Vorsängerin (cantrix), der Kellermeisterin (celleraria) oder Schulmeisterin (magistra, scholastica).“ So erfährt man auch, worum es sich bei einer „Oblation“ oder auch einer „Domina“ handelt. Weder werden die Begriffe gemieden, noch stören sie. Im Gegenteil bilden sie einen Teil des Lernprozesses, der ohne Mühe bewältigt werden kann, um endlich mehr zu wissen – und vielleicht noch mehr wissen zu wollen. Dass all dies auf 222 Seiten gelingt, liegt nicht nur an der außergewöhnlich intimen Kenntnis der historischen Materien der Autorinnen, die nun einen Teil der Früchte ihrer jahrelangen Forschungsarbeit mit ihrer Leserschaft teilen, sondern auch daran, dass sie die bewundernswerte Gabe haben, eine Sprache zu sprechen, die gleichzeitig akribisch informiert und sensibel kommuniziert.
Kommen so Dinge in den Blick, die neue Akzente setzen, etwa Konfliktlagen im Zusammenhang mit der ‚großen‘ Reformation der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, die die eigene ‚kleine‘ des Klosters in der zweiten des 15. Jahrhunderts bedroht – nicht zuletzt in ihrer gegen etliche Widerstände selbstbestimmt durchgeführten Verwirklichung –, dann öffnet sich beinahe unerwartet eine noch einmal neu justierte Sicht auf das vermeintlich überforschte (und – dank der Frauen, der unerhörten! – doch noch Schlagseite zeigende) Phänomen der Reformation. Augenöffner dieser Art schlagen Brücken in die Gegenwart, nicht nur der Forschung, sondern auch der eigenen Lebenswelt. So können konfessionelle Vorurteile überwunden werden, wenn etwa deutlich wird, dass die Praxis der reformatio nichts ausschließlich Protestantisches war, sondern ein (ecclesia semper reformanda) Aspekt der gemeinsamen Kirchengeschichte, deren tiefausgreifende mächtige ‚Kathedrale‘ Seitenschiffe kennt, die noch viel zu wenig Beachtung gefunden haben.
Das in Kapitel V berührte Beispiel der Klosterreform der Medinger Nonnen spricht hier Bände (detailliert ausgeführt von Lähnemann in ihrem Medinger Nonnenkrieg). Deren eigene, mit größtem Elan umgesetzte Reformation sah sich nicht nur durch die ‚große‘ der 20er- und 30er-Jahre des 16. Jahrhunderts gefährdet und religiöser Fremdbestimmung ausgesetzt, sondern wurde mit aller vertretbaren Liebesmacht innigst verteidigt. Das Ergebnis war, dass die Tradition des Klosterlebens unter den neuen Bedingungen der Reformation fortgesetzt werden konnte. Ein Resultat, das die Forschung betrifft und den Leser berührt. Der errungene Fortbestand klösterlichen Lebens im institutionellen Rahmen evangelischer Frömmigkeit erlaubte es nämlich, „die singuläre norddeutsche Klosterlandschaft bis in die Neuzeit zu bewahren“. So erst wird „die geistliche Selbstbehauptung der Nonnen in den dreißig Jahren vor 1554 neu verständlich“ – mithin, wenn man in ihr die Fortsetzung ihres Engagements im 15. Jahrhundert erkennt, die sich in Treue zur Tradition der Reformation schon vor ‚der‘ Reformation vollzog.
Auch die Frage nach in verschiedenen Räumen bereits praktizierter Geschlechtergerechtigkeit wird thematisch, exemplarisch etwa in der – mit Jürgen Habermas zu sprechen – verständigungsorientierten Korrespondenz der Medinger Äbtissin Margarete Stöterogge mit ihrem Bruder Nikolaus, der sie im Rückgriff auf die Kirchenväter, das Konzil von Laodicea und Thomas von Aquin von der lutherischen Reformation mit ‚guten Gründen‘ zur Preisgabe einer für die Nonnen alles andere als äußerlichen Heiligenverehrung und Marienfrömmigkeit zu überzeugen suchte, wobei es nicht allein um liebgewordene Andachtsbücher ging. „Die Frauen wollten überzeugt und nicht gezwungen werden.“
Tradition und Reformation, schmerzliche Brüche und lebendige Kontinuität – und all dies zum Lobpreis Gottes: Davon spricht erfrischend aufschlussreich aus einer bemerkenswert hell belichteten und auf den Punkt eruierten Perspektive wahrlich starker Frauen und Nonnen das mehr als zu empfehlende Buch von Lähnemann und Schlotheuber – zwei unerhörten Frauen, die nicht unerhört bleiben dürf(t)en!
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg
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