Paris – je ne t’aime plus
Mit Peter Stephan Jungk auf der Suche nach einer verborgenen Heimat auf dem Marché d‘Aligre
Von Martina Kopf
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseParis in der Pandemie-Pause ist anstrengend: Immer laut, immer schmutzig, immer viel zu eng. Dabei sind viele Pariser*innen schon in die wochenlangen Ferien an die französischen Küsten aufgebrochen und die Zahl der Tourist*innen ist pandemiebedingt deutlich geschrumpft. Nach Monaten in der deutschen Provinz voller Ruhe und sozialer Distanz erweist sich die trubelige Stadt als Zumutung – Abstandhalten ist hier schlicht unmöglich. Ob in den stets überfüllten Metros mit den singenden Bandoneonspielern, den engen U-Bahn-Schächten oder den vollgepackten Cafés mit den viel zu kleinen wackligen Tischen, an denen man sich ständig das Schienbein stößt, den Kaffee verschüttet und kaum ein Wort sagen kann, das nicht gehört wird: Hier ist die Keimzelle des Virus, hier werden wir verenden wie das einst von Baudelaire beschriebene Aas.
Es gibt ein Chanson von Léo Ferré, das mir in diesen Tagen immer wieder durch den Kopf geht: „Paris, je ne t‘aime plus/ Je ne t‘aime plus/ Je ne t‘aime plus“ und genau das möchte ich in die Metroschächte brüllen, den dauernd im Weg stehenden viel zu langsamen Passant*innen an den Kopf werfen oder einfach in Richtung Eifelturm schreien, dessen massiver Körper immer bedrohlich zwischen den Hausmann‘schen Gebäuden wie die Tentakel eines riesigen Kraken hervorkommt. Paris – die Pandemie hat uns entfremdet, ich ertrage dich nicht mehr. Ein Freund kann diese Gefühle nachvollziehen – Paris habe ihn noch nie beeindruckt, auch nicht vor der Pandemie. „Aber lies doch mal Marktgeflüster“, sagt er, „das wird dich ein wenig mit der Stadt versöhnen“.
Marktgeflüster. Eine verborgene Heimat in Paris beginnt mit einem Zitat von Jamaica Kincaid:
Everybody who accomplishes anything leaves home. This action, leaving home, has an effect on the people left behind and sometimes, most dramatically, on the new people one meets.
Um diese Begegnungen mit Menschen, um Sesshaftigkeit und Heimatlosigkeit geht es in Peter Stephan Jungks Roman. Ein namenloser Protagonist, vermutlich Jungks Alter Ego, führt uns über den Marché d’Aligre, einen Wochenmarkt in der Nähe der Place de la Bastille. Während er über den Markt flaniert, bei vertrauten Händler*innen einkauft, Einblicke in ihre individuellen Schicksale gibt, erinnert er sich in Rückblicken an ein aufregendes, aber irgendwie unbehaustes Leben zwischen den USA, Wien und Paris, „rastlos, ewig unzufrieden, immer auf der Jagd nach dem idealen Ort, den es nicht gibt auf Erden.“ Der Marché d’Aligre scheint diesen nicht existierenden Ort zu kompensieren. Der Heimatlose, der bereits als Jugendlicher versuchte, durch Meditation den eigenen Körper als Heimat zu empfinden, erfährt hier eine neue Form der Verwurzelung. Er, der nicht gerne als Deutscher bezeichnet wird, sondern lieber auf seinen amerikanischen Pass verweist, fühlt sich zugehörig, angehörig:
Der Aligre dominiert mein Leben, verfügt über Magnetkräfte, die mich an Paris ketten. Es sind freiwillig angelegte Ketten, die ich trage, geflochten aus Liebe, Sehnsucht und Zugehörigkeitsgefühl. Nach zwölf Übersiedlungen im Verlauf der Jahrzehnte bilde ich mir ein, hier, in diesem quartier in Bahnhofsnähe, in this hood, beheimatet zu sein.
Wir folgen ihm in die Vergangenheit zu Begegnungen mit Charles Bukowski in Kalifornien oder einem zufälligen Treffen mit François Mitterrand bevor dessen Karriere begann und erleben die Nacht der Terroranschläge im Jahr 2015 auf den Musikclub Bataclan. Prägend für den jungen Protagonisten scheint die Bekanntschaft mit dem Opernsänger Lacarti, einem Freund seiner Mutter, zu sein, der sich „nirgendwoüberall zu Hause“ fühlt, sieben Sprachen spricht und immer Heimweh nach einem Ort hat, an dem er gerade nicht ist. Sobald er dort dann ist, zieht es ihn augenblicklich wieder in die Ferne. Auch mir geht es so.
Doch immer wieder kehren wir zum Aligre, dem „Menschenbeobachtungslaboratorium“ zurück. Hier scheint sich die Welt zu treffen, hier werden Einzelschicksale aufgedeckt und neue Verbindungen geknüpft. Hamza, in Algerien geboren, verkauft die besten Mangos auf dem Markt. Zu seinen Stammkund*innen gehört auch eine berühmte französische Schauspielerin, die der Protagonist bis zu ihrer Wohnung verfolgt. Angezogen von weiblichen Körpern, lässt er sich übrigens auch immer wieder ebenso gerne auf einen Flirt mit den „Marktfrauen“ ein wie auf ihre persönlichen Geschichten. Min, eine dieser Marktfrauen beispielsweise, hat einige Schicksalsschläge hinter sich: Aus der Provinz Jilin im Nordosten Chinas stammend, wurde sie von einer Familie als Hausmädchen ausgebeutet, bevor sie an dem Stand des Libyers Alex anfing, Gemüse zu verkaufen.
Ähnlich geht es auch Madeleine, die aus Syrien mit ihrer Familie nach Frankreich geflüchtet ist, und nun Kaffee auf dem Aligre verkauft. Sie hat eine gescheiterte Ehe mit einem US-amerikanischen Alkoholiker hinter sich und scheint in dem italienischen Journalisten Giacomo ihren Traummann gefunden zu haben. Es sind vor allem diese sozialen Beziehungen, die bei dem Protagonisten Heimatgefühle aufkommen lassen. Bereits der Markt an sich thematisiert den schmalen Grad zwischen Sesshaftigkeit und Nicht-Sesshaftigkeit durch die Aufteilung der Händler*innen innerhalb und außerhalb der Markthalle: Diejenigen, die in der Halle arbeiten, werden als forains sédentaires, also als Sesshafte, bezeichnet, die außerhalb der Halle arbeiten, als Vaganten. So entwurzelt wie die Marktverkäufer*innen außerhalb der Halle fühlt sich der Protagonist, als der Aligre wegen eines Brands geschlossen werden muss. Wie eng Sesshaftigkeit an Lebenssinnstiftung gekoppelt ist, zeigt eine Episode, in der er durch einen Graineterie-Besitzer in japanische Lebensweisheiten eingeführt wird. Ikigai bezeichnet das Erreichen der
Lebensfreude und der inneren Zufriedenheit. Das Erkennen, warum man auf der Welt ist, was einem wirklich wichtig ist, was einen glücklich stimmt. Wer sein Ikigai findet, sein eigentliches Lebensziel, welches ihm das Gefühl vermittelt zu wissen, warum er morgens aufsteht, der hat die wichtigste Grundlage seines Daseins erreicht.
Der Markt scheint für den Protagonisten also nicht nur eine „verborgene Heimat“ zu verkörpern, er wird für ihn zu einer Art Ikigai-Erfahrung.
An einem Samstagmorgen im Juli, nachdem ich Jungks Roman beendet habe, mache ich mich auf den Weg zum Aligre, der – welch ein Zufall – gegenüber dem Square Léo Ferré liegt. Die Rue d’Aligre ist voll mit Obst- und Gemüsehändler*innen und führt zur Markthalle, dem Marché couvert Beauvau. Davor befindet sich in Form eines Halbkreises der Flohmarkt, Puces d’Aligre. Die Markthalle ist zugegebenermaßen enttäuschend: Nur wenig ist los an diesem Samstagmorgen, die Stände zu ordentlich, fast schon kleine Geschäfte und alles viel zu sauber. Leider ist von dem von Jungk beschriebenen Charme nichts mehr zu spüren. Ich wünschte, ich hätte den Roman noch nicht beendet und könnte zurückkehren zu Hamza, Min, Madeleine oder dem Protagonisten. Ich kaufe drei Artischocken für zwei Euro und einen vergoldeten Delfin, den ich auf dem Wühltisch eines Flohmarktstands entdecke und auf drei Euro runterhandle. Als sich auf dem Heimweg in der Ferne die Spitze des Eifelturms bemerkbar macht, habe ich merkwürdigerweise zum ersten Mal in der Stadt das Gefühl angekommen zu sein – wenigstens für einen Moment.
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