Das Island-Manöver

In Gerwin van der Werfs Roman „Der Anhalter“ nimmt ein Ehepaar auf Selbstfindungsurlaub einen mysteriösen Anhalter mit…

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wenn die Traumreise zum Albtraum“ wird, so der reißerische Spruch auf dem Rücken von Gerwin van der Werfs Roman Der Anhalter. Der Niederländer ist in seiner Heimat ein bekannter Schriftsteller, Der Anhalter jedoch sein erster Text, der ins Deutsche übertragen wurde. Nun hat er damit ein Buch geschrieben, dessen Vermarktung hierzulande auf einen Thriller schließen lässt, das aber weit entfernt davon ist. Denn auch wenn der Roman ohne Zweifel als Pageturner zu bezeichnen ist, handelt es sich vielmehr um eine gekonnte Psychostudie über den Zerfall einer Familie.

Der Ich-Erzähler Tiddo ist seit fast zwei Jahrzehnten mit seiner Frau Isa zusammen und offensichtlich immer noch verliebt wie am ersten Tag, sie haben auch einen 13-jährigen Sohn, Jonathan. Doch es läuft nicht mehr so gut zwischen dem Ehepaar, man hat sich entfremdet. Tiddo scheint unfähig seiner Frau die Zuneigung zu zeigen, die er immer noch empfindet. In einer für den Leser schmerzhaften Szene am Anfang der Geschichte versucht er die schlafende Isa am Rücken zu streicheln, es misslingt ihm, weil ihm der Mut fehlt, seine eigene Ehefrau anzufassen. Isa wird von ihm geschildert als äußerst kluge, aber etwas gefühlskalte, weil allzu rationale Naturwissenschaftlerin. Tiddo selbst ist Verwaltungsbeamter im Kulturbereich, ein unbeholfener Spießer aus der Mittelklasse, der gerne einmal ein anderer, mutigerer wäre.

Um die Ehe zu retten, so zumindest sieht es Tiddo, möchte Isa mit der Familie einen Wohnmobilurlaub in Island machen. Ganz entgegen der angeblichen Gepflogenheiten seiner Landsleute haben die beiden ein solches Gefährt noch nie betreten, geschweige denn damit Urlaub gemacht. Isa sieht es als Abenteuer, Tiddo ist sichtlich verkrampft. Kurz vor dem Urlaub besucht er noch einmal seine Mutter, die ihm ein Bündel Geldscheine hinterlegt hat, auf dass er den Urlaub genieße und seine Ehe rette. Komischerweise ist die alte, kränkliche Mutter nicht zuhause, also nimmt er sorgenvoll das Geld an sich und nimmt sich vor, sie aus Island sofort anzurufen.

Dort beginnt ihre Fahrt idyllisch, nur kann Tiddo seine Mutter einfach nicht erreichen. Der verwunderten Isa erzählt er jedoch das Gegenteil und simuliert sogar ein Gespräch. Bereits in den ersten Tagen beginnt eine Diskussion darüber, ob man nicht mal einen Anhalter mitnehmen könnte. Tiddo ist strikt dagegen, Isa sähe es als Bereicherung, fügt sich aber. Als jedoch eine einsame, durchnässte junge Reisende am Straßenrand steht, zwingt Isa ihren Mann anzuhalten und sie mitzunehmen, als aus dem Gebüsch ein baumlanger, muskulöser, attraktiver isländischer Traveller springt und sich als ihr Freund ausgibt. Dennoch werden beide mitgenommen.

Bald kommt aber heraus, dass Svein, der Isländer, allein unterwegs ist und die junge Frau nur als Alibi verwendet hat, um ebenfalls mitgenommen zu werden. Und er erweist sich als äußerst penetrant. Isa und auch Tiddo erliegen einerseits seiner Faszination, wenn er von archaischen isländischen Bräuchen, der Macht der Naturgötter und der Schönheit der Landschaft spricht, andererseits werden beide zunehmend skeptisch. Denn Vieles was der vorgebliche Fitnessgeräteverkäufer, der eigentlich in den USA wohne, erzählt, scheint nicht zu stimmen. Und wie auch der Klappentext bereits verrät: Sie werden ihn nicht mehr los.

Wo jener Klappentext aufhört, fängt der Roman jedoch erst an, nämlich als Tiddo beschließt, dem Anhalterspuk ein Ende zu setzen. Fortan weiß der Leser nicht so recht, in was für eine Art Geschichte er hier geraten ist: Ein Thriller um einen Killer-Anhalter? Eine jener derzeit so beliebten Folk-Horror-Geschichten im Geiste von Ari Asters Spielfilm Midsommar? Ein Psychodrama um eine gescheiterte Ehe? Oder doch ein sentimentaler Entwicklungsroman, in dem ein Vater wieder zu seinem Sohn findet? Und was hat es überhaupt mit der immer wieder (nicht) auftauchenden Mutter Tiddos auf sich? Bis kurz vor Schluss hält van der Werf diese Spannung, die eigentlich gar keine ist.

Der Anhalter ist dabei vielmehr eine Parabel, in der die zerklüftete Landschaft Islands eine Allegorie auf das Innenleben seiner Protagonisten ist. Mehr darf nicht gesagt werden. Denn selbst wenn die Auflösung der Geschichte irgendwann vorhersehbar ist, der Effekt, den sie auf den Leser hat, ist dennoch ebenso überwältigend wie die ausufernd beschriebenen Landschaften Islands.

Titelbild

Gerwin van der Werf: Der Anhalter. Roman.
Aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2020.
288 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783103974669

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