Worte als Vorstufe und Bedingung der Tat

Ein von Dirk van Laak und Dirk Rose herausgegebener Sammelband diskutiert die Figur des „Schreibtischtäters“

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist gewiss kein Zufall, dass auf dem Umschlag der Aufsatzsammlung, die der Historiker Dirk van Laak und der Literaturwissenschaftler Dirk Rose herausgegeben haben, der Schreibtischtäter par excellence prangt: Adolf Eichmann in seiner Zelle im Ramle-Gefängnis von Tel Aviv, in der rechten Hand einen Kugelschreiber, in der linken eine Zigarette, den Kopf leicht geneigt und den Fotografen mit abständigem Blick anschauend, an einem einfachen Tisch sitzend, vor sich einen Stapel Bücher, die er offenbar zur Untermauerung seiner Verteidigungslinie nutzt. Ein ganz gewöhnlicher Mann, möchte man denken, nicht aber eine der Schlüsselfiguren bei der Ermordung von sechs Millionen Juden.

Das Bild führt unmittelbar hinein in die Thematik, von der die inhaltlich weit gefächerten, hier und da ein wenig heterogen wirkenden Beiträge des Buches handeln. Aus verschiedenen disziplinären Blickwinkeln, jedoch zumeist beschränkt auf den deutschen Fall, versuchen sie, dem „Begriff“, der „Typologie“ und der „Geschichte“ des „Schreibtischtäters“ auf die Spur zu kommen. Eine zentrale Rolle spielen dabei, wie kaum anders zu erwarten, Eichmann und der in Jerusalem gegen ihn geführte Prozess. Schon wegen der Debatten, die sich daran entzündeten, hatte hier Hannah Arendt den Kammerton angeschlagen, sprach von „Verwaltungsmassenmord“, verwendete das Wort „Schreibtischtäter“ aber nicht. Gleiches gilt für Raul Hilberg, den Pionier der Holocaust-Forschung, der in seiner großen Studie über die „Vernichtung der europäischen Juden“, wie René Schlott hervorhebt, den Begriff, der im Englischen keine Entsprechung hat, nicht benutzt, aber den Typus, der sich dahinter verbirgt, in der Sphäre der Administration lokalisiert. Dort habe man „Denkschriften“ verfasst, „Durchführungsbestimmungen“ entworfen, per Brief, per Telefon und in Konferenzräumen kommuniziert. Die Bürokraten, so das Fazit, „konnten ein ganzes Volk vernichten, ohne ihren Schreibtisch zu verlassen.“

Hilberg lenkte die Aufmerksamkeit auf die verwaltungstechnischen Räderwerke, auf das Tun der involvierten Verwaltungen, ohne deren Bereitwilligkeit und Effizienz die Auslöschung von Millionen Juden nicht möglich gewesen wäre. Die Männer an den Erschießungsgräben und Gaskammern waren nur die letzten Glieder in einer langen Kette bürokratischer Planungen und arbeitsteiligen Handelns. Dem unmittelbaren Mord gingen die in den Amtsstuben erdachten und ausformulierten Papiere, die Definitionen, Verfügungen und Gesetze voraus. Die daran Beteiligten mussten keine Rassenfanatiker sein, sie waren auch nicht allein Befehlsempfänger, sondern vielfach moralisch indifferente, flexible Beamte mit Initiative und Entscheidungsfreude, die das, was von ihnen erwartet wurde, vorwegnahmen, der Führung entgegenarbeiteten und das Ihre leisteten, damit am Ende die Antisemiten der Tat ihr blutiges Handwerk verrichten konnten. „Die Partei“, schreibt Schlott, „verfügte über die Ideologie, die Staatsverwaltung bot die Mechanismen zu ihrer Umsetzung.“ Von „Schreibtischtäter“ spricht Hilberg zum ersten Mal am Beginn der 1990er Jahre, als sich der Terminus längst eingebürgert hatte. Die Judenvernichtung, so der Befund, war ein Projekt, in das zahlreiche Individuen und Organisationen eingebunden waren: „Jede einzelne Behörde trug dazu bei; man nutzte jede Spezialisierung, und an der Umklammerung waren durchweg alle Gesellschaftsschichten beteiligt.“

Im Deutschen beginnt der „Schreibtischtäter“ seine Karriere im Gefolge des Eichmann-Prozesses. 1964 taucht er in der Presse auf, was darauf hindeutet, dass er schon vorher in der Welt war. Der israelische Chefankläger Gideon Hausner hatte Eichmann als einen Typus von Mörder bezeichnet, der „das Bluthandwerk vom Schreibtisch aus betreibt.“ Und in der Urteilsbegründung war zu lesen, der Grad der Verantwortlichkeit wachse proportional zur Entfernung zu demjenigen, der „die Mordwaffe mit seinen Händen in Bewegung“ setze. Je höher die Position in der Hierarchie, desto größer der individuell zurechenbare Anteil derjenigen, die sich nach einer Formulierung des Gerichts im Wilhelmstraßenprozess gegen die administrativen Eliten im Berliner Regierungsviertel dadurch schuldig gemacht haben, dass sie „in der friedlichen Stille ihrer Büros“ am Feldzug gegen die Juden „durch Entwurf der für seine Durchführung notwendigen Verordnungen, Erlasse und Anweisungen teilgenommen haben.“ In dem Maß wie „Schreibtischtäter“ im Sprachgebrauch heimisch wurde, tendierte der Begriff nach und nach dazu, wie Christoph Jahrs semantische Spurensuche verdeutlicht, nicht nur verallgemeinert, sondern auch trivialisiert zu werden, überdies zur polemischen Münze in den Auseinandersetzungen des Kalten Kriegs zwischen Ost und West abzusinken. Dazu gestempelt wurden jeweils die anderen, die Klassenfeinde in der Bundesrepublik oder die Initiatoren repressiver Praktiken in der DDR.

Vor der Gefahr, den Begriff zu zerfasern und seine Trennschärfe einzuebnen, sind allerdings auch einige Autoren des Sammelbandes nicht gefeit. Das wird am deutlichsten im Aufsatz von Simone Chiquet, die das Augenmerk auf die „verwaltungstechnische Umsetzung der Sperre und Freigabe deutscher Vermögenswerte in der Schweiz“ nach dem Zweiten Weltkrieg lenkt. Im Zentrum stand dabei die „Schweizerische Verrechnungsstelle“, eine öffentlich-rechtliche Körperschaft, der die Umsetzung einschlägiger Anordnungen der Exekutive oblag. Rekonstruiert werden Organisationsstrukturen, Mittel der Kommunikation und Handlungsspielräume der Akteure. Das gehört zum klassischen Repertoire bürokratiehistorischer Erkundungen, liefert aber keine Erkenntnisse zu einer stichhaltigen Vermessung des Assoziationsfeldes „Schreibtischtäter“. Daran ändert auch die terminologische Verschiebung hin zu „Schreibtätern“ nichts.

Ähnliches gilt für die Architekten, die nach 1943 in Albert Speers „Arbeitsstab“ munter vor sich hin planten, um die Umrisse für den Wiederaufbau der zerstörten Städte zu entwerfen. Markus Krajewski nennt sie „urbanistische Schreibtischtäter“, denen freilich im Fortgang des Krieges die „Planungsgrundlage abhanden“ gekommen sei. Dass diese bei der ohnehin in unrealistische Ferne gerückten Ausführung ihrer Projekte nicht selber Hand anlegten, sondern sich auf untergeordnete „Befehlsempfänger oder Handlanger“ verließen, ist ein wenig überraschender, im Grunde banaler Befund. Verantworten für ihr Tun mussten sie sich nach der Götterdämmerung des NS-Regimes ebenso wenig wie die große Schar der Journalisten, die für die gleichgeschaltete Presse arbeitete. Deren „Verstrickungen“ ruft Norman Domeier am Beispiel des Auslandsberichterstatters Hans-Georg von Studnitz ins Gedächtnis, der 1939 in die Informationsabteilung des Auswärtigen Amtes berufen wurde. Als nichtdeutsches Pendant figuriert der amerikanische Korrespondent William Shirer. Geboten wird eine in sich informative Analyse, die mit einem leicht abgewandelten Neologismus hantiert, um am Ende zu einem Allerweltsresultat zu gelangen, dass nämlich die Figur des nunmehr so genannten „Schreibmaschinentäters in der historischen Realität komplex“ sei. Gewiss, darauf stößt noch stets, wer in die tieferen Schichten vergangener Wirklichkeiten eindringt. Aber es bleibt doch fraglich, ob eine derartige Ausweitung des Begriffs wirklich zielführend ist.

Verdienstvoll hingegen ist der mehrfache Hinweis, wonach der in Rede stehende Typus ein Produkt moderner Staatlichkeit sei. Er formiert sich parallel zur Ausdifferenzierung der Gesellschaft und hat seinen Ort in arbeitsteilig und hierarchisch organisierten Verwaltungen, die für die Überbrückung räumlicher Distanzen die nötigen Kommunikationsinstrumente besitzen. Das betrifft die verschiedenen Ebenen der zivilen Administration ebenso wie die des Militärs. Sogar die Schlachten des 20. Jahrhunderts werden, wie schon Max Weber notierte, nicht mehr in Sichtweite vom Feldherrnhügel aus dirigiert, sondern an den dem unmittelbaren Geschehen fernen Kartentischen der Büros hinter der Front. Je komplexer die zu bewältigenden Aufgaben werden, desto mehr verzweigen sich die mit der Lösung betrauten Bürokratien. Ohne sie kommen weder Wirtschaftsunternehmen noch Kommunen, Länder und Staaten aus. Der „Schreibtischtäter“ ist daher in der Welt, ehe er im Verlauf der juristischen Ahndung von NS-Verbrechen auch begrifflich gefasst wird. Er hat seinen spezifischen Anteil an der Ausformung und an den Exzessen obrigkeitlicher Gewalt, die er befördert und legitimiert. Zu finden ist er in den Amtstuben staatlicher und halbstaatlicher Einrichtungen, darüber hinaus in den Sphären zivilgesellschaftlicher Zirkel, Verbindungen und Parteiungen. Insofern ergibt es Sinn, mit Sarah Mohi-von Känel einen kritischen Blick auf den „Krieg der Worte“ (1914/18) zu werfen, auf die selbsternannten Kämpfer an den heimischen Schreibpulten, auf Literaten, Intellektuelle und Journalisten, die den Göttern des Krieges huldigten und sich an der Vorstellung berauschten, mithilfe ihrer Hervorbringungen die Grenzen zwischen Wort und Tat egalisieren zu können. Das war der Kontext, den Karl Kraus vor Augen hatte, wenn er von der geistigen „Selbstverstümmelung der Menschheit durch ihre Presse“ sprach, und davon, dass sich „Druckerschwärze unmittelbar in Blut verwandeln könne.“

Justitiabel war dies kaum. Das zeigte der Freispruch des führenden Rundfunkfunktionärs Hans Fritzsche im Haus des Propagandaministers Joseph Goebbels. Und doch haben die Nürnberger Prozesse bislang verriegelte Türen geöffnet und entscheidende Anstöße dafür geliefert, diejenigen dingfest zu machen, die Verantwortung von einer Stufe auf die nächste verlagerten, sich hinter der Undurchdringlichkeit von Verwaltungsabläufen versteckten, hinter unpolitischem Mitläufertum und patriotischer Pflichterfüllung. Der Wilhelmstraßen-Prozess machte gleichsam paradigmatisch deutlich, so Annette Weinke in einer klugen, auch transnational argumentierenden Studie über „sichtbare und unsichtbare Gewalt“, dass „erstmals in der modernen Strafrechtsgeschichte“ Angehörige der Staatsbürokratie „dafür zur Rechenschaft gezogen“ wurden, „dass sie durch ihr verwaltungsmäßiges Handeln den Tod zahlloser Menschen vorbereitet und ermöglicht hatten.“

Bei den (West-)Deutschen fiel dies zunächst nicht unbedingt auf fruchtbaren Boden. Aus den von Johannes Platz beleuchteten Umfragen und Gruppendiskussionen, die das aus den USA zurückgekehrte „Institut für Sozialforschung“ über Einstellungen zum Eichmann-Prozess veranstaltete, kann man entnehmen, wie sehr die Figur des „Schreibtischtäters“ bis in die frühen 1960er Jahre hinein „unter Hinweis auf den Befehlsnotstand, das Pflichtbewusstsein, die Eidesleistung oder die Eigentümlichkeiten der Bürokratie“ verharmlost und „in entlastender Funktion benutzt“ worden ist. Dass dies auch Zeugnis für die Persistenz eines alltäglichen Antisemitismus war, wird in dieser instruktiven Studie nur am Rande erwähnt, aber durch verschiedentliche Hinweise doch mit der nötigen Entschiedenheit markiert.

Titelbild

Dirk van Laak / Dirk Rose (Hg.): Schreibtischtäter. Begriff – Geschichte – Typologie.
Wallstein Verlag, Göttingen 2018.
315 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783835332133

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