Nicht sehre dich Sorge um mich
Ein Sammelband nimmt die „Verletzungen und Unversehrtheit in der deutschen Literatur des Mittelalters“ unter die Lupe
Von Verena Brunschweiger
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIm Januar dieses Jahres wurde das Auftragswerk Minona. Ein Leben im Schatten Beethovens am Theater Regensburg uraufgeführt. Die Titelheldin beklagt, dass so oft vergessen werde, dass Gott nicht nur von, sondern auch durch Krankheit heile – eine Äußerung, die sich nicht nur im Libretto des estnischen Komponisten Jüri Reinvere findet, sondern so auch im exorbitant breiten Primärtextspektrum vorkommen könnte, das im vorliegenden Tagungsband hinsichtlich Funktions- und Darstellungsweisen von physischer und psychischer (In-)Vulnerabilität befragt wird.
Einer Einleitung der Herausgebenden Sarah Bowden, Nine Miedema und Stephen Mossman folgen 16 Texte, die auf Vorträgen basieren, welche im September 2015 auf dem 24. Anglo-German Colloquium gehalten wurden. Insofern verwundert es wenig, dass die Bandbreite der Beiträge ebenfalls beachtlich ist: etymologische Analysen, korpuslinguistische Etüden und literaturwissenschaftliche Untersuchungen beschäftigen sich mit der Rolle von Wunden als Bedeutungsträgern, die stets auch Machtkonstellationen versinnbildlichen.
So mancher Beitrag ist außerordentlich spezifisch; so kann man beispielsweise viel über die Text-Bild-Dynamik des niederdeutschen Frühdrucks erfahren (Elizabeth Andersen und Henrike Lähnemann) oder über Lawinen als primär gefürchtetes Verletzungsrisiko bei der Überquerung der Alpen (Christian Rohr).
Naheliegend sind Heiligenlegenden, in denen Verletzung und Unversehrtheit zentrale Kategorien darstellen. Es geht um die Heilige Barbara, die Heilige Birgitta, aber auch um zahlreiche andere Kephalophoren – schließlich sind wir mit einer „Überbevölkerung des Heiligenhimmels“ konfrontiert, wie es Simon Falch so amüsant formuliert. Sein Text ist auch stilistisch abgestimmt auf die von ihm beobachtete Präsenz burlesker Gewaltdarstellungen in Legenden.
Besonders informativ sind Ortrun Rihas Ausführungen über Verwundungen aus Sicht mittelalterlicher Chirurgen. Behandlungsmöglichkeiten wie Pulver, Öle, Umschläge oder Schlafschwämme evozieren Assoziationen mit Dr. Malatesta aus Gaetano Donizettis Don Pasquale ebenso wie mit Wolfgang Amadeus Mozarts Così fan tutte, wo sich das Hausmädchen Despina in einen Arzt verwandelt, der unter Zuhilfenahme allerlei bizarrer Requisiten die beiden männlichen Protagonisten reanimiert. Unter anderem kristallisiert sich heraus, dass die mittelalterlichen Wundärzte bescheiden blieben, was einem neuzeitlichen Christian Drosten ebenfalls nicht schlecht anstünde.
Etliche Beiträge beschäftigen sich mit dem Verhältnis von Gewalt und Fiktion in Mären, die sich ebenfalls anbieten, wenn es darum gehen soll, inwiefern beispielsweise Züchtigungen auch subkutan Spuren hinterlassen.
Der Minnesang ist natürlich angesichts des immer wieder thematisierten Liebesschmerzes ebenso ein naheliegender Forschungsgegenstand. Vor allem Annette Gerok-Reiter, die sich mit Minne als physischer und psychischer Verletzung in der frühen Lyrik beschäftigt, zeigt eindrucksvoll, dass Heilung in diesem System nicht mehr möglich ist, „allenfalls in der Transformation der heillos verletzenden Situation in den Gesang und im Gesang“.
Der hinreißendste Beitrag ist zweifellos Annette Volfings Hadlaubs beißende Dame. Minnesang und vagina dentata. Es geht nicht nur um Hadlaubs Lied II, sondern generell um das Motiv der vagina dentata in Fabliaux und Mären. Hadlaubs Dame ist für Volfing eine Frau, die sich nicht erfolgreich vor Übergriffen schützen kann, ergo eine gescheiterte vagina dentata. Eine ikonographisch versierte Interpretation des Autorbilds zu Hadlaub bringt weitere Erkenntnisse, welche die Polyvalenz von Hunden veranschaulicht – „nicht jeder mittelalterliche Schoßhund ist ein Marker für luxuria oder eine Chiffre für weibliche Genitalien“. Die Autorin führt überzeugend aus, dass Hadlaubs Dame eine Trophäenfrau avant la lettre ist, und scheut auch nicht davor zurück, alle drei Ansätze (die Dame als monströse Figur, als frei verfügbares Objekt und letztendlich als entmenschlichtes Wesen) als „frauenfeindlich“ zu bezeichnen, was man bei aller Distanz als Forschende(r) durchaus hin und wieder klarstellen sollte.
Insgesamt wird hier ein ungewöhnliches und an informativen Überraschungen reiches Werk vorgelegt, das fußnotenreich den jeweils aktuellen Forschungsstand resümiert und mit neuen Erkenntnissen aufwartet. Anders als im Falle des beispielsweise ebenfalls unlängst erschienen monumentalen Buchs Kinderlosigkeit. Ersehnte, verweigerte und bereute Elternschaft im Mittelalter von Regina Toepfer, das durchaus auch für interessierte Laien spannend ist, sollte man aber ein gewisses mediävistisches Grundrüstzeug für die Lektüre des Tagungsband mitbringen, zumal die meisten der zahlreichen mittelhochdeutschen Zitate nicht übersetzt werden.
Zwei Wermutstropfen sollen jedoch nicht unerwähnt bleiben. So ist es durchaus betrüblich, dass zwei der Autoren kein Problem darin sehen, den antisemitischen Modephilosophen Giorgio Agamben zu zitieren, der sowohl in Homo sacer als auch in Signatura rerum suggeriert, dass „die Moderne“ Schuld trüge an der Shoah und Juden ja nicht als Juden in Auschwitz ermordet worden seien.
Außerdem fällt negativ auf, dass in Sonja Kerths Beitrag über Traumaerzählungen die Figur der Orgeluse von der Autorin als „Männerhasserin“ bezeichnet wird, was nicht nur unzutreffend ist, sondern auch einem misogynen, klassisch antifeministischen Begriff Zutritt gewährt, wo er keinen haben sollte. Zudem wird in diesem Kontext auch Marianne Wynn zitiert, die 1976/1977 – also zu feministischen Hochzeiten – Termini wie „Soldatenhure“ und „Landstreicherin“ verwendet. Die Verfasserin schreibt immerhin, dass dies ihres Erachtens am Text vorbei gehe, was meines Erachtens aber wirklich nicht reicht. Wie wir aus den Forschungen der Traumaexpertin Ingeborg Kraus wissen, die hauptsächlich mit prostituierten Frauen arbeitet, ist diese Deutungshypothese in Bezug auf Orgeluse zwar im Prinzip nachvollziehbar, dennoch wertet es ihr selbstbewusstes, radikalfeministisches Verhalten avant la lettre zu sehr ab. Nicht umsonst sagt Orgeluse, dass nicht jeder Mund ihr Lob sprechen dürfe …
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg
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