„Verliebt in die deutsche Sprache“
Zum Tod von Edgar Hilsenrath
Von Manfred Orlick
Am 30. Dezember 2018 starb der Schriftsteller Edgar Hilsenrath im Alter von 92 Jahren. Der deutsch-jüdische Autor schaffte seinen literarischen Durchbruch zunächst in den 1960er Jahren in den USA mit der Nazi-Groteske Der Nazi & der Friseur. Danach wurden seine Bücher in viele Sprachen übersetzt und verkauften sich weltweit in Millionen von Exemplaren.
Hilsenrath wurde am 2. April 1926 in Leipzig als erster Sohn der jüdischen Kaufmannsfamilie David und Anni Hilsenrath geboren. Der Vater ist ein erfolgreicher Möbelhändler, der Ende 1928 mit seiner Familie nach Halle zieht und ein alteingesessenes Möbelhaus erwirbt. Im Jahr darauf wird der Bruder Manfred geboren und der kleine Edgar besucht einen christlichen Kindergarten. Die Großeltern mütterlicherseits wohnen in der Bukowina (Rumänien), wo die Familie auch mehrfach Urlaub macht. Während die Großeltern streng orthodoxe Juden sind, beschränkt sich die religiöse Erziehung der beiden Kinder in Halle auf den gelegentlichen Besuch der Synagoge an hohen Feiertagen.
1932 wird Edgar in die Volksschule eingeschult, nur wenige hundert Meter von der elterlichen Wohnung entfernt. In der Klasse ist er das einzige jüdische Kind. Noch spielt das keine Rolle, aber mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 ändert sich die Situation schlagartig. Von jetzt an gehört antisemitische Hetzpropaganda zum Schulalltag. Schmerzlich muss Edgar erfahren, dass er Jude ist: Er wird ausgegrenzt, verhöhnt und regelmäßig nach Schulschluss verprügelt.
Der Boykott jüdischer Geschäfte trifft den Vater hart, der wirtschaftliche und soziale Abstieg der Familie ist unaufhaltsam. Ein kleines Geschäft in einer Seitenstraße, in dem nur noch Juden kaufen, bildet für einige Jahre eine schmale Existenzgrundlage. Der ständig wachsenden Gefahr bewusst, bemüht sich der Vater vergeblich um Einreisevisen für die Familie in die USA. Die letzte Möglichkeit, die Ehefrau und die beiden Söhne in Sicherheit zu bringen, ist eine Reise nach Siret (Rumänien) zur mütterlichen Familie. Während der Vater in Halle bleibt, endet im Juli 1938 für den zwölfjährigen Edgar die Kindheit am offenen Zugfenster – sie verliert sich im Geratter des Zuges. Einige Monate später brennen in Deutschland die Synagogen.
Nazideutschland entronnen, empfindet Hilsenrath die jüdisch geprägte Kleinstadt, das Schtetl, als Paradies. Die deutsche Sprache und Kultur flößt den einfachen Leuten in Siret Ehrfurcht ein und so wird der Junge für sein gutes Deutsch bewundert. Das macht ihn stolz und er verliebt sich regelrecht in seine Muttersprache. Dieser Liebe bleibt er sein Leben lang treu. Bereits als Vierzehnjähriger schreibt er einen ersten Roman Der weiße Neger.
Nur drei Tage nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion werden die Juden von Siret in Eisenbahnwaggons gepfercht und wochenlang durch das Land gekarrt, ehe sie in einem Ghetto der Stadt Moghilev-Podolsk am Dnjestr landen. Hier sind Ende Oktober 1941 über 50.000 Juden gefangen. Im Ghetto, einem „Ort ohne Gott“, herrschen Hunger und Typhus. Wie das tägliche Sterben aussieht und wie man in solch einem Ghetto überlebt, das hat Hilsenrath später in seinem Roman Nacht beschrieben.
Ende März 1944 wird das Lager schließlich von der Roten Armee befreit. Nach kurzen Aufenthalten in Czernowitz, Siret und Bukarest reist Hilsenrath mit gefälschtem Pass auf dem Landweg über Bulgarien, die Türkei, Syrien und den Libanon nach Palästina, wo er am 15. Januar 1945 ankommt. Zunächst arbeitet er als Pflanzer, Lastenträger und Bauarbeiter im „gelobten Land“. In seiner Freizeit schreibt er Erzählungen und arbeitet an seinem Ghetto-Roman Nacht.
1947 reist der Autor nach Frankreich, wo sich bereits sein Vater, die Mutter und der Bruder wiedergefunden haben. Die Familie ist nun wieder vereint. In Lyon arbeitet er als Zuschneider in einer Kürschnerei, ehe er im März 1951 nach Amerika auswandert und sich in New York niederlässt. Dort verdient er seinen Lebensunterhalt als Aushilfskellner, Bürobote und Nachtportier.
Nach fast zehnjähriger Arbeit (teilweise schreibt er in einer Cafeteria) schließt er 1958 seinen Roman Nacht ab, in dem er auf grausam realistische Art und Weise die unmenschlichen Verhältnisse im Ghetto schildert. Aber es dauert noch einmal sechs Jahre, bis er einen deutschen Verlag für sein Buch findet. Im Herbst 1964 erscheint der Roman in einer Minimalauflage von 1.200 Exemplaren im Münchner Kindler Verlag. Schnell regt sich jedoch Widerstand gegen die schonungslose Darstellung des Holocausts, in der Juden auch als vom Ghetto entmenschlichte Wesen auftreten, sodass der Verlag klammheimlich auf eine zweite Auflage verzichtet.
1966 erscheint der Roman in den USA im Verlag Doubleday, dem damals größten amerikanischen Verlagshaus. Nun erfolgt die so lange ersehnte Anerkennung als Schriftsteller. Fünf Jahre später veröffentlicht Hilsenrath seinen heute weltbekannten Roman Der Nazi & der Friseur. Das Interesse in Amerika ist riesengroß, schnell folgen Ausgaben in England, Frankreich und Italien. Für diese Geschichte ist der Autor in die Täterperspektive eingetaucht und ihm gelingt eine groteske Darstellung der Holocaust-Grausamkeiten. Der satirische Umgang mit der Judenvernichtung und der Gründung des Staates Israel ist in Deutschland jedoch noch tabu. Daher verwundert es nicht, dass dieser Roman – oft auch als „Henkersballade“ bezeichnet – zunächst von allen deutschen Verlagen abgelehnt wird. Erst 1977 publiziert ein kleiner Kölner Verlag (Literarischer Verlag Helmut Braun) dieses vieldiskutierte Buch. Heinrich Böll schreibt damals in der ZEIT: „Ich gestehe, dass ich die Ekelschwellen in den ersten Kapiteln des Buches nur mühsam überwunden habe. […] Wenn man die Ekelschwelle überwunden hat, wird man Zeuge fast eines Wunders.“ Der Kritiker Fritz J. Raddatz wettert noch 1978 bei der Nachauflage von Nacht: „So geht das nicht. […] Statt Grauen zu fixieren, wird es breitgetreten, statt das Entsetzen zu bannen, wird es behäbig gemacht; damit konsumierbar. Das Buch ist eine Katastrophe.“
Bereits 1975 ist Hilsenrath nach Deutschland zurückgekehrt und lässt sich in Westberlin nieder. In den Folgejahren erscheinen seine weiteren Romane Gib acht, Genosse Mandelbaum (1979), Bronskys Geständnis (1980), Zibulsky oder Antenne im Bauch (1983) oder Das Märchen vom letzten Gedanken (1989, eine Auseinandersetzung mit dem Völkermord an den Armeniern). In Jossel Wassermanns Heimkehr (1993) lässt Hilsenrath in der Lebensgeschichte des Protagonisten noch einmal die längst versunkene Welt des Schtetl auferstehen. Er führt den Leser in jene kleine abgeschiedene Welt und einzigartige Kultur, die die Nazis zusammen mit den Menschen auslöschten. Man begegnet noch einmal dem Schuster, dem Wasserträger, dem Totengräber oder den Männern in ihren schwarzen Kaftanen und mit den langen Bärten. Es ist eine farbenprächtige Wanderung durch die mittelalterlich wirkenden Gassen mit ihren winzigen Häusern und engen Hinterhöfen.
Die Abenteuer des Ruben Jablonski (1997) ist ein Roman mit starken autobiografischen Zügen. Hilsenrath beschreibt hier im Wesentlichen seine Jugendzeit und den Beginn seiner eigenen Schriftstellerkarriere. In seinem letzten Buch Berlin … Endstation (2006) schwärmt der Autor noch einmal von seiner geliebten deutschen Sprache, zu der er nach den Irrfahrten des Lebens immer wieder zurückgekehrt ist.
Edgar Hilsenrath, der den Katastrophen des letzten Jahrhunderts literarische Gestalt gegeben hat, wurde mit zahlreichen Preisen und Auszeichnungen (u.a. dem Alfred-Döblin-Preis oder dem Lion-Feuchtwanger-Preis) geehrt. In Deutschland erschienen seine Werke zunächst im Piper Verlag. Nachdem dieser die Rechte an den Autor zurückgab, machte sich vor allem der Kölner Dittrich Verlag um das Werk des großen Erzählers verdient, wo eine elfbändige Werkausgabe erschien – weiterhin die biografische Schrift Ich bin nicht Ranek. Annäherung an Edgar Hilsenrath des Herausgebers Helmut Braun. Zur Popularität in den 2000er Jahren trugen auch die Lizenzausgaben der wichtigsten Werke im Deutschen Taschenbuch Verlag München bei.
Aus Anlass des 80. Geburtstags von Edgar Hilsenrath konzipierte die Berliner Akademie der Künste die umfassende Wanderausstellung Verliebt in die deutsche Sprache. Die Odyssee des Edgar Hilsenrath, die in mehreren Städten Station machte. Das informative und reich illustrierte Begleitbuch zur Ausstellung verfasste ebenfalls Helmut Braun. 2011 endete die erfolgreiche Zusammenarbeit von Edgar Hilsenrath und Volker Dittrich. Anlass war Dittrichs Biografie Zwei Seiten der Erinnerung über den Autor und seinen in der Literaturszene unbekannten Bruder Manfred Hilsenrath. Das zerrüttete Verhältnis war nicht mehr zu kitten und so durfte das Buch nicht mehr verkauft werden. So war es in den letzten Jahren recht ruhig um Hilsenrath geworden; er blieb bis zu seinem Tod ein Außenseiter und Einzelgänger in der deutsch-jüdischen Literaturszene. In die Riege der großen Autoren wurde er nie aufgenommen, was ihn mitunter verbitterte. Seine Liebe galt jedoch immer seinem Geburtsland und vor allem der deutschen Sprache. Seine wunderbaren Geschichten und Romane, die grotesk und zugleich nachdenklich daherkommen, hat er uns hinterlassen.