Reisen bildet auch die Zuhausegebliebenen
Ein interdisziplinärer Sammelband beleuchtet „aufklärerische Kontexte und lebensweltliche Perspektiven“ Elisa von der Reckes
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / Literaturhinweise
Emanzipierte Frauen gab es bekanntlich auch schon vor dem 20. und 21. Jahrhundert, so etwa zur Zeit der Aufklärung. Ihre Zahl war recht überschaubar und sie blieben – wie könnte es anders sein – noch immer im Rahmen der damaligen gesellschaftlichen Möglichkeiten gefangen. Zudem war es ausschließlich Angehörigen der gehobenen bürgerlichen Stände oder des Adels möglich, überhaupt auch nur von einem etwas freieren Leben träumen zu können. Eine der Frauen, die nicht nur Träumen anhing, sondern sie nach besten Kräften lebten, war die baltische Adlige Elisa von der Recke, geborene von Medem. Zu ihrer Zeit war sie eine viel gelesene Autorin, die nicht nur in Europa und dem Nahen Osten unterwegs war, sondern auch in zahlreichen Textsorten. So verfasste sie neben geistlichen Liedern, Gedichten, Sendschreiben, Dramen, politischen Werken einschließlich diverser Streitschiften nicht zuletzt biografische Texte, zu denen selbstverständlich auch Reiseberichte zählen. Heute ist ihr Name allerdings nur noch einem engeren Fachpublikum ein Begriff, dann und wann ist ihr eine wissenschaftliche Publikation gewidmet. So gaben Valérie Leyh, Adelheid Müller und Vera Viehöver jüngst einen Sammelband über von der Recke heraus. Er geht auf eine Tagung zurück, die im Frühjahr 2016 an der Université Liège in Belgien abgehalten wurde.
Wie die Herausgeberinnen in der Einleitung betonen, betrachten die Beitragenden „das Schreiben und Wirken Elisa von der Reckes erstmals aus dem Blickwinkel zahlreicher Fachrichtungen“. Sie reichen von der Literatur- und Kulturwissenschaft über Gender Studies und Jüdische Studien bis hin zur Geschichtswissenschaft, der Theologie sowie der Kunst- und Musikgeschichte. Die Herausgeberinnen haben die fünfzehn Aufsätze des Banden auf die fünf Rubriken „Selbstentwürfe und Geschlechterbeziehungen“, „Religionsverständnis“, „Repräsentationen in Musik und Kunst“, „Reisen, Wissen und Diplomatie“ sowie „Netzwerke und Geselligkeit“ verteilt. Bereits diese Gliederung macht deutlich, wie vielfältig das Schaffen der „glühenden Verfechterin der Aufklärung“ war.
Einige der Beiträge blicken über den engeren Lebens- und Wirkungskreis von der Reckes hinaus. Irmgart Scheitler untersucht etwa die Vertonung der Geistlichen Lieder von der Reckes durch Johann Adam Hiller, Hartmut Watzlawick stellt Überlegungen von der Reckes und Casanovas nebeneinander. Gaby Pailer konzentriert sich hingegen ganz auf das Werk der vielseitigen Schriftstellerin selbst und geht der „Gender-Performativität“ in deren Ball-Lied und den Familien-Scenen nach. Anna Gaidis begleitet von der Recke an den polnischen Königshof, Gabi Pahnke beleuchtet deren Freundschaft mit Johann Gottfried Seume. Doris Schumacher nimmt ihr Verhältnis zur Portraitkunst in den Blick. Kairit Kaur geht von der Reckes „Beitrag zur Entstehung der frühen belletristischen Prosa von Baltischen Frauen“ nach.
Die Herausgeberinnen selbst werfen in der Einleitung einen Blick auf die Jahre, bevor sich von der Recke zu einer „der exzeptionellsten weiblichen Akteure der Geisteslandschaft um 1800“ entwickelte. An ihrem 17. Geburtstag, dem 20. Mai 1771 , wurde die Heranwachsende mit dem Gutsbesitzer und Kammerherrn Georg Peter Magnus von der Recke verheiratet, mit dem sie für ein Jahrzehnt eine „unglückliche leidvolle Konvenienzehe“ führte. Doch hatte die junge Frau bereits nach der Hälfte der Zeit den Mut, die Entschlossenheit und die Kraft, ihn zu verlassen, womit sie sich den Weg zu einer „autonomen, unabhängigen Lebensform“ bereitete. Wie Maris Saagpakk zeigt, „zögerte“ sie „die Scheidung so lange hinaus“, weil sie wusste, „dass die Verwandten vehement auf eine erneute Heirat drängen würden“. Der jedoch konnte sie sich entziehen. „Konsequent unterlief“ von der Recke mit der Trennung und der Scheidung, vor allem aber mit ihrer späteren Lebensführung „das gängige Muster geschlechterspezifischen Rollenverhaltens“, wie die Herausgeberinnen feststellen. Eine von ihnen, Vera Viehöver, korrigiert in einem weiteren Beitrag das in der Forschung tradierte „Recke-Bild, das diese enorm umtriebige und produktive Akteurin der Aufklärung auf das Klischee einer Leidenden festlegt“, und kritisiert, dass die „Verknüpfung von Lebens- und Leidenserzählung“ von der Reckes durch die Forschung „implizit ein Gender-Stereotyp transportiert, dem zufolge weibliches Leiden mit Passivität verknüpft ist“.
Adelheid Müller, ebenfalls Mitherausgeberin, führt die Lesenden in „Elisa von der Reckes gelehrte Praxis“ ein, indem sie deren „Bücherstudien“ nachgeht, die durchaus praktischen Zwecken dienten. So bereitete sich von der Recke auf ihren zweijährigen Italienaufenthalt mit „umfassenden autodidaktischen Studien“ vor, die von ihr „während der Reise fortgeführt und für die Dokumentation des Aufenthalts vertieft wurden“. Nebenbei führt Müller die damals trotz aller Aufklärung virulenten Weiblichkeitsklischees in all ihrer Misogynität vor. So klagte August Heinrich Julius Lafontaine in ironisch geheucheltem Bedauern: „Schade, daß in der Natur unsere von den Damen so beneideten Reisen ein wenig anders koloriert sind, als in dem Boudoir“. Doch ganz „entgegen Lafontaines Suggestion eines männlich-aktiven versus weiblich-passiven Daseins wich die Lebenswirklichkeit unzähliger Frauen des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts von diesem mit diffamierendem Unterton präsentierten Topos ab – diejenige Elisa von der Reckes in mehrfacher Hinsicht“.
Der vornehmlich an die Fachwelt gerichtete Band bietet auch – oder vielleicht gerade – dem interessierten Laienpublikum Einblicke in die Gedankenwelt, das Wirken und das Leben Elisa von der Reckes in ihrem baltischen Umfeld und ihre nie bloß touristischen Reisen.
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