Dokumente eines Lebens
Zum 150. Geburtstag erscheint eine repräsentative Sammlung mit Texten des Malers und Revolutionärs Heinrich Vogeler
Von Martin Schönemann
Jubiläen haben ihr Gutes: Zum 150. Geburtstag von Heinrich Vogeler (1872–1942) erscheint erstmals eine repräsentative Sammlung mit Texten aus den verschiedenen Lebensphasen des Künstlers, die dessen ungewöhnlichen Lebensweg besser verstehen lässt. Zwar mangelte es auch bisher nicht an Veröffentlichungen über Vogeler – sein Leben wurde schon aus verschiedensten Blickwinkeln betrachtet. Doch bleibt das Bild widersprüchlich: Man kennt Vogeler als weltfernen, verträumten Jugendstilkünstler, aber auch als Lebensreformer, der wegweisende Möbel- und Besteckentwürfe vorlegte; Vogeler gründete eine utopisch-sozialistische Kommune und eine Produktionsschule, er war aber auch als treuer Parteisoldat am Aufbau in der Sowjetunion beteiligt.
Entsprechend gehen die Meinungen über Vogeler auseinander: Manche begeistern sich für die überspannten, faszinierend eleganten Jugendstil-Werke, andere präferieren die bescheidenen, eindringlich impressionistischen Landschaftsdarstellungen und Portraits aus entlegenen Gegenden des sowjetischen Imperiums, zum Beispiel aus Karelien und Kasachstan.
Das nun erschienene Buch hält sich von solchen Streitereien fern, wie schon sein äußeres Erscheinungsbild zeigt. Es heißt schlicht Schriften, hat einen schlichten weißen Einband und verzichtet auch im Inneren fast ganz auf Abbildungen. Gerahmt von einem kurzen Vor- und Nachwort versammeln die Herausgeber – der ausgewiesene Vogeler-Forscher Walter Fähnders und Helga Karrenbrock, die mit Forschungen zur klassischen Moderne hervorgetreten ist – verschiedenste zu seinen Lebzeiten erschienene Vogeler-Texte. Im Kommentarteil werden jeweils der Erscheinungsort, oft auch die Erscheinungsumstände, präzise erläutert. Die Herausgeber verzichten aber (von dem sehr kurzen Nachwort abgesehen) auf eine inhaltliche Einordnung, mit wissenschaftlicher Zurückhaltung gehen sie einer Wertung aus dem Wege. Sie haben das Buch als Materialsammlung, als wissenschaftliches Nachschlagewerk angelegt.
Auch inhaltlich kommen die Schriften betont nüchtern daher: Mit Ausnahme eines frühen Gedichts und des berühmten Kaiserbriefs handelt es sich um Gebrauchstexte, die in und für die aktuelle künstlerische oder politische Auseinandersetzung geschrieben wurden und den heutigen Leser kaum noch berühren. Spannender als die Texte selbst sind oft die Erscheinungsumstände, die der Kommentarteil erläutert.
Der Leser erfährt, wie gut Vogeler vernetzt war. In der Revolutionszeit nach dem 1. Weltkrieg – erst in dieser Zeit beginnt Vogeler zu schreiben – entstehen zahlreiche politische Texte, oft in Broschürenform, mit denen er in die politischen Kämpfe seiner Zeit eingreift. Die Erscheinungsumstände zeigen, dass der Autor alles andere als der einsame, weltferne Träumer war, für den er oft gehalten wird. Vielmehr stand er in gutem Kontakt zu anderen revolutionär gesinnten Menschen. Sein Anwesen in Worpswede, der Barkenhoff, galt – nicht anders als vor dem Weltkrieg für die Worpsweder Künstler – als wichtiger Treffpunkt, etwa für die Anhänger der Bremer Räterepublik. Und auch nach seiner Barkenhoff-Zeit, als Vogeler unter anderem für die kommunistische Partei in Berlin, für die junge Sowjetunion in Karelien oder für die Schweizer Kommune Fontana Martina arbeitete, beweisen die Vielzahl und breite Streuung seiner Veröffentlichungen, wie aktiv und lebendig er als Künstler handelte.
Man versteht beim Lesen der Schriften auch gut, was Vogeler ein Leben lang antrieb: Es ging ihm immer um einen Weg „heim zur versöhnenden Mutter aller Dinge, zur Erde“, wie er 1920 schrieb. Deshalb kaufte er sich 1895 vom väterlichen Erbe die Kleinbauernstelle in Worpswede, die er „Barkenhoff“ nannte. Nach dem Krieg organisierte er den Hof als Kommune, theoretische Überlegungen dazu veröffentlichte er 1919 unter dem Titel Siedlungswesen und Arbeitsschule. 1923 zerfiel die Kommune. Vogeler verließ Worpswede mit seiner neuen Frau Zofia, einer Tochter des prominenten kommunistischen Funktionärs Julian Marchlewski.
Der Traum vom autonomen bäuerlichen Leben blieb ihm aber zeitlebens. 1924 reiste er mehrere Monate durch das sowjetische Karelien und begeisterte sich für das dortige Siedlungswesen. Um 1930 erwog er, der Kommune Fontana Martina im Tessin beizutreten. Und auch am Ende seines Lebens spielte die Idee noch eine Rolle. Vogeler konnte nach einem längeren Sowjetunion-Aufenthalt 1933 nicht nach Deutschland zurückkehren, wo Hitler die Macht ergriffen hatte. Er lebte seitdem in Moskau im Exil. Reisen konnte er nur noch in der Sowjetunion. In den Texten dieser Jahre schwärmt er vom „wirtschaftlichen Aufschwung“ der „bäuerlichen Kollektivwirtschaften“ (so 1935 im Gespräch mit Frans Masareel) oder einem Ritt über „die blumenreichen Wiesenteppiche […] von grandioser Schönheit“ in einem armenischen Dorf in Bergkarabach.
Offenbar hat Vogeler ein Leben lang hingebungsvoll für diese Idee von einem gemeinschaftlichen, erdverbundenen Leben gekämpft – und sich dabei oft auch leidenschaftlich geirrt. Überströmende Liebe führte ihn nicht selten zu Einschätzungen, die mit der Realität nicht übereinstimmen. Besonders schmerzlich berühren solche Fehleinschätzungen, wenn man als Leser dabei zusieht, wie Vogeler bereitwillig die eigenen Verdienste, die eigenen Mitstreiter schlecht redet, um einer Ideologie zu genügen.
Dabei mag es noch angehen, wenn er die eigenen Werke aus der Vorkriegszeit in Bausch und Bogen verdammt – im Zuge einer künstlerischen Weiterentwicklung sind derartige Übertreibungen manchmal vielleicht sinnvoll. Unschöner wirkt die Beschimpfung seiner anarchistischen Mitstreiter als „Terroristen“, als die Barkenhoff-Kommune um 1922 auseinanderfällt und Vogeler sich der KPD-Linie annähert. Ganz besonders aber befremden die Texte aus den späten zwanziger Jahren und vor allem aus der Zeit ab 1931, als Vogeler in der Sowjetunion lebte. Vielleicht anfangs noch aus Überzeugung und redlichem Selbstbetrug, später sicher mehr und mehr gezwungen wird der Autor hier zum Sprachrohr stalinistischer Ideologie. 1935 behauptet er in Anlehnung an Stalinsche Gedanken, nur im Sozialismus könne sich die Individualität entfalten, und 1941, kurz nach dem Höhepunkt des großen Terrors, dem Hundertausende Menschen, darunter auch viele Künstler, zum Opfer fielen, heißt es über die Freiheit der Kunst in der Sowjetunion: „Dazu sind in diesem Lande alle Garantien gegeben.“
Ein literarisches Lesevergnügen ist all das natürlich nicht. Es fragt sich sogar, ob es unbedingt notwendig ist, wirklich alle diese tagesaktuell relevanten, literarisch nicht besonders wertvollen Texte noch einmal getreulich neu zu edieren, etwa den Lebenslauf Vogelers aus dem Jahr 1933, in dem er zwecks Wiederaufnahme in die kommunistische Partei selbstkritisch erörtert, wann er wo und warum links und dann wieder rechts von der Parteilinie abgewichen ist.
Spröde und unattraktiv wirkt der Band auch, weil er weitgehend auf Abbildungen verzichtet. Nur ein paar nichtssagende Skizzen aus Vogelers Kriegszeit sowie aus den Reiseberichten aus der Sowjetunion sind beigegeben, während dort, wo es wirklich um Kunst geht und Vogeler anhand von Kunstwerken argumentiert, auf die erklärenden Abbildungen aus der ersten Veröffentlichung verzichtet wird.
Offenbar verstehen die Herausgeber die Edition ausdrücklich als archivalische Quelle, und als solche ist sie auch wertvoll: Sie versammelt verstreute und teilweise schwer zugängliche Texte Vogelers und sichert der Nachwelt zahlreiche interessante biografische Details. Wer sich für Vogelers Leben interessiert, für den ist das Buch eine reichhaltige Fundgrube.
Wer jedoch heute noch etwas spüren will von dem, was Vogeler beseelte, dem seien nicht die Schriften des talentlosen Schreibers, sondern seine hervorragenden bildkünstlerischen Werke empfohlen.
![]() | ||
|
||
![]() |