Mit den Krallen einer Frau

Judith C. Vogt und Christian Vogt bringen mit ihrem SF-Roman „Wasteland“ den Hopepunk nach Deutschland

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lange Zeit galt Science Fiction als eine Literaturform, die von Männern für Männer (oft jüngeren Alters) geschrieben wurde. Dabei sind zwar nicht viele, aber doch einige Autorinnen schon seit dem 19. Jahrhundert in dem Genre unterwegs. Im deutschsprachigen Raum war die unter dem Namen Johanna Constantia Katharina Emilie Schmidt geborene Hamburgerin Marquesa Emilia Bufalo della Valle vermutlich die Erste. Unter dem Pseudonym Moderatus Diplomaticus veröffentlichte sie Die Deutschen und Engländer im Mond 1873 als „Humoristisches Lustspiel“. Sie ist lange vergessen. Die Namen anderer sind allerdings noch heute geläufig, mögen sie auch nicht eben für ihre Zukunftsromane bekannt sein. Zu denken ist etwa an Bertha von Suttner, deren Roman Das Maschinenzeitalter 1889 ebenfalls unter Pseudonym erschien. 22 Jahre später ließ sie den Zukunftsroman Der Menschheit Hochgedanken folgen. In den 1960er- und 70er-Jahren waren es US-amerikanische Autorinnen wie Ursula K. Le Guin, die ihren SF-Kollegen den Rang abliefen und etliche Preise einheimsten. In Deutschland reüssierten zwei in der DDR ansässige Ehepaare mit ihren SF-Werken: Ab den 1970ern Johanna und Günter Braun, deren Bücher mangels Linientreue ab den 1980ern allerdings nur noch in der BRD erscheinen konnten. Dafür waren vom Beginn dieses Jahrzehnts an Angela und Karlheinz Steinmüller in beiden deutschen Staaten erfolgreich.

Heute macht in Kreisen deutscher SF-Fans wiederum ein Ehepaar von sich reden: Judith und Christian Vogt. Nachdem sie in den letzten Jahren bereits einige teils separat, teils gemeinsam verfasste Fantasy- und Science Fiction-Werke veröffentlicht hatten, erschien 2019 ihr SF-Roman Wasteland. Beachtung verdient er vor allem darum, weil er mit dem in verschiedenen Genres und Medien beliebten Subgenre des Grimdark bricht, das so bedeutende literarische Werke wie etwa Sibylle Bergs GRM. Brainfuck und Sandra Newmans Ice Cream Star hervorgebracht hat, zu dem aber auch Fernsehserien wie Breaking Bad oder Fear the Walking Dead zu rechnen sind.

Hopepunk ist nun das gerade Gegenteil derart düsterpessimistischer Visionen. Wie der Name nahelegt, setzt er ihnen eine hoffnungsfrohe Sicht auf Menschen und Welt entgegen. Wasteland, der Titel des Romans der Vogts, klingt nun allerdings nicht eben glücksverheißend, sondern lässt eher ein apokalyptisches Setting erwarten. Und tatsächlich, die Handlung spielt zu Anfang des Jahres 2064 in einem nach zwei biologisch geführten Kriegen zerstörten Europa, namentlich in Deutschland. Das klingt soweit nicht sonderlich originell.

Die überlebenden Menschen können nur noch in schmalen, Turfs genannten, Landstreifen und eher eng begrenzten Orten leben, die nicht vom bewaldeten und giftdurchseuchten Wasteland überwuchert sind. Beherrscht werden die bewohnbaren Landstriche von gewalttätigen Motorradgangs, die „friedlich umherziehende Großfamilien“ plündern. Im Gebiet der Eifel sind das die Broker, die ihre Hauptstadt „Turf-Town“ auf einem gigantischen Schaufelradbagger errichtet haben, mit dem sie Angst und Schrecken verbreiten. Sie werden über die gesamte Handlung hinweg undifferenziert und ohne jede Ambivalenzen negativ dargestellt.

In ihrer brutalen Gesellschaft haben sich Anfänge eines Kultes mit „religiöser Konnotation“ herausgebildet, der auf dem vermutlich weitgehend oder völlig zusammengebrochenen World Wide Web basiert, dem eine „höhere Weisheit“ zugeschrieben wird. In Kontakt mit ihm kann jedoch nur der jeweilige Root treten – für die Broker eine „Respektperson“ und ein „Ehrenmann“, für Zeeto vom Handgebunden-Markt jedoch nur „ein durchgeknallte[r] Schamane“. Der aktuelle Root der Broker hat jedoch ein Problem: das „WiFi“ funktioniert nicht mehr und er ist von den Überresten des WWW abgeschnitten.

Der Handgebunden-Markt, in dem Zeeto lebt, ist das gerade Gegenteil der hierarchisch organisierten Broker-Gesellschaft, an deren Spitze eine Queen steht. Die etwa 500 EinwohnerInnen des Marktes leben in einer Gemeinschaft, die nicht nur divers und multikulturell, sondern anarchistisch organisiert ist. Und zwar „im ursprünglichen Sinn. Eine Ordnung ohne Herrschaft“, wie die AutorInnen den Urvater des Anarchismus Pierre-Joseph Proudhon zitieren.

Als „wahrhaft neutraler Grund“ ist er vor den Brokern geschützt, weil diese auf den Handel sowie auf die dort angebotenen Waren und Dienstleistungen angewiesen sind. Alle, die ihn aufsuchen, „um zu tauschen und zu handeln, können solange bleiben, wie sie wollen“. In die Gemeinschaft aufgenommen „wird man aber nur, wenn man seinen Besitz aufgibt“. Von da an „wird man gemeinschaftlich durchgefüttert und muss im Gegenzug Dienste erfüllen“. Die Menschen des Marktes leben in Großfamilien, die nicht auf biologischen Verwandtschaftsverhältnissen gründen. So gibt es etwa in Zeetos Familie drei Großmütter. Dabei hat es „nichts mit Altersunterschied oder Verwandtschaftsgrad zu tun“, jemandes Oma zu sein.

Merkwürdig ist allerdings, dass jemand in dieser anarchistisch organisierten Gemeinschaft anderen einen Gefallen schulden kann oder sie anflehen muss, etwas leihweise überlassen zu bekommen, heißt es doch bei Proudhon auch, Eigentum sei Diebstahl. Zudem verwundert es, dass die AnarchistInnen sofort „gehorch[en]“, wenn sie von einer der ihren angeherrscht werden: „Schnauze halten, alle!“  

Nennen sich die Markt-Leuten selbst „Hoper“, so verachten sie die Broker als „Toxxer“. Die Selbstbezeichnung und die Anspielung auf biologische Gifte, die immerhin den Untergang der ehemaligen Zivilisation bedeuteten, sind wenig subtil. Die Anleihe bei dem in jüngerer Zeit gebräuchlichen und nicht selten in Verbindung mit einer bestimmten Form von Männlichkeit gebrauchten Begriff toxisch geht damit einher, dass sich die Hoper – und merkwürdigerweise auch die Toxxer – einer gendersensiblen Sprache bedienen, die mehr als nur zwei Geschlechter kennt. Zwar weiß niemand mehr, wie die zu Ruinen verkommenen Städte der Umgebung einmal hießen, doch hat die zu Beginn des 21. Jahrhunderts aufkommende Gepflogenheit queerer und ‚woker‘ Menschen Bestand, bei der Vorstellung das Personalpronomen zu nennen, mit dem sie angesprochen werden möchten. Es gibt „Männer, Frauen und Enbys“. Letztere sind Personen nonbinären Geschlechts, die mit dem Personalpronomen „ser“ adressiert werden. Nur eine „Faschosekte“ mit dem sprechenden Akronym KKK kennt nicht mehr als zwei Geschlechter. Ebenso die gegen Ende des Romans auftretenden Bunkerleute. Vor allem letztere übertreffen selbst die Broker noch an Infamie.

Zu der gendersensiblen Sprache passt, dass traditionelle Geschlechterrollen und -klischees wiederholt konterkariert werden. So bekennt etwa eine männliche Figur, er sei jemand, „der wirklich wegen allem heult“, und eine weibliche schwärmt wiederholt davon, wie toll die Wimpern eines jungen Mannes aussehen. Zwar gibt es in keiner der Gesellschaften ausgeprägte patriarchale Strukturen, auch keinen Sexismus, wohl aber Vergewaltigungen, wobei es Frauen sind, denen sie angedroht werden. Das ist wenig stimmig und offenbar auch nicht recht durchdacht.

Erzählt wird das Geschehen von zwei einander abwechselnden Ich-ErzählerInnen, die zugleich als Identifikationsfiguren fungieren. Einer von ist besagter Zeeto, ein 22-jähriger Schwarzer mit bipolarer Störung, der gerne einen ironischen Ton anschlägt und gelegentlich zu Reflexionen neigt. Liebe, überlegt er einmal, sei „eine soziale Erfindung, die in unserer Kultur jahrhunderte-, vielleicht jahrtausendelange Tradition hat und in anderen Kulturen nicht auf diese Art und Weise zu finden ist“. Angesichts des anarchistischen Marktes, der nach der Katastrophe entstanden ist, fragt es sich, was er mit „unserer Kultur“ meint, die Jahrtausende alt sein soll. Mag es mit der Liebe sein, wie es will, Sex ist jedenfalls nicht unbedingt eine ungefährliche Angelegenheit. Eine Frau kann da schon einmal die Krallen ausfahren, wie eine der Figuren schmerzvoll erfahren muss.

Laylay, die andre Ich-ErzählerIn ist türkischstämmig, ein Jahr jünger als Zeeto und mit ihrem „Dad“ Azmi auf einem Beifahrer-Motorrad unterwegs. Auch sie scheint an einer Erkrankung zu leiden, denn ihr Vater verabreicht ihr regelmäßig ein Medikament.

Beide ErzählerInnen orientieren sich an gesprochener Sprache und reden die Lesenden auch schon einmal direkt an. So etwa Zeeto nach einem seiner kleinen, in Klammer gesetzten Exkurse: „Entschuldigt, wenn ich springe, ich weiß, dass das anstrengend ist, ihr könntet das auch ruhig ein bisschen schneller lesen.“ Auch bedienen sich beide zahlreicher Metaphern, die nicht immer ganz glücklich gewählt sind, worüber sie sich gelegentlich selbst lustig machen. So vergreift sich Laylay etwa mit der Formulierung: „seine Stimme fuhr wie ein Metalllöffel in den warmen, gemütlichen Gewürzbrei, den der Handgebunden-Markt darstellt, um mich herauszulöffeln“ und erklärt sie sogleich zu einer „dämliche[n] Metapher!“. Wenige Zeilen später glaubt sie etwas „so glasklar […] gesehen“ zu haben, „wie durch ein blank geputztes Fenster der Hoffnung“ und murrt über sich selbst „okay, was ist heute los mit mir und Metaphern, Leute?“ Auch ironisieren beide die Schwächen des Plots: „Es war wie in einem schlechten Film, einer mit Genexperimenten, bei denen Mutationen herauskommen und – Plottwist! – die Protagonistin merkt, dass sie selbst dazugehört“. Ungeachtet einer gemeinsamen Vorliebe für Metaphern und direkter Ansprachen an die Lesenden unterscheiden sich beide Erzählstimmen deutlich. Mag sein, dass die AutorInnen jeweils einen der Parts schrieben.

Nachdem das Geschehen bereits recht weit vorangeschritten ist, wird auch aus der Perspektive einer weiteren Figur erzählt, derjenigen des Roots der Broker. Diesmal allerdings nicht in der Ersten Person Singular, sondern in der Dritten. Schließlich ist er alles andere als eine Identifikationsfigur.

Die Handlung setzt damit ein, dass Zeeto in einem Schutzanzug durch das Wasteland vor dem Markt streift und auf eine tote Frau mit einem noch lebenden Baby stößt. Bei dem Versuch, es zu retten, geht seine Atemmaske kaputt, sodass ihm ein sich über Monate hinziehender qualvoller Erstickungstod droht. Im weiteren Verlauf der Geschichte geht es im Wesentlichen darum, eben das zu verhindern, das Geheimnis zu lüften, welches das Baby umgibt, und herauszufinden, warum Laylay gegen die Wasteland-Krankheit immun ist. Zu seinem Ende hin wird der Roman zunehmend inkonsistent und erzählerisch schwächer. Dass die beiden ProtagonistInnen fürs erste mit dem Leben davonkommen, verdanken sie „reine[m] unverfälschte[m] Glück“. Doch auch das wird ironisiert, „wenn das hier eine Geschichte wäre, würde ich sagen, dass es vollkommen unglaubwürdig ist“.

Letztlich handelt es sich bei Wasteland um einen Abenteuer- und Liebesroman für Jugendliche. Allerdings mit gesellschafts- und geschlechterkritischem Anspruch, einer Moral von der Geschicht’ und gleich mehrerer Botschaften, welche die Lesenden auch schon mal allzu aufdringlich anspringen können. Bei all dem kommt es nicht so sehr darauf an, ob es ein Happy End gibt, sondern darauf, die Hoffnung nicht zu verlieren. Hopepunk eben.

Titelbild

Judith C. Vogt / Christian Vogt: Wasteland. Roman.
Knaur Taschenbuch Verlag, München 2019.
400 Seiten, 14,99 EUR.
ISBN-13: 9783426523919

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