Sommerhauptstadt und Datscha von ganz Europa

Marion Voigt hat ein Buch über Baden-Baden und die russische Literatur im 19. Jahrhundert vorgelegt

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die „Sommerhauptstadt Europas“, wie Baden-Baden damals genannt wurde, war für viele bekannte Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts ein beliebtes Sehnsuchtsreiseziel oder sogar Wohnsitz, darunter auffallend viele russische Schriftsteller. Sie waren willkommene Gäste. Lew Tolstoi, Fjodor Dostojewski, Nikolai Gogol oder Anton Tschechow hinterließen hier ihre Spuren.

Die Autorin und Baden-Baden-Kennerin Marion Voigt unternimmt in ihrer Neuerscheinung einen ausführlichen Spaziergang durch den mondänen Kurort an der Oos auf den Spuren russisch-europäischer Geschichte. Die besonderen badisch-russischen Beziehungen, die im Vorwort näher beleuchtet werden, begannen bereits mit der Hochzeit des späteren Zaren Alexander I. und Luise von Baden 1793 in St. Petersburg. Bereits zwanzig Jahre zuvor hatte Wilhelmine von Hessen-Darmstadt den nachmaligen Zaren Paul I. geheiratet. Danach werden in sieben Kapiteln die prominentesten russischen Baden-Baden-Gäste vorgestellt.

Eine Schlüsselfigur war der Zarenerzieher und Puschkin-Förderer Wassili Andrejewitsch Schukowski (1783-1852), der neben eigenen Werken vor allem als Übersetzer hervortrat. Seine enge Beziehung zu Deutschland wurde noch durch die Heirat 1841 mit der Künstlerin Elisabeth von Reutern (1821-1856) bestärkt. Das Paar lebte zunächst in Düsseldorf und danach in Frankfurt, ehe es ab 1848 in Baden-Baden für Schukowski ein letztes Zuhause fand.

Fürst Pjotr Andrejewitsch Wjasemski (1792-1878) wurde durch patriotische Gedichte und seine journalistischen Arbeiten bekannt. Der „literarische Aristokrat“, der am russischen Hof als Dichter umstritten war, musste als Bildungsminister eine Reform der Zensur vorlegen. Nachdem ihm klar wurde, dass er in seiner offiziellen Position zwischen allen Stühlen saß, nahm er seinen Abschied: Lieber wollte er die Zensur als Schriftsteller bekämpfen und nicht als Chefzensor. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er in Baden-Baden.

Nikolai Wassiljewitsch Gogol (1809-1852) war der erste der bedeutenden russischen Schriftsteller, der sich für Baden-Baden begeisterte. 1836 kam er zum ersten Mal nach Baden-Baden, doch nach wenigen Wochen hatte er genug von dem Müßiggang im Kurort. Aber nach fünf Jahren, inzwischen war Gogol nach der Veröffentlichung seines Romans Tote Seelen (1842) ein berühmter Schriftsteller, kam er wieder nach Baden-Baden. Es sollten noch zwei weitere Aufenthalte folgen.

Von allen russischen Autoren war Iwan Sergejewitsch Turgenjew (1818-1883) am engsten mit Baden-Baden verbunden, lebte er hier doch von 1863 an immerhin acht Jahre. Hier war er festes Mitglied des Künstlerkreises der bekannten Musikerin Pauline Viardot-García (1821-1910), für die er einige Übersetzungen anfertigte. In seinem Roman Rauch (1867) beschrieb Turgenjew das Leben der russischen Kurgäste in Baden-Baden.

Im September 1863 kam auch Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821-1881) während einer Europa-Reise erstmals für einige Tage nach Baden-Baden. Bereits hier fand er Gefallen am Glücksspiel. Sein zweiter Aufenthalt im Jahr 1867, der eigentlich als Hochzeitsreise geplant war, gestaltete sich aber zu einer Flucht vor den Gläubigern. Mit einem „sicheren System“ beim Roulette wollte er immer wieder neue Schulden tilgen oder seine Reisekasse aufbessern. Seine Spielsucht verarbeitete er 1866 in dem Roman Der Spieler, den er innerhalb von drei Wochen verfasste. Das Haus, in dem er damals lebte, steht heute noch mitten in der Altstadt. Zu einer Annäherung von Turgenjew und Dostojewski kam es während des gemeinsamen Aufenthaltes jedoch nicht.

Neben Turgenjew und Dostojewski hielt sich im Sommer 1867 auch Iwan Alexandrowitsch Gontscharow (1812-1891) in Baden-Baden auf. Er war der Älteste dieses Trios und wurde vor allem berühmt für seinen Roman Oblomow (1859), die Geschichte eines Mannes, der aus Angst vor Ungemach und durch seine materielle Sicherheit in Passivität erstarrt und seine Untätigkeit pflegt. Noch Mitte September kehrte Gontscharow nach St. Petersburg zurück, wo er sich bald in den Ruhestand versetzen ließ und sich von der großen Bühne zurückzog.

Die Zierde des Kurorts waren jedoch die Frauen, vor allem die weiblichen Gäste mit ihren wechselnden Garderoben für die Trinkhalle, den Musikpavillon, das Kaffeehaus, den Spielsaal oder den Abendball. Eine Freundin der russischen Dichter war Alexandra Ossipowna Smirnowa (1809-1882), die von ihnen bewundert wurde. Die Ehefrau des kaiserlichen „Hofrath und Legationssecretaire“ Nikolai Michailowitsch Smirnow (1807–1870) war besonders mit Gogol verbunden. Den geistigen Austausch mit ihm hielt sie später in ihren Erinnerungen an Gogol (1877) fest.

Mithilfe zeitgenössischer Quellen (u.a. Badeblatt für die großherzogliche Stadt Baden) und den Originaltexten (Tagebuchnotizen oder Briefen) der russischen Literaten nähert sich Voigt deren Biografie und Werken, von denen viele in Baden-Baden entstanden oder zumindest hier angeregt wurden. Durch die historischen Hintergrundinformationen wird man vielleicht die Klassiker der russischen Literatur unter einem anderen Blickwinkel lesen.

Detailliert berichtet die Autorin von den kulturellen und gesellschaftlichen Verbindungen und Begegnungen. Ein besonderer Aspekt ist der damalige Streit zwischen Westlern und Slawophilen, der die russischsprachige Literatur und Publizistik vor 150 Jahren prägte und verblüffend auch ein Schlaglicht auf die heute politische Situation zwischen Russland und der Ukraine wirft. Mit zahlreichen Originaltexten und historischen Abbildungen wird außerdem ein Bild des städtischen Lebens im 19. Jahrhundert in Baden-Baden vermittelt.

Titelbild

Marion Voigt: Verheißung und Dekadenz. Baden-Baden und die russische Literatur im 19. Jahrundert.
Mit einigen historischen Abbildungen.
8 grad verlag, Freiburg 2024.
228 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783910228078

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