Lesen in der Corona-Krise – Teil 18

Zwei Sorten von Sterbenden: John von Düffels neuer Roman „Die Wütenden und die Schuldigen“ widmet sich einer zerrütteten Familie in Corona-Zeiten

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der 55-jährige Schriftsteller John von Düffel, der seit vielen Jahren als Dramaturg am Deutschen Theater in Berlin arbeitet, hat in seiner literarischen Arbeit offenbar einen Wettlauf mit der Aktualität gestartet. Im letzten Jahr war der Roman Der brennende See erschienen, in dem er den Generationen-Konflikt im Kontext der „Fridays-for-Future“-Bewegung thematisierte. Nun hat er sich einer zerrütteten Familie angenommen, die unter den erschwerten Bedingungen der Corona-Einschränkungen krampfhaft, aber letztlich erfolglos, wieder zueinander finden will.

„Mir geht`s gut – abgesehen davon, dass mein Opa stirbt, meine Mutter in Quarantäne ist, mein Vater in der Psychiatrie und mein Bruder sich um gar nichts kümmert“, bekennt die aufopferungsvoll gegen den Zerfall der Familie kämpfende Selma. Ihr Großvater Richard, Pfarrer mit Leib und Seele, lebt auf einem Dorf in der Uckermark und kämpft gegen den Krebs im Endstadium. Mit der Palliativmedizinerin Kathi Kuhn, einer Freundin und Arbeitskollegin ihrer Mutter Maria, macht sich Selma auf den Weg in die Provinz. „Bei chronischen Schmerzen empfiehlt sich eine andere Medikamentengabe, kein Fluten und Verebben, sondern ein stetiger Pegel“, klärt Kathi Richards Enkelin auf.

Mutter Maria, Anästhesistin an der Berliner Charité, befindet sich in häuslicher Quarantäne und freundet sich während dieser Zeit mit einem im gleichen Haus lebenden Rabbi an. Ihr Ex-Mann Holger hat einen Suizidversuch hinter sich und sitzt in der Psychiatrie. Seine Mutter war einst bei seiner Geburt gestorben. Sein Vater, Pfarrer Richard, konnte ihn nicht lieben. Sie hatten nur sporadisch Kontakt, jetzt quälen Richard Schuldgefühle.

Dann ist da noch Jakob, Selmas Bruder, der von seiner Freundin rausgeschmissen wird und dann bei Mutter Maria Unterschlupf findet. Er verliebt sich in eine Kunstprofessorin, Drogen sind sein Ausweg aus der unerwiderten Liebe. 

John von Düffel beschreibt schonungslos, vielleicht hier und da etwas zu effektvoll die Zerstörung einer Familie, die von jedem Mitglied höchst unterschiedlich wahrgenommen wird. Angst vor Fremden, Selbstmitleid, verpasste Chancen, sich auszusprechen, das freudlose Leben in der Provinz der Uckermark: Hier köchelt es gewaltig, und Corona wirkt wie ein zusätzlicher Schmerzverstärker. Es sind keine zwanglosen Treffen mehr möglich, die Interaktion beschränkt sich auf Telefonate und Social-Media-Kanäle, aber es fehlt die Kommunikation von Angesicht zu Angesicht, mit Gesten, Mimik und mit körperlicher Nähe.
Richard will sich auf dem Sterbebett mit seinem Sohn irgendwie aussöhnen, von allen anderen bekommt Holger den „schwarzen Peter“ zugeschoben und wird verantwortlich gemacht für das familiäre Desaster. Die Palliativmedizinerin Kathi klärt Selma im Haus des Pfarrers auf, dass es zwei Sorten von Sterbenden gibt: „Die Wütenden und die Schuldigen.“

John von Düffel profitiert in diesem Roman von seinen Erfahrungen, als er 2014 die Palliativmedizinerin Petra Anwar bei der Arbeit begleitet hat. Gemeinsam hatten sie das Sachbuch Was am Ende wichtig ist. Geschichten vom Sterben verfasst. „Die erschreckende Feststellung war, dass sehr viele Menschen noch so viel Unerledigtes im Leben zurücklassen“, berichtete von Düffel einst über dieses Buch. Und in genau jenem diffizilen Zustand befindet sich der Pfarrer Richard – im festen Wissen, dass die ihm verbleibende Zeit nicht ausreichen wird, um das zu kitten, was ihn an seinen letzten Lebenstagen bewegt. Das geht unter die Haut und lässt nach der Lektüre ein Gefühl der völligen Ohnmacht entstehen.

Weniger geglückt sind von Düffels Beschreibungen des Provinzkaffs in der Uckermark. Die Dorfjugend ist kurz geschoren und dauer-alkoholisiert: „Sie glotzen nur blöd, aber nicht blöd genug, fand Selma, zuschauerblöd, nicht täterblöd.“ Es tauchen auch noch zwei krebskranke Katzen im Dorf auf (eine soll aus der Psychiatrie entlaufen sein, in der Holger untergebracht ist), und es gibt einen WLAN-Hotspot am Kirchturm. Solch eine Symbolik mit der Brechstange trübt ein wenig den Gesamteindruck dieses Romans von John Düffel, in dem er die Untiefen des menschlichen Miteinanders und das erbarmungslose Warten auf den Tod präzise und mit teils makabrem Witz beschreibt. „Er brauchte nichts gegen die Schmerzen, sondern etwas gegen die Erinnerung“, beschreibt Palliativmedizinerin Kathi Richards hoffnungslosen Zustand. 

 

Hinweis: Alle bisher erschienenen Teile unserer Reihe „Lesen in der Corona-Krise“ finden Sie hier.

 

Titelbild

John von Düffel: Die Wütenden und die Schuldigen.
DuMont Buchverlag, Köln 2021.
320 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783832181635

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