Liebe, Glaube, Dichtung

Dirk von Petersdorffs Beobachtungen zu Johann Wolfgang Goethe in „Und lieben, Götter, welch ein Glück“

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Kulturphilosoph José Ortega y Gasset warb, ja forderte pathetisch, mit essayistischer Verve 1932: „Pidiendo un Goethe desde dentro“, in deutscher Sprache: „Um einen Goethe von innen bittend“. Nicht zudringliche Neugier oder eine letztgültige Deutung, wohl doch mehr Licht, ja eine Aufklärung über Johann Wolfgang Goethes verborgene Motive wünschte sich so mancher Zeitgenosse, mancher Nachgeborene. Das Werk zu betrachten und zu bedenken scheint nicht zu genügen. Die Sehnsucht nach Einblicken in die Denkwege und Leidenschaften der Seele des bisweilen allzu entrückt anmutenden, ebenso verklärten wie verehrten Dichters besteht fort. Der Jenenser Literaturwissenschaftler und Lyriker Dirk von Petersdorff forscht speziell zu den Themenbereichen „Liebe“ und „Glaube“. Er legt eine neue Annäherung an Goethe vor, zumeist behutsam, gelegentlich – gewiss in Goethes Sinne – mit zarter Empirie vorgehend, bisweilen aber auch spekulierend.

Petersdorff schreibt einleitend über den Dichter: „Dieses Ich zeichnet sich durch eine große Offenheit gegenüber seiner Umwelt aus und verhält sich nicht selektiv.“ Aber Sympathien für die Identitätsphilosophie hegt Goethe nicht, wie wohltuend. Er beobachtet lieber Naturphänomene und denkt darüber nach. Der Dichter kennt etwa auch die Ambitionen eines gewissen Doktor Heinrich Faust, aber dessen bekennerische Grübellust ist ihm doch fremd. Goethe dichtet, ordnet und erinnert sich. Er ist frei von jeder Absicht, einen universellen, lyrischen Schlüssel zur Deutung seiner Person anzubieten: „Wer seine Gedichte liest, so denkt Goethe, wird danach nicht sagen können, dass er den Menschen kennt, der sie geschrieben hat, dass er um dessen Lebensgefühl weiß oder dessen Prinzipien verstanden hat.“ Auch sei er, so Petersdorff, der Auffassung, dass es weder den „wahren Glauben“ noch die „richtige Liebe“ gebe. Gewiss, Goethe taugte nicht zum Romantiker. Er bekannte sich auch nicht zu einem absoluten Anspruch. Christiane Vulpius liebte er trotzdem sehr, nicht nur ihrer lebenspraktischen Tüchtigkeit wegen. Betrunkene Plünderer zogen durch Weimar und drangen bis ins Haus vor. Goethe jammerte, Christiane suchte Helfer, um die marodierenden französischen Soldaten zu vertreiben. Der Dichter war weder Pazifist noch Militarist, aber sicher kriegsuntauglich und manchmal auch mit den Dingen des täglichen Lebens überfordert.

Goethe, so Petersdorff, lebe poetisch Möglichkeiten aus, übe „scharfe Religionskritik“ und bekenne sich zugleich zum „Gottvertrauen“. Seine Überzeugungen nannte er selbst einen „bunten Kram“. Für die Religion gelte auf gewisse Weise dasselbe wie für die Liebe:

Er kennt die Liebe als Naturkraft, die sich mit allem eins weiß und keine klare Grenze zur Gewalt zieht. Er kann eine Affäre auskosten, die bewusst auf eine bestimmte Zeit hin angelegt ist, aber er kann auch eine stabile Beziehung loben, die auf gemeinsamen Überzeugungen beruht.

Charakteristisch für Goethe sei die „Uneindeutigkeit“ seiner Dichtung, die das „Nebeneinander einer Gesellschaft“ abbilde – ein Zustand, der auch Menschen von heute gut vertraut sei. So existierten „ganz selbstverständlich verschiedene Modelle von Liebe“. Goethes Gedichte zeigten, „wie geliebt werden kann“. Er lässt Entwicklungen zu, erkläre „nicht eine einzige Form der Liebe zur wahren“. Ihm gelinge eine „Ausdehnung des Sprechens über Liebe“. Die Liebe stifte eine Form von Identität, ohne dass über den Begriff geredet werden müsse. Jeder darf, aber niemand muss darüber philosophieren. Liebe führe Sinn mit sich, sie schenke Liebenden das Gefühl, sich als vollständige Menschen zu verstehen. Sicherlich, mag der Leser denken, auch das gehört dazu. Die Selbstvergessenheit mag Ekstasen in sich bergen, vor allem schenkt sie Gelassenheit. Liebende machen nicht viele Worte und geben sich einfach hin. So einfach? Ja, manchmal schon.

Goethes Metaphern deutet Petersdorff allzu beherzt: „Als ob das Herz etwas Fremdes wäre oder eine Macht, die bestimmt und antreibt – und schon sitzt man auf dem Pferd.“ Das mag stimmen, aber Goethe galoppiert nicht davon. Er weiß, dass Liebe nicht deklamiert, „sondern nur gesehen, gesprochen und gefühlt wird“. Vor allem weiß Goethe auch zu schweigen. Schön ist, dass Petersdorff Goethes erotische, aufrichtige Zuneigung zu Christiane erkennt und anerkennt. Der Begriff „Liebesbegeisterung“ ist treffend. Die Weimarer Gesellschaft war deswegen sehr neidisch. Für den Dichter gilt: „Goethe stellt eine Liebe nicht von außen, sondern von innen dar, aus Sicht des Handelnden, und er kleidet sie auch nicht in eine Botschaft ein.“ Er bewertet nicht, moralisiert nicht, tadelt nicht, spricht auch nicht von Gelingen oder Scheitern. Goethe verzichtet auf eine Kategorienbildung. Liebe sei „Ausdruck von Freiheiten“, auch „nicht frei von Widersprüchen“. Er spricht davon mit „überraschendem Realismus“. Nur die Verknüpfung von Körperlichkeit und Moral, die Petersdorff vornimmt, bleibt latent unklar:

Körperlichkeit und emotional-gedankliche Einstimmung zweier Menschen gehören zusammen. In den Körper ist eine Moral eingebaut, die einen Liebesvollzug ohne echte Liebe verhindert. Ein Mensch, der einmal diese echte Liebe erfahren hat, kann, auch wenn er es kurzzeitig will, sich nicht mehr auf einfache Körperlichkeit reduzieren. Dem verweigert sich die Natur, die keine einfach tierische Natur mehr ist, sondern von Gefühlen durchdrungen wurde.

So wenig wie für die Liebe kenne Goethe in Sachen Religion und Glaube eine „eindeutige und knappe Antwort“. Religiosität sei für ihn eine „echte Frage“: „Goethe ist kein religiöser Autor im einfachen Sinn mehr, denn zahlreiche Fragen behandelt er rein immanent, aber er versucht, die ihn umgebenden Dinge in einen sinnhaften Kosmos einzuordnen, und er sucht nach einem Gefühl des Aufgehobenseins.“ Goethe konnte „religionsphilosophisch diskutieren“, in skeptischer Distanz verharren, aber auch „religiös denken und fühlen“. Machtvoll und wuchtig religionskritisch sei das Gedicht Prometheus: „Das Prometheus-Ich kennt keine Selbstzweifel und Fragen und muss sich nicht mühsam orientieren.“ Petersdorff nennt Goethes Prometheus „einsam“, gewiss aber birst er förmlich vor Zorn, Verachtung und Erregung. Nur bedingt überzeugt die aufgezeigte Parallele zu Immanuel Kant. Der Philosoph halte an der Notwendigkeit einer inwendigen Transzendenz fest, die Fragen offen lasse: „Auch Immanuel Kant, der die alte Metaphysik verabschiedet und eine neue innerhalb der Grenzen der Vernunft begründet, umspielt diese Grenze immer wieder.“ Doch weder Kant noch Goethe spielen, sie umspielen auch nichts. Kant bleibt sehr viel vorsichtiger, als dies Petersdorff darlegt. Der Philosoph zeigte die Schwächen der rationalistischen Metaphysik, begründete aber keine neue. Was er vorlegte, waren „Prolegomena“, also im Grunde Vorbemerkungen zu einer Metaphysik, die als Wisschenschaft auftreten könnte. Goethe bedenkt das „unfassbar Göttliche“: „Dichterworte klopfen an die Paradiespforte, umkreisen sie, öffnen sie nicht – aber sie lassen auch nicht von ihr ab.“

Abschließend möchte Dirk von Petersdorff – flott formulierend – die Spannweite von Goethes Denken noch einmal summarisch kennzeichnen. Er schreibt über „größte Seitensprunggefahr“, auch über den „zitternden alten Mann“, der sich 1821 in Ulrike von Levetzow „mit aller Wucht“ verliebt hatte, erwähnt „rauschhaft genutzte Spielräume“ und „Unsicherheiten wie Ängste“. Ob Goethe wirklich „in Glaubensdingen“ ganz einfach das „Jenseits beiseite fegte“, aber „Geister über einem Wasserfall singen“ hörte? Der Germanist fragt, ob „ein Geheimnis, das verbindlich entschlüsselt werden kann“, besteht oder ob die „letzte Einheit hinter den vielen Widersprüchen nur zu ahnen, aber nicht eindeutig zu fassen ist“. Vielleicht ließe sich das alles doch ein wenig einfacher verstehen: Goethe war ganz einfach Goethe, kein literarisches oder philosophisches Rätsel. Goethe durfte, wie jedermann sonst, er selbst sein – und als Person war er so viel mehr als die Summe aller seiner Dichtungen.

Titelbild

Dirk von Petersdorff: »Und lieben, Götter, welch ein Glück«. Glaube und Liebe in Goethes Gedichten.
Wallstein Verlag, Göttingen 2019.
272 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783835335424

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