Antisemitischer Boulevard

Melanie Wager dokumentiert eindringlich, wie das nationalsozialistische Hetzblatt „Der Stürmer“ seiner Leserschaft den Antisemitismus einbläute – und das Publikum eifrig mitmachte

Von Günther FetzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günther Fetzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das radikal-antisemitische Wochenblatt Der Stürmer und sein Alleineigentümer, Herausgeber und zeitweiliger Hauptschriftleiter Julius Streicher sind, um im Pressejargon zu sprechen, kein unbeschriebenes Blatt. Die wissenschaftliche Forschungsliteratur, vor allem deutscher und angelsächsischer Provenienz, ist umfangreich, und doch bietet das anzuzeigende Werk „Der Stürmer“ und seine Leser der Historikerin Melanie Wager, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände in Nürnberg tätig ist, einen deutlichen Erkenntnisfortschritt gegenüber bisherigen Arbeiten. Die Autorin geht in ihrem Buch, das eine gekürzte und überarbeitete Version ihrer Dissertation aus dem Jahr 2020 an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg ist, methodisch von einem interdisziplinären Ansatz einer historischen Medienwirkungsforschung aus, wie sie im jüngeren wissenschaftlichen Diskurs mehrfach gefordert worden ist. Hauptquelle der Arbeit ist das sogenannte Stürmer-Archiv im Stadtarchiv Nürnberg, ergänzt durch umfangreiche Recherchen in etlichen weiteren Archiven.

Nach einer kurzen Projektbeschreibung stellt Wager im ersten, mit Die Zeitung überschriebenen Großkapitel auf rund 200 Seiten zunächst den Gründer und Herausgeber Streicher, danach Schriftleitung, Verlag und Druckerei des Presseorgans, ferner dessen Inhalt und Aufmachung sowie dessen Vermarktung und Verkaufsförderung ausführlich dar. Das zweite Großkapitel – Die Reaktionen – beschreibt auf knapp 150 Seiten die Leser-Blatt-Bindung anhand der Leserbriefe, die sogenannten „Stürmerkästen“, die nationale und internationale Reaktion sowie die juristischen und gesellschaftlichen „Nachwirkungen“ nach dem Zweiten Weltkrieg. Im kurzen Schlusskapitel fasst die Autorin die Ergebnisse unter den Blickwinkeln „populäres Massenmedium“, „breites Reaktionsspektrum“ und „differenziertes Wirkungsgeschehen“ zusammen. Das Buch ist in einer gut lesbaren wissenschaftlichen Prosa verfasst, wenngleich manchmal Substantivketten den Lesefluss beeinträchtigen.

Julius Streicher, geboren 1885 in der Nähe von Augsburg, hatte sich schon Anfang der 1920er Jahre rund um seine Wahlheimat Nürnberg regionale Bedeutung als führender Protagonist der völkisch-antisemitischen Szene erworben. 1922 trat er in die NSDAP ein und wurde nach dem Putschversuch vom 9. November 1923 Hitlers Duz-Freund. Seine Loyalität während dessen Haft in Landsberg („Kampfgemeinschaft“) sowie seine wichtige Rolle bei der Neugründung der NSDAP im Jahr 1925 sicherten ihm die lebenslange Protektion Hitlers.

Der Kampf gegen Juden („Juden sind unser Unglück“) war Streichers Lebensmotto. Hauptwaffe in diesem Kampf war das von ihm gegründete Wochenblatt Der Stürmer, das den Untertitel Sonderblatt zum Kampfe um die Wahrheit trug. Die erste Ausgabe erschien am 21. April 1923, die letzte am 22. Februar 1945. Julius Streicher wurde vom Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg als Hauptkriegsverbrecher angeklagt, zum Tode verurteilt und am 16. Oktober 1946 hingerichtet.

Der Stürmer war kein Ein-Mann-Unternehmen, sondern bestand aus einem Kreis fester Mitarbeiter, darunter auffallend viele Lehrer wie Karl Holz und Ernst Hiemer als „Schriftleiter“ oder „Hauptschriftleiter“ – dem heutigen „Chefredakteur“ entsprechend. Das Gesicht des Stürmer prägte Philipp Rupprecht alias „Fips“, der ab 1926 fast alle Titelseiten des Blatts mit seiner antijüdischen Stereotype des sprichwörtlich gewordenen „Stürmer-Juden“ illustrierte. Neben zahlreichen weiteren antisemitischen Stereotypen setzte Rupprecht immer wieder den „rasseschändenden Juden“, die „jüdische Weltverschwörung“ und den „Ritualmord“ auch im Blattinneren ins Bild, wofür die Autorin viele Beispiele liefert. Optisch unterfüttert wurde so die rassistische Hasspropaganda, die die Furcht vor einer angeblichen sexuellen und wirtschaftlichen Bedrohung durch „den Juden“ und den Neid auf dessen angeblich unrechtmäßig erworbenen Reichtum schürte. Für den Reichsjugendführer Baldur von Schirach war es „das historische Verdienst des ‚Stürmers‘, die breiten Massen unseres Volkes in volkstümlicher Form über die jüdische Weltgefahr aufgeklärt zu haben“. Das Wochenblatt im Berliner Format mit drei Spalten war „Judenhetze in Endlosschleife“, so die Autorin.

Wirtschaftlich machte das Unternehmen – ab 1934 als eigener Verlag mit einer Mitarbeiterzahl im unteren dreistelligen Bereich – Streicher zum reichen Mann. Sein Einkommen stieg laut Steuerunterlagen allein zwischen 1937 und 1938 von 700.000 Reichsmark auf 900.000 Reichsmark und erreichte in den beiden Kriegsjahren 1942 und 1943 mehr als zwei Millionen Reichsmark. Bereits 1938 hatte Streicher am NS-Staat vorbei große „Arisierungs“-Gewinne eingestrichen, die ihn 1940 den Posten des Gauleiters Franken kosteten.

Die Auflage dieser Privatzeitung, die kein offizielles NS-Parteipresseorgan war, aber durch Hitler umfassend protegiert wurde, betrug vor 1933 bis zu 17.000 Exemplare und stieg danach rasant an. Ab 1935 hatte der Stürmer laut Impressum eine regelmäßige, wöchentliche Auflage von knapp einer halben Million. Es gibt jedoch mehrere Hinweise auf eine deutlich höhere, inoffizielle Auflagenhöhe. Vertrieben wurde das Kampfblatt über den stationären Zeitungshandel und eigene Zeitungsverkäufer. Das aggressive Marketing bei der Abonnentenwerbung und bei der Anzeigenakquisition – bis hin zur Erpressung – trugen zum Erfolg des äußerst populären Massenmediums bei, das den staatlich verordneten Antisemitismus in einer zeitgenössisch singulären Erscheinungsform verbreitete. 

Streicher erweiterte das Alltagsgeschäft seiner Propagandazeitung durch umfangreichere Sonderausgaben mit beträchtlichem Werbevolumen und deutlich höherer Auflage. So gab es Sondernummern zu den Reichsparteitagen. Zudem beteiligte er sich am Verlag Fränkische Tageszeitung, am Verlag Deutsche Volksgesundheit und am Fanfaren-Verlag. Ab Mitte der 1930er Jahre veröffentlichte er im Stürmer-Verlag neben der Wochenzeitung auch antisemitische Bilder-, Hand- und Fachbücher von der Broschur bis zum mehrbändigen Werk Juden, Judenverbrecher und Judengesetze in Deutschland von der Vergangenheit bis zur Gegenwart des völkisch-antisemitischen Juristen Peter Deeg. Das Kinderbuch Trau keinem Fuchs auf grüner Heid und keinem Jud bei seinem Eid von Elvira Bauer erreichte wohl eine Gesamtauflage von 100.000 Exemplaren.

Das zweite Großkapitel der Untersuchung – Die Reaktionen – dokumentiert mit vielen Beispielen, auch durch Abbildungen von Schreiben an die Redaktion und der Umschläge, die intensive Leser-Blatt-Bindung. Die Zeitung machte daraus eine „Stürmerkampfgemeinschaft“ und erzielte damit einen frappierend hohen Identifikationsgrad bei ihrer Leserschaft. Stürmer-Verkäufer wurden immer wieder im Blatt als „Stürmergardisten“ hervorgehoben, an vielen Orten wurden „Stürmer-Klubs“ gegründet. Selbst ein „Stürmerfahrrad“ zur leichteren Verteilung der Zeitung ist belegt. Doch die Leserschaft engagierte sich nicht nur heftig bei der Distribution, sondern entwickelte auch eine überwältigende inhaltliche Mitmachbereitschaft, dank derer Streicher den Stürmer zu einer Plattform für Denunziationen, ja zu einer regelrechten „Denunziationsfabrik“ machen konnte. „Volksgenossen“ schwärzten Mitbürger schriftlich oder auch durch Fotos an, wenn sie bei Juden kauften oder auch wenn sie sich nur mit Juden unterhielten.

Zeitungsschaukästen, der öffentliche Aushang von Zeitungen also, waren (und sind) keine Besonderheit, sondern eine durchaus übliche Werbemaßnahme der Verlage. Die „Stürmerkampfgemeinschaft“ begnügte sich jedoch auf Dauer nicht mehr mit der Unterstützung durch die ambitionierte Verbreitung der Zeitung, sondern machte bereitwillig und sehr aktiv bei der Aufstellung von „Stürmerkästen“ mit, die nicht nur der Information über die Blattinhalte, sondern auch als lokale Pranger dienten. Der besondere Wert des Buchs von Melanie Wager liegt darin, dass es sich erstmals und sehr ausführlich sowie mit großer Intensität diesem Phänomen widmet. Unter anderem liegt neben vielen historischen Details und Einzelbeispielen damit eine vollständige Liste der im Blatt erwähnten öffentlichen Leseplätze vor. Es sind hier 2.128 Kästen aufstellungschronologisch verzeichnet, die jedoch nur einen Bruchteil aller im Reich installierten Schaukästen darstellen. Die entsprechende Rubrik, die unter „Neue Stürmerkästen“ darüber informierte, wurde in der Ausgabe 11 des Jahrs 1940 eingestellt. Ergänzt wird die Dokumentation der Kästen durch fast 100 Fotos und Abbildungen aus dem Stürmer.

Nach Vorläufern in Nürnberg (1926), Heidenheim bei Treuchtlingen (1930) sowie Meinheim und Cadolzburg (1931) – alle in Mittelfranken – wurden ab 1934 in jährlich steigender Zahl „Stürmerkästen“ platziert – in den Jahren 1937 bis 1939 jeweils mehr als 500. Sie wurden damit zum Massenmultiplikator weit über das private Lesen zuhause hinaus. Regionale Schwerpunkte waren Preußen mit allen Provinzen (867) und das flächenmäßig kleinere Bayern (353). Bemerkenswert ist, dass durch Privatpersonen 555 Kästen auf eigene Kosten installiert wurden, während die Partei „nur“ 1.121, also rund das Doppelte, einrichtete und dabei in der Regel auf Spenden zurückgreifen konnte. Vielfach belegt ist, dass die Kästen weder auf Initiative des Verlags entstanden noch in dessen Eigentum waren, sondern von Parteigliederungen, Privatpersonen, Behörden, Firmen sowie vereinzelt durch das Militär aufgestellt und finanziert wurden. Die zunächst schmucklosen Kästen wurden immer aufwändiger verziert, plakativ beschriftet, manchmal sogar mit hölzernen Figuren ausgeschmückt. Etwas kurios, dass der 206. Schaukasten in Buenos Aires aufgestellt wurde, so der Stürmer 1936 in Ausgabe 26.

Zwar war, wie erwähnt, der Stürmer kein offizielles NSDAP-Organ, doch erhielt Streicher und sein Verlag ab 1937 verstärkt Unterstützung durch Parteifunktionäre und Parteigliederungen. So musste beispielsweise in Sachsen jede Ortsgruppe per „Gaubefehl“ das Blatt „an gut sichtbarer Stelle“ aushängen und das mit einem Foto dokumentieren.

In den Schaukästen wurden oft nicht nur die Seiten der neuesten Ausgabe des Stürmer ausgestellt, sondern Privatpersonen denunzierten Mitbürger mit selbst angefertigten, detaillierten Namens- und Adresslisten sowie Fotografien von ortsansässigen jüdischen Geschäften und deren als „Volksverräter“ titulierten Kunden, die beim Betreten, Verlassen oder auch nur in der Nähe eines jüdischen Geschäfts „ertappt“ worden waren. „Insbesondere das Fotografieren von Kunden jüdischer Geschäfte mit anschließendem Aushang im ‚Stürmerkasten‘ stellte laut der Berichte ein äußerst beliebtes Vorgehen der Hobbyfotografen vom Schneidermeister bis zum Lehrer dar.“ (Wager)

Insgesamt ist es erschreckend zu sehen, dass die Kundschaft des Stürmer nicht nur lesend und damit passiv die antisemitische Indoktrination rezipierte, sondern bewusst und aktiv jede Form dieser Propaganda und der Denunziation unterstützte. Das deutlich gemacht und durch zahlreiche Funde in den verschiedensten Quellen belegt zu haben, ist das bleibende Verdienst dieser Arbeit. Zurecht schreibt die Autorin abschließend: „Die zentrale Erkenntnis dieser Studie zum Wirkungsgeschehen besteht in der Offenlegung eines bis dato nicht nur unbekannten, sondern auch unerwarteten Ausmaßes an bewusster Interaktion zwischen der als personifizierter ‚Stürmer‘ agierenden ‚Stürmer‘-Schriftleitung und der als ‚Stürmerkampfgemeinschaft‘ firmierenden Leserschaft in den verschiedensten Formen.“ Und sie ergänzt, dass die „Vorstellung einer weitgehend passiven, ‚verführten‘ Leserschaft“ weit entfernt ist von den historischen Gegebenheiten.

Neben dem 130seitigen Verzeichnis der „Stürmer-Kästen“ runden ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Personenregister den Band ab. Dem Verlag sei gedankt, dass er das 537 Seiten umfassende, in jeder Hinsicht gewichtige Werk zum moderaten Ladenpreis von 36 Euro auf den Markt gebracht hat, wozu drei Stiftungen mit Druckkostenzuschüssen beigetragen haben.

Zwei Dinge bleiben anzumerken: Es ist erstens zu bedenken, ob es hermeneutisch angemessen ist, im wissenschaftlichen Kontext historische differente Ausprägungen des Antisemitismus mit Begriffen wie Fake News, Hate Speech und Echokammer zu benennen, auch wenn die gegenwärtige politische Situation das nahelegt. Zweitens hätte sich der Rezensent – und wahrscheinlich nicht nur er – ein Ortsregister zum Verzeichnis der Schaukästen gewünscht, denn man ist als Leser ja zunächst einmal neugierig zu erfahren, wie die Situation in der eigenen Umgebung war.

Titelbild

Melanie Wager: „Der Stürmer“ und seine Leser. Ein analoges antisemitisches Netzwerk. Zur Geschichte und Propaganda­wirkung eines nationalsozialistischen Massenmediums.
Metropol Verlag, Berlin 2024.
537 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783863317119

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