Die wiedergefundene Erschütterbarkeit

Elisabeth Wandeler-Decks „Visby infra-ordinaire“ ist ein Lebensbuch

Von Konstantin AmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Konstantin Ames

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Visby infra-ordinaire ist auf den ersten Blick ein Beispiel der vielgeschmähten Stipendienliteratur. Die Zürcher Autorin und Performerin Elisabeth Wandeler-Deck macht aus einer Autorenresidenz auf der Insel Gotland indes ein Spiel mit dem Klischee und mit dem Genre der Inselliteratur, nebst allem utopischen und realpolitischem Potenzial. Leitende Idee ist das Durchspielen von John Donnes Sentenz „No man is an island“ anhand eines Aufenthalts auf der Insel Gotland; der pathetische Glockenschlag („for whom the bell tolls“) aus Donnes Meditation fehlt in Wandeler-Decks eigenen Prosameditationen denn auch nicht. Die Sinnbildlichkeit der Insel wird nicht nur narrativ verhandelt; auch deiktisch wird diese Verinselung dargestellt durch unterschiedliche Farbwahl der Typographie: Blau, grün, rot und braun sind die dominierenden Farben. Das Schriftbild erinnert durch die Farbgebung nicht von ungefähr an eine geographischen Karte oder eine Ansichtskarte.

Neben dieses showing, eine verschriftlichte Diashow (daher vielleicht auch die Farbgebung) und die Narration treten stark reflexive Passagen, die durchsetzt sind vom abgeklärten Wissen über die zitierbare Verfügungsmasse (Heldenreise, Robinsonade, Lebensentwürfe von Existentialismus bis Postmodernismus, Othering und dergleichen mehr), und die mit sympathischem bis kokettem Understatement vorgetragen werden. Das Projekt behauptet qua Titel, sich unterhalb des Gewöhnlichen anzusiedeln und obendrein eine Unterbieten, oder aber ein Unterlaufen des Genres Reiseliteratur vorzunehmen. Die Sprache ist zu Beginn der Narration, bei Vorbereitung der Reise nach Visby, in der Tat berichtend nüchtern, selten fallen dialektale Färbungen („es hat Nebel“) auf. Der Einstieg in das Buch ist allerdings alles andere als „infra-“, sondern eine Beschreibungs- und Genauigkeitsüberbietung, die sich immer wieder als kontemplativer Text zu verstehen gibt und dabei Ansprüche auf Sinnstiftung geltend macht: „Ich setze mich auf einen Blechkoffer und denke über das Leben nach. 27. Juli.“

Der weitere Verlauf des (mit kaum mehr als 100 Seiten) recht übersichtlichen Buchs gibt wenig Anlass zu Befürchtung, dieser philosophisch-essayistische Anspruch würde aufgegeben. Der Titelzusatz infra-ordinaire ergibt denn auch als Hinweis auf die mit dieser Haltung verbundene Schreibart allemal Sinn. Wandeler-Deck begnügt sich nicht mit einer Dekonstruktion der oben genannten Genres, sie möchte radikal neu ansetzen. „Infra-ordinaire“ verweist explizit auf oulipistische Vorlagen (Jacques Roubaud und dessen „tokyo infra-ordinaire“), ohne die Infrarealisten, bei denen die Autorin ebenso viele Aktien hält, zu erwähnen. Wandeler-Deck zitiert gelegentlich Reiseführer und Broschüren, um sich den Erwartungshorizonten einigermaßen konsequent zu entziehen. Entstehen soll Literatur von unten, aus dem Unbewussten; dazu gehört der selbstbewusste Abgleich mit dem, was andere (von Ingeborg Bachmann über Chris Bezzel bis Ingmar Bergmann und Italo Calvino) zu den Phänomenen Insel, Städte, Ränder, Grenzen, Diarien, Utopien, Zeitwahrnehmung zusammengetragen haben. Von Interesse ist so ziemlich alles, was Metonymie begünstigt:

1.1       Spezifikation dazu

1.1.1    Sehr still

1.1.2    (Hier wird weniger an Visby als an die Insel, das Inselhafte gedacht)

Ein Unterfangen, das einigen Mut erfordert, denn es entsteht ein Werk, das nicht rhetorisch-planvoll verfährt, sondern eines, das den gesamten Charakter der Autorin freilegt, indem es ihn auf seine Spontaneitätsfähigkeit und Widersprüchlichkeit prüft. Nur selten zeigt sie sich beeindruckt von der eigenen Courage; Wandeler-Deck hat vollstes Vertrauen zu ihren Capricen und wird selten von diesen in die Irre geführt. Immer dann, wenn barockes Ineinandergreifen von Textur und Bild droht, wird die Autorin eigentümlich kaltblütig schismatisch:

2.1.2 Warum ist es hier schön.

2.2 Spezifizierung dazu (→ Fotos ab DSC02596) es sind die kleinen Vierecke.

Das Auffordern zur Spontaneität ist wohl das schönste Beispiel für einen performativen Widerspruch. Um sich des Verdachts, fremdbestimmt zu handeln zu entledigen, braucht es Regeln: „WÜRFELN (we will do this by throwing the dice’)“. Es geht aber nicht um die Demonstration einer aleatorischen Methode, die selbstgenügsam repetiert wird; das Verfahren erhebt Anspruch auf Systematik und zitiert soziale Praktiken wie die Promenadologie, die sich auf der Schwelle von akademischer Disziplin und aktionistischem Happening bewegen, der Zugriff auf diese entscheidende Einflussgröße bleibt jedoch verblüffend klandestin:

3.5.1.1.1          hier ist es schön (Lucius Burckhardt, Erfinder der Promenadologie)

3.5.1.1.2          Stellen Sie Ihrem Kaffeelöffel Fragen. (Georges Perec)

Zwei wesentliche Konstituenten kommen sich in dieser bewusst gestörten Realisierung der narrativen Abfolge in die Quere: Schrift und Stimme. Im letzten Drittel des Buchs wird dieser clash in der für Visby infra-ordinaire typisch beiläufigen Diktion und irrwitzigen Diegese thematisiert und performativ-poetologisch zugespitzt:

5.1.1 Woran dabei gedacht wird, dazu manches später, also jetzt, nein, später noch. Viel später.

5.1.1.1 Referenz auf Sprache, also hier wird gesprochen, wenn gesprochen wird.

5.1.1.1.1 Zitat Visby als wisbüü oder als visbii gesprochen, das muss doch mal deutlich gesagt sein, ich zitiere die Chorleiterin, sie spricht uns von den Unterschieden, als eine, die in Stockholm lebt und hier auf der Insel arbeitet oder umgekehrt, die Grenzen des Wassers und die Grenzen des festen Landes durchdringen einander, es ist Zeit. Beim Kentern der Tide kommt es kurze Zeit zu einem Stillstand der Gezeitenströmung. Und da sieht man kurz auf.

5.1.1.1.1.1 wisbüü

5.1.1.1.1.2 VISBY vis biiiii wisbī

wild wind wissen innen immer ist

ich irgend insel irritieren insistieren nie

niemals nirgends

fisch kissen kiste gries licht

Die penible Beschreibung zu Beginn des Buchs wird flankiert durch eine akribische Aufzählung, die sich zu einer Aufzählungsmanie steigert, von der nur gewiss ist, dass sie sich wohl kaum für den Vortrag eignet. Unklar aber bleibt, ob das wirklich nur Slapstick ist, wie das sehr gründliche Nachwort, das den Text gleichwohl nicht übergriffig zu kuratieren versucht, beschwichtigt: „Die Listen sind ein Mittel, Chaos in die Ordnung des Protokolls zu bringen. In Anlehnung an Jacques Roubaud ist der Text in Kapiteln, Punkten und Unterpunkten, noch dazu in unterschiedlichen Farben, strukturiert, die ihm etwas Traktatartiges geben; Mimikry an wissenschaftliche Exaktheit, die auf diese Weise aber gerade aufgebrochen wird.“ Das Nachwort weist auch treffsicher auf die Tradition, in der diese Schreibart steht, hin: „Eine weitere Methode, Chaos in die Ordnung einer gut geplanten Reise, der zunächst nichts Abenteuerliches anhaftet, zu bringen, ist die Einbeziehung des Zufalls – sozusagen traditionsbewußt modern als Coup de Dés.“

Man möchte, dies ergänzend, auch an die Überlegungen Artur Rimbauds zur Klangfarbe von Vokalen erinnern; denkmagisch werden die Vokale hier einer anthropomorphisierenden Meditation und Wesensschau unterzogen. Wandler-Deck hat diese spekulative Poetik offenbar aufgegriffen, und ganze Sätze im munteren Wechsel von grüner, blauer, dunkel- und hellroter, außerdem brauner und grauer Farbe ausgeführt. Die Vermutung, durch die verschiedenfarbige und schnell wechselnde Typografie werde – neben der geografisch-deiktisch-kalauernden – eine Lesart quer zur linearen Lektüre angeboten, wird schnell enttäuscht. Auch wird dadurch keine Hierarchie markiert. Das Buch ist deutlich wilder und vitalistischer, als die bürokratisch anmutende Durchnummerierung glauben macht. Will man ausschließen, dass die in Sachen Architektur versierte Dichterin unter die phänomenologischen Kaltblüter geraten ist, so muss man sie sich wohl als eine glückliche Graffitikünstlerin vorstellen: Beschreiben ist in ihrem poetologischen Kosmos kein metaphorischer, uneigentlicher Vorgang, sondern wird veranschaulicht. Die leeren Seiten entsprechen den zu besprühenden Wänden der verwalteten Welt, alle Außen- und Innenräume, Gegenstände, Stimmungen sind dem kapitalistischen Insert-Logik zu entwenden, über die sich schon Roubaud belustigte.

Vielen Büchern wird bereitwillig zugestanden, anarchisch zu sein – Wandeler-Decks Buch ist es in einem ganz präzisen Sinn. Dass sie sich in den Gefilden der ehemaligen Hanse befindet, ist ihr bewusst; und ohne dass der Name Klaus Störtebekers eigens genannt werden müsste, inkorporiert Visby infra-ordinaire geopolitischen Aktivismus, der nur die andere Seite von Wandler-Decks libertärem Habitus ist:

1.1.2.1.2 Die Ostsee mit ihren neun Anrainerstaaten soll optimal genutzt und gerecht verteilt werden (Nicolas Escach)

1.1.2.1.2.1.1 Insert „Die Ostsee mit ihren neun Anrainerstaaten soll optimal genutzt und gerecht verteilt werden“

Diese Freibeuterei geschieht nicht in Erfüllung eines ästhetischen oder ideologischen Programms. Und es ist weniger die vom Nachwort unterstellte Reflexion auf „Produktionsbedingungen“ zu beobachten, als vielmehr die sanfte mahnende Demonstration dessen, dass es sich bei Literatur nicht nur um etwas Schönes (Belletristik), sondern auch etwas Freies handelt; nicht um einen Gebrauchsgegenstand, sondern um etwas Immaterielles, das die Leser*in nie dazu herabwürdigt, Nutzer*in einer fertiggebauten Maschine zu sein. Eine Küchenmaschine beispielsweise kann im Zuge ihrer Nutzung nicht mehr reifen, ein Buch sollte das sehr wohl.

Es gibt Stellen, die zunächst auf eine unglaubliche désinvolture der Autorin hinweisen, in der Art wie sie zuletzt durch Elke Erbs Sonanz geläufig geworden ist, für das sich die Autorin ebenfalls einer strengen Regel unterwirft, nämlich ein fünfminütiges Brainstorming zu Papier zu bringen. Wandeler-Deck ist die Kultivierung eines solchen lyrischen Individualanarchismus völlig ferne; im Zentrum ihrer Literatur steht die Erschütterbarkeit. Ihr Porträt eines dementen und inkontinenten Menschen während einer idyllischen Tagesreise muss lesen, wer den Glauben an eine Literatur mit 360-Grad-Blick noch nicht verloren hat!

Es kann schon traurig stimmen, dass solche wegweisende Sprachkunst allenfalls als writer’s literature goutiert werden wird, und ein größeres Publikum wohl kaum Kenntnis davon erhält. Noch bedauerlicher ist, dass eine solche, nicht nur lebenskluge, sondern auch „akademische“ Schreibart, die den Einfaltspinsel schwingenden Ansagern des Literaturbetriebs ein Dorn im Auge ist, ohne öffentliche Förderung (im vorliegende Fall ist es neben dem Stipendium im BCWT und ein Werkjahr der Stadt Zürich) vollständig am Ende wäre.

Hermann Hesses Feststellung zur Bedeutsamkeit von Robert Walsers Werk lässt sich unbedingt auf Walsers Landsmännin transponieren: Wenn Elisabeth Wandler-Deck 100.000 Leser*innen hätte, wäre die Welt besser!

Titelbild

Elisabeth Wandeler-Deck: Visby infra-ordinaire. listen, würfeln, finden.
edition taberna kritika, Bern 2018.
119 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783905846485

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