Was blieb von ‚1968’?

Ein Rückblick aus Erfahrungen eines Germanisten

Von Jörg SchönertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Schönert

Die derzeitige Ausstellung „68. Pop und Protest“ im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe zeigt u.a. das Transparent „Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren“, das am 9.11.1967 von Detlev Albers und Gert H. Behlmer, Studenten der Hamburger Universität, in die Versammlung zur Rektoratsübergabe im Auditorium Maximum getragen wurde. Es gilt seither als ikonische Markierung für das Auslösen eines Protestpotentials akademischer Rebellion im Zeichen der Chiffre ‚1968‘, die mit mentalitäts- und verhaltensgeschichtlichen Veränderungen sowie institutionellen Reformen bis in die frühen 1980er Jahre wirkte und nicht nur von den Studierenden, sondern auch von Angehörigen der Gruppe der Wissenschaftlichen Assistenten und des akademischen Mittelbaus sowie von sog. Jungprofessor/innen getragen wurde.

Ich hatte im Februar 1968, noch 26 Jahre alt, mein Studium der Germanistik und Anglistik an der Universität München mit der Promotion abgeschlossen und nahm anschließend die Lehrtätigkeit in Neuerer deutscher Literatur auf. Meine Erfahrungen als Literaturwissenschaftler an den Universitäten München, Heidelberg, Aachen und Hamburg bis in das Jahr 2007 bestimmen den Versuch einer rückblickenden Bestandsaufnahme.

Das Fazit zu der heute noch verbliebenen Substanz institutioneller Veränderungen in den hochschulpolitischen Konstellationen ist unabhängig von meiner literaturwissenschaftlichen Perspektive. Die einstigen studentischen Forderungen, drittelparitätisch an allen hochschulpolitisch relevanten Entscheidungen beteiligt zu werden, sind vom Gesetzgeber abgewiesen worden. Statt ‚Mitbestimmung‘ gilt in den akademischen Gremien und Kommissionen das Mitwirkungsprinzip für die nicht-professoralen Gruppierungen unter Erhalt einer prinzipiellen Mehrheitsfunktion der Professorengruppe; dieses Prinzip ist auch für die Berufungskommissionen relevant. In Abweichung zu den anderen nicht-professoralen Repräsentationsgruppen wird eine solche Mitwirkungsfunktion von den Studierenden in den Wahlvorgängen für Gremienvertreter/innen angesichts der Quoten der Wahlbeteiligung nur gering geschätzt. Dies galt schließlich auch für ‚Grauzonen‘ der Mitbestimmungsmöglichkeiten. So wurde beispielsweise am Hamburger Institut für Germanistik in den 1980er Jahren zur Festlegung des Lehrplans (und insbesondere zur Vergabe von Lehraufträgen für Nachwuchswissenschaftler/innen) noch paritätisch zwischen den sich daran beteiligenden Lehrenden (Professoren und Mittelbauangehörige) und Studierenden entschieden. Diese Vorgehensweise verschwand dann aufgrund der damit verbundenen Belastungen durch stundenlange, oft kontroverse Diskussionen.

Als prinzipielle Erklärung nachlassender studentischer Interessen an der Mitwirkung bei der Gestaltung des Hochschulalltags ist ein Zusammenwirken der sie betreffenden hochschulpolitisch virulenten Ausgrenzungen einerseits und Einstellungsveränderungen in den studentischen Verhaltensweisen andererseits anzusehen. Um 1970 war für die überwiegende Zahl der Studierenden ‚die Universität‘ noch der entscheidende Lebensmittelpunkt. Im Laufe der 1980er Jahre ist dieser Handlungs- und Erfahrungsbereich einer unter anderen geworden. In den Jahren nach 1968 wurden Seminare oft über die zwei- oder dreistündige Begrenzung hinaus mit den noch offenen Diskussionen weitergeführt (auch in der Szenenkneipe oder im Biergarten); ergänzende und gruppenintensive Wochenendseminare konnten in der Universität oder außerhalb vereinbart werden: Vorgaben und Anregungen für den Gewinn fachlicher und politischer Kontexte sowie meinungsbildende Diskussionen waren erwünscht. Die Bereitschaft der Studierenden für vorbereitende und vertiefende Lektüre war in der Regel sehr groß. Im Verlauf der 1980er und frühen 1990er Jahre wurden solche Zugewinne immer mehr beschränkt. Im streng regulierten BA/MA-Studium gibt es heute dafür kaum noch Freiraum.

Zumindest in den Einführungskursen und Proseminaren waren seit den späten sechziger Jahren Konzeption und Organisation der Lehrveranstaltungen ein kontinuierliches Thema von Diskussionen und Experimenten. Die Studierenden waren zur Mitgestaltung aufgerufen und bereit; sie brachten thematische Vorlagen ein, gaben Lektürevorschläge und übernahmen die Diskussionsleitung im Seminar; studentische Arbeitsgruppen bereiteten die Sitzungen vor. Verantwortlich für Durchführung und (Prüfungs-)Abschluss der Veranstaltungen blieben aus hochschulpolitischen Gründen die Lehrenden. Diese Verantwortlichkeit konnte bei den sog. autonomen studentischen Seminaren bis auf Beratungsleistungen durch Lehrende reduziert werden. Die autonomen Seminare gehörten bald der Vergangenheit an, während die Vorbereitung von Seminarsitzungen durch studentische Arbeitsgruppen bis heute zum Studienalltag zählt.

Erheblich ausgebaut wurden in den 1970er Jahren die Programme für studentische Tutoren, die Arbeitsgruppen betreuten und in Zusammenarbeit mit den Lehrenden die (Lehrveranstaltungen begleitenden) Tutorien leiteten und erste akademische Lehrerfahrungen sammelten. Auf diese Weise begannen auch Hochschulkarrieren. Vor allem aus finanziellen Gründen wurden gegen Ende der 1970er Jahre die Tutorenprogramme abgebaut. Am Hamburger Institut waren noch in den 1980er Jahren die verpflichtenden Proseminare der Stufe I dreistündig (die der Stufe II zweistündig) mit jeweils zwei zusätzlichen Tutorenstunden (der sog. Gruppenarbeit) angelegt; in der Regel wurden diesen Lehrveranstaltungen zwei Tutoren (Studierende des Hauptstudiums) zugewiesen. Auch wenn die Hochschulen heute über Tutorenmittel im seinerzeitigen Umfang verfügen könnten, wäre es fraglich, ob die Studierenden eine so hohe Zahl von Präsenzstunden an der Universität akzeptieren würden und ob genug Studierende bereit wären, für ein bescheidenes Honorar die gewünschten Tutorenleistungen zu erbringen. Inwieweit heute die Begleitung von Seminaren durch Internet-Foren das Tutorenprogramm ersetzen (und verbessern) kann, ist noch nicht abzusehen.

Nicht nur in hochschuldidaktischer Hinsicht wurden seinerzeit die Proseminare zu einem Reformbereich, der in der Lehre nahezu ausschließlich von den Wissenschaftlichen Assistenten, Angehörigen des akademischen Mittelbaus und Lehrbeauftragten als ‚Experimentierfeld‘ auch in der thematischen Ausrichtung des Studiums gestaltet werden konnte; die Professoren hatten sich aus diesem Lehrbereich nahezu völlig zurückgezogen (Ankündigungen wie ‚Prof. X durch Y [Wiss.Ass.]‘ waren nicht mehr üblich) und verzichteten bald auch darauf, die ihnen möglichen Kontrollen auszuüben und Rechenschaftslegungen der ‚Mittelbauer‘ einzufordern. Mit der Bezeichnung ‚Grundstudium‘ wurde das frühere Verständnis solcher Lehrveranstaltungen als ‚Propädeutika‘ aufgegeben, um sie anspruchsvoller zu konzipieren. Eine systematisch und umfassend angelegte Vermittlung der Grundlagen für das Fachstudium sollte fortgeführt werden durch ein ‚Themen-Proseminar‘, das die Prinzipien forschenden Lernens in der Auseinandersetzung mit einem exemplarischen Gegenstandsbereich zu vermitteln hatte. Diese Reform wurde bislang erhalten.

Geschwächt sind die Erwartungen an selbständige Orientierungen der Studierenden im thematischen Umfeld des gewählten Fachstudiums: In den 1960er und 70er Jahren blieb jenseits der fachlich verpflichtenden Lehrveranstaltungen genug Freiraum, um ergänzende Lehrveranstaltungen in den Fremdsprachenphilologien, in Philosophie, Geschichtswissenschaft, Soziologie oder Politikwissenschaft zu besuchen und damit dem Schreckbild des ‚Fachidioten‘ zu entgehen. Bereits im Grundstudium konnten koordinierte Lehrveranstaltungen aus unterschiedlichen Studienfächern angeboten werden oder Lehrende mit unterschiedlicher Fachzugehörigkeit waren gemeinsam für Vorbereitung und Durchführung einer Lehrveranstaltung verantwortlich. Diese Organisationsformen fanden auch im sog. Hauptstudium ihren Platz.

Mit der Habilitation erwarben Lehrende des Grundstudiums das Recht, Veranstaltungen im Hauptstudium anzukündigen. In der Gestaltung von Seminaren und Vorlesungen nutzten dann dort viele von ihnen ihre Erfahrungen und – soweit entsprechende Möglichkeiten gegeben waren – auch ihre Verfahrensweisen aus dem Grundstudium. Für Vorlesungen wurden häufig Zeitabschnitte für Nachfragen und Diskussionen vorgesehen. Wer in eine Professorenstellung aufrückte, blieb zumeist mit Lehrveranstaltungen auch im Grundstudium präsent, um weiterhin mit Studienanfängern zu arbeiten und sie gegebenenfalls bis zum Examen fördern und betreuen zu können. Diese Einstellung ist seit der Einführung der BA/MA-Studiengänge geschwunden; das Grundstudium wird vielfach wieder den Nicht-Habilitierten überlassen oder zugewiesen.

Dass methodologische Ausrichtungen in der Germanistik Konjunkturschwankungen unterliegen, ist hinreichend bekannt und muss hier nicht im Blick auf die Konstellationen der in den sechziger und siebziger Jahre ausgiebig geführten ‚Methodendiskussionen‘ und die intensive Praxis der ‚Methodenkritik‘ erörtert werden, die einen wichtigen Aspekt für die angestrebte ‚Modernisierung‘ des Faches darstellten (vgl. den Beitrag dazu in literaturkritik.de 12/2018). Anders sieht es mit der Präsenz bestimmter Gegenstandsbereiche des Faches aus. Fest verankert ist seit den späten 1960er Jahren die Linguistik der Gegenwartssprache. In der Literaturwissenschaft ist das seinerzeit entwickelte akademische Interesse an der ‚gelesenen Literatur‘, der U-Literatur (in Differenz zur E-Literatur), an populären Lesestoffen (im Sinne der sog. Trivialliteraturforschung) bereits in den 1980er Jahren wieder erloschen bzw. in die nachfolgende ‚Abspaltung‘ der Film- und Fernsehwissenschaft verschoben worden. Kinder- und Jugendliteratur wird heute zumeist der Fachdidaktik überlassen.

Dieser subjektiv angelegte und auf wenige Aspekte beschränkte Erfahrungsbericht wäre unter anderem dringlich zu ergänzen durch ‚Ursachenforschung‘ für Stabilisierungen und Veränderungen sowie zu veranschaulichen durch ‚Personengeschichten‘ von denjenigen, die in den 1960er/70er Jahren ihr Studium oder ihre akademische Laufbahn begonnen haben, um typische Impulse und Wirkungen zu ermitteln.