Der Mann, der viel über Hitchcock weiß
Jens Wawrczecks autobiographische Liebeserklärung „How to Hitchcock“ an den Großmeister des Thrillers
Von Wieland Schwanebeck
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseFür den im August 2024 bevorstehenden 125. Geburtstag von Alfred Hitchcock können die Vorbereitungen nicht früh genug starten. Wer sich mit dem mehr als 50 Filme umfassenden Gesamtwerk des ewigen „Master of Suspense“ vertraut machen möchte, kann beispielsweise auf die kurzweilige und sehr persönliche Einführung zurückgreifen, die der Schauspieler und Synchronsprecher Jens Wawrczeck verfasst hat. Das Buch enthält sich nicht nur jeglicher akademischen Schwurbelei, es lässt den existierenden Berg an Forschungsergebnissen sogar komplett links liegen. In der Forschungsliteratur zu Hitchcock ist mir jedenfalls sonst kein Titel bekannt, der ganz auf Sekundärliteratur verzichtet und abgesehen von einem kurzen Verweis auf Truffauts bekanntes Interviewbuch (Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?, 1966) weder andere Publikationen zitiert noch auch nur eine einzige Fußnote aufweist.
Wawrczeck liefert also eine ungefilterte Chronik seiner lebenslangen Hitchcock-Begeisterung, erzählt entlang eigener Erlebnisse vom erwachenden Interesse eines jungen Menschen am Kino und von seinen Lehrjahren als Schauspieler. Diese Passagen, die von Pilgerfahrten zu Wiederaufführungen und der ungeduldigen Vorfreude auf TV-Ausstrahlungen selten gezeigter Filme handeln, von Betamax-Bändern, New Yorker Kakerlaken, der Jagd nach obskuren Hitchcock-Reliquien und einer unverhofften Begegnung mit Shirley MacLaine, habe ich mit dem allergrößten Gewinn gelesen – Wawrczeck erweist sich als souveräner, äußerst sympathischer Erzähler und als unverbesserlicher Cinephiler, der sein Herz bereits an Hitchcock verschenkt hatte, bevor er für die Hörspiel-Reihe Die drei ??? gecastet wurde, die zu Beginn unter der Flagge des Alfred-Hitchcock-Franchises segelte.
So, wie es einer publizistischen Binsenweisheit zufolge unmöglich ist, von Edgar Wallace nicht gefesselt oder von Alfred Hitchcock nicht gut unterhalten zu werden, so unmöglich dürfte es sein, sich nicht von Jens Wawrczecks Begeisterung anstecken zu lassen. Als ergebener Jünger des wahrscheinlich meistdiskutierten Regisseurs der Filmgeschichte bleibt er uns auch dann noch sympathisch, wenn er in seinem Eifer hier und da übers Ziel hinausschießt. Ich bezweifle, ob außer dem Autor noch jemand den Eindruck teilen wird, im Film Bei Anruf Mord (1954) seien die Räume so gut gefilmt, dass wir „den Teppich [spüren]“ und „die Politur [riechen]“ können, aber wer wird einem glühenden Fan widersprechen wollen, der zwar im Handumdrehen die Schwächen eines dürren Hitchcock-Melodrams aus den 1940ern erkennt, es sich aber trotzdem fünfmal anschaut, um auch ganz, ganz sicher zu gehen?
Dass die Schilderungen und Kurzinterpretationen der einzelnen Filme im luftleeren Raum stattfinden und jedwede Auseinandersetzung mit der Forschungslage scheuen, wirft allerdings ein paar Probleme auf. Denn auch wenn Wawrczeck keine pflichtschuldigen Slavoj-Žižek-Referenzen braucht, um sein Publikum fundiert über Hitchcock zu informieren, hätte hier und da ein Blick in die gängigen Nachschlagewerke gutgetan. Nicht alle Details sind auf dem neuesten Stand; teils werden Mythen fortgeschrieben, die die Hitchcock-Forschung in jahrelanger Arbeit mühsam widerlegt hat. Einige dieser von Wawrczeck weitergetragenen Mythen hat Hitchcock, dessen Begabung zur Selbstvermarktung seinem Regie-Talent kaum nachstand, selbst in die Welt gesetzt und in zig Interviews breitgetreten, etwa wenn es darum ging, den kreativen Anteil anderer kleinzureden und sich selbst ein Denkmal zu errichten. Ins Reich der Legende gehört beispielsweise die Behauptung, Hitchcock sei für seinen Film Verdacht (1941) vom Studio ein glattgebügeltes Happy End aufgezwungen worden; widerlegt hat dies Donald Spoto bereits vor Jahrzehnten in seiner Hitchcock-Biographie (The Dark Side of Genius, 1983). Dank einer sorgfältigen, leicht zu findenden frame-by-frame-Aufschlüsselung hat sich mittlerweile auch die alte Cineasten-Mär erledigt, in der Montage der legendären Duschszene in Psycho (1960) berühre das Messer niemals den Körper, und gleiches gilt für Wawrczecks Behauptung, der imposante Kameraschwenk vom Treppenhaus auf die Straße in Frenzy (1972) komme ohne einen Schnitt aus.
Ich habe mich im Lauf der Lektüre sehr für den Ansatz des Autors erwärmen können, seine eigene Sicht auf die Filme in den Vordergrund zu stellen sowie Details der Inszenierung und die schauspielerischen Leistungen in den Filmen geistreich zu beschreiben. Positiv fällt auch auf, dass Wawrczeck im Unterschied zu vielen anderen Hitchcock-Interpreten aus dem Regisseur des Unsichtbaren Dritten (1959) nicht den unsichtbaren Briten macht – das Frühwerk in England wischt er nicht einfach beiseite, sondern würdigt es in angemessener Manier. Gewünscht hätte ich mir allerdings statt zahlloser Beschwörungen der „Seele Hitchcock[s]“ oder des „unvergleichlichen Hitchcock-Touch[s]“ eine nüchternere Sicht auf den ausgelutschten Geniekult. Denn sobald mit päpstlicher Unfehlbarkeitsdogmatik argumentiert und jede künstlerische Entscheidung ausschließlich auf Hitchcock zentriert wird, nehmen die Tautologien überhand, wohingegen kritische Stimmen salopp als „besserwisserische[s] Feuilleton“ abgebürstet werden. Da werden die Continuity-Fehler und handwerklichen Schnitzer in Marnie (1964), die dem ein oder anderen Filmwissenschaftler schon Lachtränen in die Augen getrieben haben sollen, zu einer bewussten, die Artifizialität unterstreichenden Regie-Taktik umgedeutet, Änderungen an den Plots der literarischen Vorlagen grundsätzlich als Verbesserungen geadelt, kreative Mitstreiter Hitchcocks dagegen als bloße Erfüllungsgehilfen abgewatscht.
Würde es denn irgendwem die Freude an Vertigo (1958) schmälern, wenn sich seine Bewunderer zu dem Zugeständnis durchringten, dass die unkonventionelle Struktur des Films nicht auf Hitchcock, sondern auf die Drehbuchautoren zurückgeht? Oder wenn endlich mal nicht mehr Hitchcocks blödsinniges Bonmot wiederholt würde, Vertigo handle von einem Nekrophilen? Ich glaube nicht. Ebenso wenig sollte es die Bewunderer kränken, dass Hitchcock der Konkurrenz nicht immer um zehn Jahre voraus war, sondern gelegentlich auch filmischen Trends nacheiferte (etwa mit Frenzy, der fröhlich im Fahrwasser des italienischen Giallo schwimmt) und sich schon gar nicht zu fein für derbe Effekte war. Statt etwa die Szene in Die Vögel (1963), in der Jessica Tandy die Leiche des Farmers findet, als schaurig-schönen Grand-Guignol-Effekt zu lesen, versteift sich Wawrczeck zu der Behauptung, der Anblick der verstümmelten Leiche mit den ausgehackten Augen „hätte in den Händen eines geringeren Regisseurs“ als Hitchcock, dem „billige Schauereffekte […] ein Gräuel“ gewesen seien, leicht „plump und reißerisch werden können“ – als sei Hitchcock nicht eben gerade deshalb ein großer Filmemacher, weil er auch um die Wirksamkeit billiger, reißerischer Schauereffekte wusste. Die mumifizierte Mrs. Bates am Schluss von Psycho ist drastisch und derb – gut so, denn wer möchte in einer Geisterbahn schon auf den Anblick der grausigsten Attraktionen verzichten?
Aber letztlich schaut eben jeder seinen Hitchcock, und wenn der von Jens Wawrczeck ein wenig erhabener und feingeistiger ist als meiner, können wir uns doch trotzdem darauf einigen, dass das Kino des 20. Jahrhunderts bedeutend ärmer wäre ohne Cary Grants Flucht durchs Maisfeld, den Zeitlupenkuss von Grace Kelly und James Stewart, oder das wahnsinnige Lächeln von Anthony Perkins. Und immer, wenn der Autor auf so wunderbare Formulierungen kommt wie die, dass die Vaterfiguren bei Hitchcock nur „Schwenkfutter für die Kamera“ sind oder der Regisseur beim Dreh von Sklavin des Herzens (1949) „in eine Schachtel Karamellbonbons gefallen und darin kleben geblieben [zu sein scheint]“, dann wünsche ich mir sehr, dass dieses Buch nicht seine letzte Liebeserklärung an das Kino bleiben wird.
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