Junger Mann aus gutem Haus sucht Sicherheit in Ehe und Beruf

Die Briefe Max Webers aus den Jahren 1887 bis 1894 liegen erstmals in vorbildlicher und vollständiger Bearbeitung vor

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für die laufende Berichterstattung an dieser Stelle (zuletzt in literaturkritik.de 3/2017) über die Max Weber-Gesamtausgabe (MWG) kann die Publikation eines weiteren Briefbandes annonciert werden: Es handelt sich um die Briefe des Referendars, Doktoranden, Habilitanden, außerordentlichen Professors an der Berliner Universität und frisch ernannten Ordinarius in Freiburg im Breisgau. Zugleich sind es Briefe des Verlobten und jungen Ehemannes Max Weber. Die jahrzehntelang erwartete Drucklegung dieser Briefe aus den Jahren 1887 bis 1894 eröffnen einer heutigen Leserschaft die sehr persönliche Begegnung mit einem jungen Mann, der auf der Suche nach Sicherheit in emotionaler, finanzieller und beruflicher Hinsicht war.

Das hier versammelte Briefwerk beginnt mit dem Brief des 23jährigen Einjährig-Freiwilligen Offiziersanwärters, der sich im Januar 1887 zu einer 8wöchigen Militärübung beim 2. Niederschlesischen Infanterieregiment Nr. 47 im preußisch besetzten Straßburg meldet und darum bei seiner Tante Emilie Benecke, Schwester seiner Mutter, anfragt, ob er sich bei ihr für ein paar Tage einquartieren darf, bevor er eine eigene Unterkunft in Straßburg gefunden hat. Der letzte Brief datiert vom 14. Dezember 1894, mit dem sich der 30jährige Freiburger Ordinarius für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft der Großherzoglich Badischen Albert-Ludwigs-Universität zu Freiburg für die Zusendung einer Schrift mit dem Titel „Die natürliche Auslese beim Menschen. Auf Grund der Ergebnisse der anthropologischen Untersuchungen der Wehrpflichtigen in Baden und anderen Materialien dargestellt“ (1893) bei deren Autor bedankt. Max Weber war Mitglied eines Preisgerichts der Zeitschrift „Das Land“, die den Verfasser dieser Schrift, den Sozialanthropologen Otto Ammon – bemerkenswerterweise, im Gegensatz zu MWG I/4, nicht im Personenverzeichnis aufgeführt – als Gewinner nominiert hatte. Weber teilte Ammon mit, dass er sich „lebhaft“ für dessen Studien interessiert, sie „mit besonderem Interesse“ lesen werde und beabsichtige, in seinem Seminar darüber referieren zu lassen.

Wenn man weiß, dass Ammon einer jener zahlreichen Forscher war, die durch Schädelmessungen und die dadurch erfassten unterschiedlichen Kopfformen (Phrenologie) darum bemüht waren, Vererbungsgesetze zu finden, mit deren Hilfe man unterschiedliche Menschentypen erklären könne, dann versteht man umso besser, wieso Weber in seiner berühmt-berüchtigten Freiburger Antrittsvorlesung vom Mai 1895 sich so leidenschaftlich auf „generationenlange Züchtungsprozesse“ berief, wozu er in der Druckfassung Otto Ammon zitierte.

Die Jahre 1887 bis 1894 lassen sich höchst unterschiedlich überschreiben. Marianne Weber, die Verlobte (Pfingsten 1893), Ehefrau (ab September 1893), Witwe und Nachlassverwalterin (ab Juni 1920) wählte in ihrem „Lebensbild“, der Biographie Max Webers aus dem Jahr 1926, diese vier Überschriften: „Erster Aufstieg“, „Häusliches Leben und persönliche Entwicklung“, „Heirat“ und „Der junge Lehrer und Politiker Herbst 1893-97“. Auch so kann man die hier versammelten Briefe lesen, denn sie präsentieren uns einen überaus selbstbewussten jungen Mann aus besitz- und bildungsbürgerlichem Charlottenburger Haus, der zielstrebig seinen akademischen, beruflichen und privaten Weg geht.

Neben den „Erfolgen“ der jeweiligen Etappen werden jedoch auch die Schattenseiten dieser Biographie deutlich: die Zumutungen eines sich als unterfordert empfindenden Referendars und Assessors im Berliner Justizdienst („vierjährige Wüstenpilgerfahrt“) und die als qualvoll empfundene materielle Abhängigkeit von den Eltern, insbesondere vom Vater. Eines der klarsten Zeugnisse für dieses Leiden ist der Brief an seine Verlobte vom 16. Mai 1893: „Ich habe seit langen Jahren den Umstand, daß ich finanziell abhängig war, als das weitaus Peinigendste meiner Lage empfunden, es ist bei der absolut verschiednen Sinnesart meines Vaters gegenüber derjenigen meiner Mutter und der meinigen diese Seite der Sache stets die heikelste gewesen.“ Es geht beim Verhältnis zwischen Max Weber Junior und Max Weber Senior um Prinzipielles: „Ich passe gar zu schlecht in ein Haus, das er leitet und er paßt gar nicht zu einem erwachsenen Sohn, das ist die alte Sache. Unfreundlich ist das Verhältnis gar nicht.“

Dass er „erst“ mit 29 Jahren sein „eigenes Geld“ verdient, da er krankheitsbedingt den Lehrstuhl des Betreuers seiner Habilitation, Levin Goldschmidt, vertritt, hält er geradezu für schmählich und klagt an vielen Stellen darüber, dass er wieder mal „völlig abgebrannt“ sei und somit um finanzielle Unterstützung bitten muss – ein bekanntes Muster seit seinen Heidelberger Studentenzeiten. Seine außeruniversitären Aktivitäten, insbesondere die Übernahme und Bearbeitung der Materialien der großangelegten Enquete der Erforschung der „Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland“ in den Jahren ab 1892, erfüllen ihn mit Energie und Stolz, was man seinen Briefen ablesen kann. Die Tatsache, dass er als Jurist (Staatsexamen, Promotion, Habilitation, Vertretungsprofessur) auf einen Lehrstuhl für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft berufen wird, verwundert weder ihn noch seine Familie. Die Briefe im Umkreis dieser Berufung nach Freiburg belegen eine derart zeitnahe und umfassende Informiertheit über die universitären und ministeriellen Abläufe durch Verwandte, Bekannte und befreundete Kollegen, dass es schwer fällt, nicht von milieubedingter Protektion bei dieser Karriere zu reden.

Wenn Gustav Schmoller in seinem Gutachten für den allmächtigen preußischen Hochschuldezernenten Friedrich Althoff schrieb, dass Weber mit seinen Kenntnissen – insbesondere über die preußischen Agrarverhältnisse – einen „maßvollen politischen Standpunkt, einen preußischen Patriotismus, frei von jeder Anglomanie und jedem sozialistischen Beigeschmack“ verbinde, dann verdeutlicht auch dieses Urteil sehr klar, wie eminent politisch die ersten Etappen des wissenschaftlichen und politischen Weges Max Webers geprägt waren. Seine rabiate Abgrenzung vom „älteren Liberalismus“, für den sowohl sein Vater als auch und vor allem sein Onkel Hermann Baumgarten standen – an dessen Bestattung der Neffe nicht teilnehmen wollte, angeblich um dessen Tochter Emmy Baumgarten, die von seiner Mutter und Tante als seine Ehefrau bestimmt worden war, nicht zu belasten – erscheint als geradezu neurotisch. Die – nicht zuletzt von seiner Mutter geförderte und begleitete – Hinwendung zur evangelisch-sozialen Bewegung und vor allem seine Freundschaft mit Friedrich Naumann – an den erstaunlicherweise nur zwei Briefe zu finden sind – spielten dabei erkennbar eine eminente Rolle.

Von den insgesamt 206 Briefen richten sich drei Viertel an Familienmitglieder und insbesondere an seine Braut und spätere Ehefrau Marianne Weber, geborene Schnitger. Erneut kann eine heutige Leserschaft sich mit den Irrungen und Wirrungen dieses hochneurotischen Familiensystems auseinandersetzen, nun jedoch in – hoffentlich – authentischer Fassung der Briefe mit ihren streckenweise endlos erscheinenden bandwurmartigen Sätzen. Die vielen Briefe an seine 11 Jahre jüngere Schwester Clara machen uns mit einem liebevoll-besorgten Max Weber bekannt, und von geradezu rührender Art sind die Briefe des 23jährigen „ellenlangen Bruders“ Max Weber an seine um 16 Jahre jüngere Schwester Lili, die uns eine weiche Seite dieses Jünglings zeigen, der sich ansonsten seiner Mutter gegenüber durchaus als „Weltmensch“ ausgibt. Die Briefe an seinen Bruder Alfred und an seine Cousine Emmy Baumgarten hingegen sind streckenweise von nur schwer zu ertragender Überlegenheitsattitüde geprägt, die zu ständiger Belehrung führt.

Von den belehrend-bevormundenden-patriarchalen Briefen an Marianne Weber, „mein Kind“, „mein Herzenskind“, „mein liebes Mariännchen“, „mein lieber Schatz“, „mein liebes Herz“, „liebes Kind“, ganz zu schweigen. In keinem der versammelten Briefe ist von „Liebe“ die Rede! Dabei erscheint es als geradezu grotesk, wenn Max Weber, im Zusammenhang mit seinen Lektüreempfehlungen für seine zukünftige Frau, behauptet, dass er sich nicht zu ihrem „Vormund“ berufen fühlt und ihr dafür den „hausfraulichen Pflichten- und Arbeitskreis“ als „unangreifbares Gebiet“ zuweist. Dabei betont er, dass für sie „das geistige Gebiet“ nicht das rechte sein werde, „weil ich auf diesem Gebiet naturgemäß über reichere Mittel verfügen werde kraft längerer Arbeit in dieser Richtung“. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, wie eindringlich und wiederholt Weber seine künftige Ehefrau davor warnt, zu unterschätzen, auf welche Schwierigkeiten sie sich mit ihm einzustellen habe: „Und deshalb mußt Du in einem festen Pflichtenkreis, der Dir als solcher werthvoll ist, stehen, um nicht von meinen Temperamentsschwankungen abzuhängen.“

Gerade an dieser Stelle muss die editorische Leistung ganz besonders hervorgehoben werden. Die Ausführungen in der „Einleitung“ über den Niederschlag der „privaten Lebenssphäre“ in den versammelten Briefen sind von erfreulich hoher Sachlichkeit und Neutralität bestimmt. Die komplizierten Paarkonstellationen Max Weber und Emmy Baumgarten, Max Weber und Marianne Schnitger, Marianne Weber und Paul Göhre, die Rolle der Mutter Helene Weber und ihrer Schwester Ida Baumgarten werden sehr deutlich erkennbar durch diese Briefe.

Die beinahe Nichtexistenz des Vaters für den Junior ist ebenfalls zu spüren: An diesen richtet sich ein einziger Brief aus Oerlinghausen vom 13. November 1889 („Lieber Vater!“) mit einem unpersönlichen Reisebericht über Webers Rückfahrt von Brügge und seine Erlebnisse in den Niederlanden und der noch unpersönlicheren Grußformel: „Mama besten Dank für ihre Karte und an Alle herzlichen Gruß Dein Sohn Max“. Im Vorfeld der Hochzeit in Oerlinghausen kam es ganz offensichtlich erneut zu erheblichen Spannungen und Streitereien, vor allem im Zusammenhang mit dem komplizierten Ehevertrag, so dass Weber an seine Verlobte am 12. Mai 1893 wutentbrannt schreibt, „daß sich mein Vater wieder einmal, wie das seine Art ist, über Dinge, für die er weder Verständnis noch wahres inneres Interesse besitzt, in einer Art geäußert zu haben scheint, die mich aufs Äußerste erbittert und mir widerwärtig ist.“ Die informierte Leserschaft weiß, zu welcher Explosion der Gefühle und Worte diese Erbitterung im Juni 1897 führte, als Max Weber Junior seinem Vater die Heidelberger Wohnungstür wies, und dieser im August desselben Jahres im fernen Riga starb, unversöhnt mit Sohn und Familie.

In gewisser Weise deutlicher als das bislang möglich war, werden alle diese Beziehungen durch den Briefband erkennbar. Bisher waren uns diese Briefe – wenn überhaupt – in den redigierten Fassungen aus Marianne Webers „Lebensbild“ und der von ihr herausgegebenen Sammlung „Jugendbriefe“ (1936) bekannt. In deren dritter Abteilung, unter der Überschrift „Der Aufstieg“, finden sich von Marianne Weber ausgewählte Briefe der Jahre 1886 bis 1893 versammelt. Naturgemäß verweisen die Herausgeberinnen und der Herausgeber der historisch-kritischen Fassung auf diese Sammlung und erwähnen, dass diese „teilweise Fehllesungen, falsche Datierungen, nicht nachgewiesene Kürzungen und verunklarte Namen“ enthält. Da jedoch gerade diese Sammlung bislang die einzige und wichtigste Quelle der Jahre bis 1893 gewesen war, bietet der Band eine Konkordanz zu den jeweils edierten Briefen im Anhang. Nun erst kann eine heutige Leserschaft (hoffentlich) alle Briefe Max Webers an Marianne Weber aus jener Periode nachlesen: Von den insgesamt 206 Briefen sind das vor der Hochzeit 50 Briefe, danach 22. Diese insgesamt 72 Briefe Max Webers an Marianne Schnitger, bzw. Weber, bilden den größten Einzelbestand der Sammlung.

Die Edition beweist, dass sich Marianne Weber in ihrem „Lebensbild“ um größtmögliche Genauigkeit beim Zitieren der Briefe Max Webers bemüht hat. Als einziges Beispiel sei der berühmte „Verlobungsbrief“ vom 16. Januar 1893 herangezogen, mit seiner beispiellosen Kombination von Werbung um die entwurzelte Haustochter aus Oerlinghausen und der geradezu erpresserischen Drohung bei Nichteinwilligung in die Heirat. Jenes Dokument eines fulminanten Feuerwerks von Metaphern und Selbstaussagen, in dem an keiner Stelle von Liebe die Rede ist, sondern allein von schicksalshafter Aneinandergebundenheit dieser beiden Menschen: „Hoch geht die Sturmfluth der Leidenschaften und es ist dunkel um uns, – komm mit mir, mein hochherziger Kamerad, aus dem stillen Hafen der Resignation, hinaus auf die hohe See, wo im Ringen der Seelen die Menschen wachsen und das Vergängliche von ihnen fällt.“ Diesen handschriftlichen Brief des 28jährigen Max Weber an seine 22jährige Großnichte Marianne Schnitger – den diese übrigens nicht aus der Hand des Verfassers selbst, sondern von dessen Mutter am darauffolgenden Tag erhielt – hat diese in ihrer Biographie des verstorbenen Mannes bis auf unbedeutende stilistische („gefaßt“ anstatt von „fest“) und minimale orthographische Abweichungen wortgetreu wiedergegeben. Jedoch wollen wir dabei glauben, dass Manfred Schön, der jahrzehntelang bewährte Entzifferer der unsäglichen Handschrift Max Webers, hier genauer transkribiert hat als die Witwe!

Die Fassung des „Verlobungsbriefes“ in dem Band bietet nicht nur den bekannten Text selbst, sondern einen bislang unbekannten Nachtrag. Nach dem ultimativen Schlusssatz „Komm mit mir, ich weiß, Du kommst. Max“ – nicht etwa „Dein Max“ – folgt: „Noch Eines, eine Äußerlichkeit. Du hast Licht und Leben in unser Haus gebracht, und ich war ein Einsiedler in meiner Stube. Nicht um Deinet-, um unsretwillen darfst Du es nicht meiden. Deshalb, glaube ich, ist es richtig, daß ich es verlasse. Ich ziehe nach Berlin, und sehe Dich Sonntags, kürzer als bisher, und innerlich anders, aber äußerlich ebenso. […] Ich darf nicht zu oft in Deine Augen sehen, aber ich muß es zuweilen, damit wir uns kennen lernen. Denn ich vermag nicht zu glauben, daß Du mich kennst.“ – Max Weber zog natürlich nicht aus der „Villa Helene“, dem elterlichen Haus in der Charlottenburger Leibnizstraße 19, nach Berlin. Der Umzug in eine gemeinsame Wohnung mit Marianne Weber in den nahegelegenen Siegmundshof 6 im heutigen Hansa-Viertel in Berlin-Tiergarten fand erst nach der Eheschließung statt.

Diejenige Leserschaft, die sich für Details der privaten Lebensführung sowohl des jungen Max Weber als auch seiner Verlobten und Ehefrau in Charlottenburg, Berlin und Freiburg interessiert, findet auch in diesem Briefwerk viel bereits Bekanntes, aber auch einiges Neue. Bleibt immer wieder die Frage, wen das interessiert, nun bald hundert Jahre nach Max Webers Tod im Jahr 1920.

Erneut anerkennend sei angemerkt, dass sowohl die „Einleitung“ als auch die jeweiligen redaktionellen Anmerkungen erfreulich nüchtern, sachlich und informativ sind. Eine überflüssige und unnötig belehrende und interpretierende Kommentierung, wie das in früheren Bänden teilweise ausufernd praktiziert wurde, ist hier weitgehend unterlassen worden. Diese asketische Zurückhaltung geht dabei jedoch so weit, dass selbst Begriffe, die keineswegs als allgemein bekannt vorausgesetzt werden können, nicht mehr erläutert werden, beispielsweise das „Septennat“, das den Wehrübenden Weber naturgemäß in seinen Briefen beschäftigt hat. Wer aus der heutigen Leserschaft weiß schon, dass es sich dabei um die Finanzierungsbewilligung der preußischen Militärausgaben alle sieben Jahre handelte, die im Jahr 1887 eine enorme Bedeutung für die Konflikte zwischen Bismarck und der Deutschen Freisinnigen Partei (Franz August Schenk von Stauffenberg) besaß und letzten Endes zur vorzeitigen Auflösung des Reichstags führte? Ein wenig mehr Erläuterung hätte hier – und in anderen Fällen – vermutlich geholfen.

Eine Passage stößt bei dem Rezensenten auf skeptischen Widerspruch: „Max Webers Hinwendung zu einer neuen Form des Nationalismus, der sich zum Teil in sozialdarwinistischen Tönen äußerte, trennte ihn vom Liberalismus älteren Zuschnitts, sie machte ihn aber nicht zum Anti-Liberalen.“ Zieht man bei solchem Urteil die Bismarck verherrlichenden Schlusspassagen der Landarbeiterenquete heran – „Unter dem Zeichen des Kapitalismus wird dem Deutschtum der Sieg über die slavische Propaganda versagt bleiben.“ – und liest nochmals die Freiburger Antrittsvorlesung „Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik“ des sich als selbst als „ökonomischen Nationalisten“ bezeichnenden Max Weber, muss man hinter diese apologetische Beurteilung einige Fragezeichen setzen. Es hängt sicher davon ab, wie man einen „Liberalen“ von einem „Anti-Liberalen“ unterscheiden möchte – damals und heute. Und so ist es eben der alte Streit um die politisch-ideologische Einordnung des so vehement – und erfolglos – um eine politische Verwendung kämpfenden Max Weber, die auch durch diese Briefsammlung neu entfacht werden könnte: War er nun doch eher ein reaktionär-nationalistischer „Konservativer“, dem nicht mal der „Alldeutsche Verband“ und der „Deutsche Ostmarkenverein“ entschieden genug waren, oder doch eher ein „Liberaler“, der vom angelsächsisch geprägten Ideal einer bürgerlich bestimmten Demokratie geprägt war? Diese Debatte, die seit den 1950er Jahren in der Weber-Interpretationsindustrie geführt wird, führt denn auch aktuell zu solch chamäleonartigen Etikettierungen wie „liberaler Nationalist“ und „Nationalimperialist“ (Stefan Breuer).

Wie auch immer man dieses Briefwerk lesen und interpretieren möchte, eines steht fest: „Pazifist“ war Max Weber sein ganzes Leben lang nicht gewesen. Allein der Brief des Einjährigen aus Straßburg an seine Mutter vom 16. März 1887 reicht aus, um vorauszusehen, was man aus seinen späteren Worten und Taten im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg kennt. Bereits 27 Jahre vor Kriegsbeginn rechnete Max Weber mit kriegerischen Auseinandersetzungen, wie er seiner Mutter in Charlottenburg schreibt, indem er darüber informiert, dass bereits seit März 1887 „zahllose Waarenladungen Büchsenfleisch“ eingelagert worden seien und überhaupt eine „fieberhafte Thätigkeit“ sich entfaltet habe, dass auch er der Meinung gewesen sei, „daß es in wenigen Tagen losgehen werde.“ Jedenfalls stattete sich in jener Zeit der Wehrübende Weber für viel Geld „fast vollständig kriegsfertig [aus], so daß meine Wohnung mit allerlei Mordinstrumenten gespickt ist.“ Weber war bereits in jenen Jahren fest davon überzeugt, dass „es doch wohl zu meinen Lebzeiten noch Krieg geben wird.“ Er sollte recht behalten: Am 1. August 1914 begann jenes Geschehen, von dem er bereits am 28. August 1914 an seinen Kollegen Karl Oldenberg schreiben sollte: „Denn einerlei was der Erfolg ist, – dieser Krieg ist groß und wunderbar.“

Wer alle hier versammelten Briefe hintereinander liest, bekommt ein Gefühl dafür, wie in jenen Kreisen, in denen sich das Leben Max Webers abspielte, miteinander kommuniziert wurde. Es ist ein Milieu, in dem sich ein 30jähriger Professor und seine Ehefrau beehren, seinem vier Jahre jüngeren Bruder Alfred („Herrn Referendar Weber“) und seiner 19jährigen Schwester („Fräulein Clara Weber“) per Visitenkarte eine Einladung „zu einem Brotabend und Glase Landwein“ ergebenst auszusprechen – auch wenn das vermutlich ironisch gemeint war. Es ist eine Schriftkultur, in der ein Privatdozent dem zuständigen Beamten, Friedrich Althoff, „Euer Hochwohlgeboren“, mit „angelegentlichsten Empfehlungen und in ausgezeichneter Hochachtung“ dienstliche Mitteilungen „gehorsamst“ sich zu machen erlaubt, wie jene, dass ihm „soeben eine Berufung als ordentlicher Professor der Nationalökonomie in Freiburg“ zugegangen ist. Und der einem seiner Lehrer (Gustav Schmoller), in „hochachtungsvoller Verehrung“ für die „wohlwollende Beurteilung“ seiner „Anfänger-Arbeit“ dankt. Es ist ein Milieu, in dem es als selbstverständlich gilt, auf der Hochzeitsreise nach Paris und London die Mutter, bzw. Schwiegermutter laufend brieflich auf dem Laufenden zu halten („Es geht uns prachtvoll.“ „Wir vertragen uns fast traurig gut. – Max spricht viel!!!“ „sie [Marianne] ist es Nachts noch nicht gewohnt, daß neben ihr Jemand athmet und hustet.“) und diese sowohl in Charlottenburg als auch in Freiburg bei der Wohnungssuche für das junge Professorenehepaar einzubeziehen. Es ist eine Paarbeziehung, in der unablässig briefliche Küsse geschickt werden, zugleich jedoch dem „lieben Frauchen“ in teilweise drastischer Sprache nicht nur vom seriellen Frühschoppen aus dem Garnisonsdienst in Posen berichtet wird: „Der Dienst greift mich nach wie vor nicht an, nur habe ich etwas den Tatterich von der freien Luft und fresse maßlos […]. Und dann der heillose Durst.“ Oder vom Gelage beim Verlobten der Schwester, bei dem „im Schweiße unsres Angesichts 105 Flaschen Bier“ vertilgt wurden und der Verabschiedung von seinen Berliner Kollegen, bevor er nach Freiburg umzieht: „ein Selterwassermensch werde ich wohl nie.“ Der Ton gegenüber Kollegen ist streckenweise ein sehr vulgärer, so etwa, wenn Max Weber seiner Frau davon berichtet, dass er mit einem Beitrag in der „Christlichen Welt“ auf die Angriffe gegen seine Berichte über die Zwischenergebnisse der Befragung evangelischer Geistlicher zur Lage der Landarbeiter reagiert habe: „ich bin begierig, ob das Schweinsvolk darauf etwas Neues grunzen wird.“

Liest man dazu noch die zahlreichen Selbstaussagen Max Webers – und denkt dabei an die heftige Phase der psychischen Erkrankung nur drei Jahre später –, so wünscht man sich zuweilen, dass ein psychologisch-psychiatrischer Fachmann diese Briefe daraufhin durchmustern würde, ob nicht schon in diesem sehr frühen Stadium Anzeichen einer erheblichen psychischen Störung zu erkennen sind. In einem Brief vom 20. Juli 1894 bietet Max Weber seiner Frau – und damit nun auch der heutigen Leserschaft – einen Einblick in sein Seelenleben, wie wir das bislang so nicht kannten:

Mir geht es im Gesammtbefinden so ohne Vergleich besser als in den Jahren vorher, wie ich es nicht mehr – außer für ein viel höheres Alter – gehofft hatte und wie ich es auch während unserer für mich nach dieser Richtung sorgenvollen Verlobungszeit nicht glaubte. Nachdem das Ersehnte eingetreten und ich nach Jahre-langen Qualen widerwärtiger Art endlich von Innen heraus zum Gleichmaß gekommen war, fürchtete ich eine Depression schwerer Art. Sie ist nicht eingetreten, wie ich glaube weil ich das Nervensystem und das Gehirn durch anhaltendes Arbeiten nicht zur Ruhe kommen ließ. Deshalb u.A. auch – ganz abgesehen von dem Naturbedürfnis nach Arbeit – lasse ich so ungern eine wirklich fühlbare Pause in die Arbeit eintreten […] ich glaube, daß ich nicht riskieren durfte, die eintretende Nervenruhe […] in Erschlaffung sich verwandeln zu lassen, so lange ich nicht unzweideutig erkenne, daß das Reconvalescenten-Stadium definitiv überwunden ist. […] Aber Du mein Kind hast auf die Weise, und das war mir von Anfang an ein Hauptpunkt bei allen Bedenken, eben einen abnormen Mann bekommen.

Selbst der einigermaßen kundige Weber-Forscher fragt sich gerade bei diesem Brief, was wohl „das Ersehnte“ gewesen sein mag, das den ohnehin hypochondrisch veranlagten Mann zum „Gleichmaß“ hat kommen lassen: allein die Tatsache des Verheiratetseins? Ob das Ehepaar tatsächlich jene Einladung hat nutzen können, die ebenfalls im besagten Brief steht: „Wollen wir einmal davon reden, wenn wir uns wiedersehen?“

Es sieht ganz so aus, als ob diese sehr intime Korrespondenz über Webers psychische Zustände anhielt, so etwa in seinem Brief an Marianne Weber vom 31. Juli 1894: „Ich habe ganz bestimmte psychische Existenzbedingungen, die es mit sich bringen, daß ich nur sehr selten aus meinem Schneckengehäuse herauskommen kann, und auch dann nur gewissermaßen schüchtern, und die Berührung mit dem warmen Hauch einer Liebe wie der Deinigen scheucht mich zunächst wieder ins Innere zurück.“

Insgesamt dokumentieren die hier gesammelten Briefe erneut eine Kommunikationskultur, wie sie im Milieu dieses gebildeten und vermögenden deutschen Bürgertums zu jener Zeit gepflegt wurde, vor allem im Kreis der personenreichen Familiensysteme zirkulierend.

Soeben wird das Erscheinen von Band II/1 der Briefe angekündigt. Mit diesem Band, der die Briefe der Jahre 1875 bis 1886 enthält, von denen wir einige bislang ebenfalls allein aus der Sammlung der von Marianne Weber ausgewählten „Jugendbriefe“ kennen, wäre dann die Serie der Briefe Max Webers endlich abgeschlossen. Die Tatsache, dass dieser Band vom Ehemann der Herausgeberin des hier besprochenen Bandes betreut wurde, dem Neuzeithistoriker Gangolf Hübinger – einem der drei noch lebenden Mitherausgeber der MWG – bürgt für die begründete Erwartung der soliden und unparteiischen Edition auch dieser Briefe. Je größer der zeitliche Abstand zur Jetztzeit wird, desto geeigneter ruht die Herausgabe der Schriften Max Webers vielleicht ohnehin in den Händen der Historiker als denen von Soziologen.

Insgesamt sei festgehalten, dass mit diesem vorbildlich redigierten und betreuten Briefband der Weber-Forschung ein großer und selbstloser Dienst erwiesen wurde. Wen diese sowie die nun ebenfalls versammelten Briefe des 11 bis 20jährigen Max Weber darüber hinaus interessieren werden, wird sich zeigen müssen. Der Band II/1 wird bald mit einer gesonderten Rezension an dieser Stelle gewürdigt.

Titelbild

Max Weber: Max Weber-Gesamtausgabe. Band II/2: Briefe 1887–1894.
Herausgegeben von Rita Aldenhoff-Hübinger in Zusammenarbeit mit Thomas Gerhards und Sybille Oßwald-Bargende.
Mohr Siebeck, Tübingen 2017.
683 Seiten, 289,00 EUR.
ISBN-13: 9783161549274

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