Die Moral der Form

Anne Weber und Thomas Stangl diskutieren „Über gute und böse Literatur“

Von Rebecca HohnhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rebecca Hohnhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Oktober 2014 meldet sich die in Paris lebende deutsche Schriftstellerin Anne Weber mit ihrer ersten Mail bei ihrem Wiener Kollegen Thomas Stangl über die Moral in der Literatur. Die Rückfragen und -bezüge auf vorher Gesagtes lassen jedoch vermuten, dass es sich hier nicht um einen Anfang handelt. Von dem, was zuerst gesagt wurde, wissen nur die beiden Gesprächspartner sowie der Literaturkritiker Kurt Neumann, der die Korrespondenz initiiert hat. Zwei Jahre später wird der Mailaustausch erstmals im Sonderzahl Verlag in Wien unter dem Titel Einfache Frage: was ist gute Literatur. Acht komplexe Korrespondenzen verlegt. Im Dezember 2019, kurz bevor der erste Lockdown die beiden in die Isolation zwingt, nehmen Anne Weber und Thomas Stangl ihr Gespräch wieder auf und diskutieren über die Frage, was passiert, „[w]enn Menschen zu Figuren“ werden. Der vorliegende Band versammelt die äußerst respekt- und liebevollen Mails beider Korrespondenzen und fügt sie unter dem verheißungsvollen Titel Über gute und böse Literatur zusammen.

Wenn Anne Weber und Thomas Stangl die ‚gute‘ Literatur nicht ins Verhältnis zur ‚schlechten‘, sondern zur ‚bösen‘ setzen, dann nehmen sie mit der Titelwahl einen ersten Schritt zur Bestimmung ihres Verständnisses von ‚gut‘ vor: Gute Literatur ist für die beiden nicht vornehmlich eine Frage des Geschmacks, sondern wird an bestimmte moralische Kriterien geknüpft. Doch was ist demnach moralisch gute Literatur?

Schon Nietzsche wusste, dass das, was als moralisch erachtet wird, einem historischen Wandel unterliegt und auch die Literaturgeschichte scheint das beständige Wechselspiel von Gut und Böse zu kennen:

Vielleicht hat sich die Literaturgeschichte so abgespielt, dass immer wieder das Schöne lächerlich wurde, die Moral falsch; sich auf dem, was nach einem gerade noch aktuellen Kampf Makel war, aber, dank und trotz des Kampfes von Avantgarden, Anarchisten und Außenseitern aller Art, wiederum etwas Neues, ein neuer Kanon aufbauen ließ.

So Thomas Stangl am „09. Jänner 2015“. Die geltende Moral und damit das, was als gut gilt, sei demnach loszulösen von jeglicher Essenz und müsse, so Anne Weber, weniger inhaltlich als formal bestimmt werden. „Die Suche nach einer angemessenen (im Sinn von: moralisch vertretbaren) Annäherung an Figuren, Orte, Geschehnisse führt zu einer Form.“ Die Kunst sei es, durch die Struktur des Textes eine Spannung aufrechtzuerhalten, da mit dem moralisch Guten sonst der Umschlag in Sentimentalität und Kitsch drohe. Die gute Literatur, so lassen sich die ersten Mails zusammenfassen, ist also eine spannende Literatur, die sich gleichzeitig frei von Konventionen und Tabus macht und gerade nicht gut sein oder Gutes tun will.

Dass die beiden die Moral doch nicht vollständig von den Inhalten lösen können, offenbart der zweite Teil des Buches, der sich um die Verwandlung von Menschen in literarische Figuren dreht. Thomas Stangl fragt:

Was ist, wenn der ‚Gegenstand‘ des Textes ein Mensch ist? Jemand, der wirklich lebt oder gelebt hat; vielleicht jemand aus der eigenen Familiengeschichte, vielleicht eine bekannte oder weniger bekannte historische Figur? Welche Art von Beziehung geht man im literarischen Schreiben zu diesem Menschen ein; in welcher Form ist es erträglich oder vertretbar, ihn oder sie zum Objekt zu machen – oder lässt es sich doch vermeiden?

Nicht nur treibt die Gesprächspartner um, wer sich in wen hineinversetzen dürfe (ist es bspw. moralisch vertretbar, wenn sich eine deutsche Schriftstellerin in ein jüdisches Opfer hineinversetzt?), sondern auch, ob Menschen nicht auch einfach ein Recht darauf hätten, „in Ruhe gelassen zu werden“. Selbstverständlich gibt es kein Recht darauf, nicht zum Gegenstand von Literatur zu werden und auch vom „polizeihaften Ton“, der innerhalb dieser identitätspolitischen Debatten oftmals an den Tag gelegt wird, grenzen sich die beiden entschieden ab. Dennoch: das Gebot der Freiheit der Kunst darf nicht uneingeschränkt gelten. Die Grenzen des Sag- und Darstellbaren fangen dort an, wo Figuren für ideologische Zwecke missbraucht würden. In allen ihren Büchern, so Anne Weber, sei es ihr deshalb wichtig gewesen, zu markieren, „dass das, womit der Leser es hier zu tun bekommt, nicht der lebendige oder gelebt habende Mensch und dessen wirkliches Leben ist, sondern ausschließlich [ihre] Sicht auf ihn und sein Leben […]“, also die Illusion zu brechen. Dies bedeutet, dem*der Leser*in die Grenze zwischen Realität und Fiktion bewusst zu machen und dafür zu sorgen, dass der echte Mensch nicht mit dem literarischen in eins fällt. 

Literatur, so lehrt dieses Buch, ist nichts, was sich im Dualismus von Gut und Böse auflösen ließe. Und so mäandern die beiden Gesprächspartner – wie die Literatur im Prozess der Geschichte – zwischen den beiden Polen hin und her und finden weder Anfang noch Ende. Verbindliche Antworten sucht der*die Leser*in vergeblich. Doch dies, so schreibt Thomas Stangl, sei die zentrale Herausforderung: „mit der Grundlosigkeit zu leben, ohne einfach in der Beliebigkeit und im Nichts zu landen.“ Auch wenn es gerade die besondere Form des Buches erschwert an die Inhalte zu gelangen, so ist die Lektüre eine äußerst erkenntnisreiche – oder man könnte auch sagen – gute Erfahrung.

Titelbild

Thomas Stangl / Anne Weber: Über gute und böse Literatur. Korrespondenz über das Schreiben.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2022.
180 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783751800747

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