Anna Seghers im mexikanischen Exil

Volker Weidermanns eindrucksvolles biografisches Porträt

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 wurden die Bücher von Anna Seghers verboten. Kurzzeitig war sie sogar von der Gestapo verhaftet wurden. Danach gelang ihr mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern die Flucht nach Paris. Dort arbeitete sie in antifaschistischen Exilzeitschriften mit und es entstanden die Romane Der Kopflohn und Der Weg durch den Februar. Nach dem Einmarsch deutscher Truppen in die französische Hauptstadt floh sie schließlich nach Marseille in den unbesetzten Teil Frankreichs, wo sie mit der Arbeit an ihrem Roman Das siebte Kreuz begann. Doch auch hier war sie nicht lange in Sicherheit.

Im Frühjahr 1941 gelang ihr mit einem der letzten Schiffe, die Marseille verließen, die Überfahrt ins mexikanische Exil. Eigentlich wollte sie mit ihrer Familie nach New York, doch die Einwanderungsbehörde in Ellis Island wies sie ab. Ihre Tochter Ruth schaue so komisch, hatte der Arzt festgestellt und die Familie weitergeschickt. Also Mexiko, sechs Jahre blieb sie im lateinamerikanischen Exil, bevor sie 1947 nach Deutschland zurückkehrte, das ihr inzwischen fremd geworden war.

In seinem 2020 in zwei Auflagen und 2022 auch als Taschenbuch erschienenen Band Brennendes Licht erzählt Volker Weidermann von den bewegenden Jahren, die die Schriftstellerin nachhaltig prägten und die Weichen für ihr späteres Leben und Schaffen stellten. Im Audio Verlag ist 2020 außerdem eine ungekürzte Lesung der Exilgeschichte erschienen. Dabei gelingt dem Schauspieler und Sprecher Burghart Klaußner mit unterschiedlichen Stimmlagen und Tempi der Spagat zwischen Biografie und Geschichtsbuch.

Abgekämpft muss Anna Seghers zunächst die lebensnotwendigen Alltagsdinge der Familie managen, denn ihr Ehemann ist in dieser Hinsicht mehr als unerfahren. Außerdem muss sie Geld verdienen. Gleichzeitig knüpft sie Kontakte zu anderen Exilschriftstellern, aber auch zu internationalen Künstlern und Intellektuellen wie Pablo Neruda, Frida Kahlo oder Diego Rivera. Sie gründet mit Egon Erwin Kisch den antifaschistischen Heinrich-Heine-Klub als deutsche Literatur- und Kulturvereinigung und wird dessen Präsidentin. Zusammen mit Ludwig Renn organisiert sie die Bewegung Freies Deutschland und gibt die gleichnamige Zeitschrift heraus. Im Juni 1943 erleidet sie einen schweren Verkehrsunfall. Es folgt ein langer Krankenhausaufenthalt, doch mit Hilfe von Ärzten und Freunden kämpft sie sich ins Leben, in ihr Schriftstellerdasein zurück.

Darüber hinaus stürzt sich Seghers in ihre Schreibarbeit. Dafür hat sie sich auf dem Dachterrasse ihres Wohnhauses ein „Schreibparadies“ eingerichtet: ein Stuhl und ein kleiner Tisch, überspannt mit einem Segeltuch gegen die Sonne, aber mit einem wunderbaren Blick über die Dächer. Neben der Erzählung Ausflug der toten Mädchen entsteht hier der Roman Transit, in dem Seghers ihre dramatische Flucht durch Südfrankreich verarbeitet. Eindrucksvoll schildert sie, wie verzweifelte Flüchtlinge in Marseille versuchen, die erforderlichen Papiere für eine Schiffspassage zu erhalten. Ihr Roman Das siebte Kreuz, den sie bereits in Paris abgeschlossen hatte und der ihren Weltruhm begründet, wird 1944 in den USA von Fred Zinnemann verfilmt und macht sie finanziell unabhängig.

Mag die mexikanische Welt auch noch so schillernd sein, das Land bleibt ihr weitgehend fremd. Bis zuletzt spricht sie kein Spanisch. Außerdem bestimmen Verdächtigungen und Ängste den Alltag. War der Autounfall vielleicht ein Attentat? Das FBI ist allgegenwärtig und Stalins Arm reicht auch ins ferne Exil. (Leo Trotzki wurde in Mexiko-City ermordet.) Und dann ist da noch die Sorge um die Zuhausegebliebenen und ihre Sehnsucht nach Europa. Trotzdem wird sie später die Jahre in Mexiko als „die schönsten meines Lebens“ bezeichnen.

Volker Weidermann zeichnet Seghers‘ Leben und Arbeiten in Mexiko intensiv und einfühlsam nach; er bringt die menschliche Seite der Schriftstellerin nahe, ihre Rolle als Ehefrau und Mutter. Daneben beleuchtet er die politische Einstellung der überzeugten Kommunistin, die dem ideologischen Korsett ihrer vermeintlichen Gewissheiten kaum entkommen konnte. Doch zum Ende des Exils ist es einsam um sie geworden. Die beiden Kinder gehen nach Paris und ihr Mann nimmt die mexikanische Staatsbürgerschaft an und folgt ihr erst 1952 nach Deutschland. Neben dem Aufenthalt von Anna Seghers verfolgt der Autor auch den Alltag deutscher und jüdischer Künstler im lateinamerikanischen Exil in den 1940er Jahren. Abschließend widmet er sich auch kurz der Rückkehr nach Deutschland, die die Schriftstellerin immer wieder hinausgezögert hat. Was erwartet sie in Europa? Werden die politischen Auseinandersetzungen weitergehen? War ihr Schutzpanzer, den sie sich mit ihrem schriftstellerischen Erfolg in Mexiko zugelegt hatte, stabil genug für die alte neue Welt? 1947 verließ Anna Seghers Mexiko und kehrte über Schweden und Frankreich nach Deutschland zurück, wo sie zunächst in West-Berlin wohnte und erst drei Jahre später nach Ost-Berlin zog.

Weidermann schlägt mit seiner Biografie immer wieder einen literarischen Ton an, manche Episoden tragen sogar poetische Züge. Mitunter schlüpft er in die Rolle seiner Protagonistin und versucht mit dem Mittel der erlebten Rede ihre Gedanken und Gefühle nachzuempfinden. So ist die Darstellung der Exilgeschichte eine Mischung aus Roman und Sachbuch; dafür fehlt aber leider ein Personenregister. In seinem Nachwort Blaue Welt berichtet der Autor von seiner persönlichen Spurensuche, die er Ende 2019 mit seiner ältesten Tochter in Mexiko unternommen hat. Anschließend begab er sich nach Paris, um den 94-jährigen Pierre Radványi, den ältesten Sohn von Anna Seghers, zu treffen. Er verstarb 2021.

Das vielschichtige biografische Porträt, ergänzt durch einige Familienfotos, die Seghers Enkelin Anne Radványi zur Verfügung gestellt hat, ist eine willkommene Anregung, die bedeutenden Werke von Anna Seghers wieder einmal in die Hand zu nehmen. Ihr Todestag jährt sich am 1. Juni 2023 zum 40. Mal.

Titelbild

Volker Weidermann: Brennendes Licht. Anna Seghers in Mexiko.
Aufbau Verlag, Berlin 2020.
186 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783351037949

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Volker Weidermann: Brennendes Licht. Anna Seghers in Mexiko.
Ungekürzte Lesung mit Burkhart Klaußner.
Der Audio Verlag, Berlin 2020.
4 CDs, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783742416858

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Titelbild

Volker Weidermann: Brennendes Licht. Anna Seghers in Mexiko.
Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 2022.
186 Seiten , 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783746639116

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