Eine ganz besondere Liebe: Thomas Mann und das Meer
Volker Weidermann hat eine biografische Erzählung über den Nobelpreisträger vorgelegt
Von Manfred Orlick
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Das Meer“, so hat Thomas Mann einmal geschrieben, „sein Rhythmus, seine musikalische Transzendenz ist auf irgendeine Weise überall in meinen Büchern gegenwärtig, auch dann, wenn nicht, was oft genug der Fall, ausdrücklich davon die Rede ist.“ Das Meer war aber nicht nur der „stille Held“ seiner Bücher, auch in seinem Leben war das Meer immer wieder der Ort seiner Sehnsucht und der Befreiung. Wie ein roter Faden zog sich die Liebe zum Meer durch seine Biografie – von der Ostsee bis später zur kalifornischen Pazifikküste.
Der Schriftsteller und Feuilleton-Leiter der ZEIT Volker Weidermann hat diese Leidenschaft zum Anlass genommen, die Biografie des Nobelpreisträgers aus diesem Blickwinkel zu beleuchten, um so auch einen neuen Zugang zu seinem Werk zu finden. In Mann vom Meer hat er aus Thomas Manns Biografie Episoden zusammengetragen und nacherzählt, in denen das Meer eine nicht unbedeutende Rolle spielte. Die Umschlagrückseite der Neuerscheinung ziert ein ungewöhnliches Foto des 53jährigen Schriftstellers, den man sonst nur korrekt gekleidet kennt: im karierten Bademantel, die Arme verschränkt, lässig eine Zigarette im Mundwinkel. Nur am Meer schienen sich die Fesseln und Etikette zu lösen.
Thomas Mann selbst war sieben Jahre alt, als er zum ersten Mal das Meer sah, die Lübecker Bucht, wo die Familie in Travemünde ab 1882 jedes Jahr die Sommerferien verbrachte. Es waren glückliche Tage, an die er sich noch im hohen Alter erinnerte. Später ging er ans Mittelmeer, wo er nicht nur Mittel und Wege fand, sich künstlerisch auszuleben. Er verliebte sich auch in junge Männer. Das war gefährlich in der damaligen Zeit, für Mann aber durchaus befreiend. Schließlich folgte er dann aber doch den Konventionen der Zeit und heiratete 1905 Katharina Pringsheim, eine Tochter aus bestem Haus. 1938 übersiedelte er mit seiner Familie in die USA, zog dann 1941 nach Pacific Palisades / Kalifornien, in einen Stadtteil von Los Angeles, wo er sich ein Haus nach seinen Vorstellungen bauen ließ. Zehn Jahre lebte und arbeitete er hier an der Pazifikküste. Es entstanden Doktor Faustus, Lotte in Weimar und Teile des Felix Krull.
Weidermann beginnt Manns leidenschaftliche Beziehung zum Meer jedoch nicht mit dem Ostsee-Kindheitserlebnis nachzuverfolgen, sondern viele Jahre früher in Brasilien. Thomas Manns Mutter Julia Bruhns (1851-1923) war auf einer brasilianischen Plantage, in einem hellen Haus am Ufer, aufgewachsen. Nach dem Tod ihrer Mutter schickte der Vater, ein ausgewanderter Lübecker, seine Kinder nach Deutschland, Da war Julia gerade sieben Jahre alt. Trost fand sie mit ihren Geschwistern bei gemeinsamen Aufenthalten in Travemünde. Die Ostsee war allerdings kein Meer mit Palmen und Zypressen wie auf der anderen Seite des Globus. Mit siebzehn Jahren heiratete sie den elf Jahre älteren, späteren Senator Thomas Johann Heinrich Mann (1840–1891). Ihren Kindern hat sie später immer wieder von der paradiesischen Schönheit des ehemaligen Anwesens direkt am Atlantik erzählt. Obwohl Thomas Mann den Strand seiner Mutter nie gesehen hat, kannte er ihn aus ihren Berichten. Als Knabe hatte er oft auf einem Globus nachgeschaut, wie weit das weg war. Wahrscheinlich hatte er die Liebe zum Meer von seiner Mutter geerbt.
Neben diesen biografischen Bindungen Thomas Manns zum Meer spürt Weidermann auch zahlreiche Belege in seinen Werken auf, in denen diese Wesensverwandtschaft ihren Ausdruck fand. Bereits in der frühen Novelle Der kleine Herr Friedemann (1897) sehnt sich der zwergwüchsige Titelheld nach dem Wasser, nach dem Fluss, fürchtet ihn aber auch. In den Buddenbrooks (1901) spielen immerhin drei Kapitel in Travemünde. Hierher flüchtet Hanno Buddenbrook vor der Schule in die Ferien am Meer, und Tony Buddenbrook lernt hier ihre große Liebe kennen. In der Novelle Tod in Venedig (1912), in der Mann über seine Homosexualität schrieb, ist das Meer Sinnbild für die verbotene Leidenschaft und für das bittere Ende. Auch in dem Roman Der Zauberberg (1924) spielt die Natur eine große Rolle; sie ist nicht nur Hintergrund, sondern eng mit der Handlung verbunden. Das Kapitel „Schnee” kann als Höhepunkt des ganzen Romans bezeichnet werden. So ist Hans Castorps Schneeerlebnis in der Davoser Bergwelt eine Erinnerung an die tödliche Kraft des Meeres:
Jedoch liebte Hans Castorp das Leben im Schnee. Er fand es demjenigen am Meeresstrande in mehrfacher Hinsicht verwandt: die Urmonotonie des Naturbildes war beiden Sphären gemeinsam.
Das Meer war für Mann stets eine Inspirationsquelle; daher reiste er bei Schreibhemmungen häufig zum schöpferischen Auftanken an die See. Weidermann schlägt immer wieder Brücken zwischen den realen Erlebnissen und den Erzählungen und Romanen von Thomas Mann, und begründet, wie Eindrücke und Stimmungen ihren Niederschlag in seinem Werk fanden. Dabei behält er sein zentrales Thema immer im Blick. In seinem Nachwort Weiterleben widmet sich Weidermann schließlich ganz Elisabeth Mann Borgese, der Lieblingstochter, und zeigt, wie sie als Meeresrechtlerin und „Botschafterin der Ozeane“ die Liebe ihres Vaters zum Meer selber fand und weitertrug. Als sie im hohen Alter noch einmal seine Bücher gelesen hatte, sagte sie: „Ich halte seine Analyse des Verhältnisses der Menschen zur Natur und besonders zum Meer für die tiefgründigste, die mir je begegnet ist Er kannte die Ehrfurcht des Menschen vor der Unendlichkeit und Wildheit der Meere.“
Neben der Printausgabe ist im Audio Verlag auch eine ungekürzte Lesung (gesprochen von Hanns Zischler, Dauer 6 h und 26 min) der Neuerscheinung erschienen.
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