Des Bürgers alte Kleider

Nora Weinelt hat eine kurze, Anja Meyerrose eine lange Geschichte des Herrenanzugs geschrieben – mit vielfältigem Material für historische Analysen der Mode

Von Robert ZwargRSS-Newsfeed neuer Artikel von Robert Zwarg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Bürger Max Horkheimer, Sohn eines Kunstwollfabrikanten, wusste sehr genau um die Gestehungskosten, mit denen sich das Bürgertum nicht nur seinen Wohlstand, sondern auch seine Autonomie erkaufte. Einer der Momente, in denen dieses Bewusstsein sich im Affekt geltend macht, findet sich in einem Brief an den Vetter Hans aus dem Jahr 1916. En passant erwähnt Horkheimer dort ein Objekt, dem scheinbar eine ganz besondere exemplarische Kraft innewohnt: „Du schläfst in Betten, trägst Kleider, deren Herstellung wir mit der Tyrannenpeitsche unseres Geldes von Hungernden erzwingen, und Du weißt nicht, wieviel Weiber bei der Herstellung des Stoffes für Deinen ‚Cut’ neben die Maschine gefallen sind.“ Der Herrenanzug – in diesem Fall der englischen Cutaway („Cut“), ein meist schwarzer, formaler Gehrock mit schräg geschnittener Taille – war für Horkheimer offensichtlich mehr als ein bloßes Kleidungsstück, mehr auch als eine Erinnerung an das Gewerbe des Vaters, sondern gleichsam paradigmatisches Beispiel für den undurchschauten Zusammenhang von bürgerlicher Freiheit und ihrer blutigen Grundlage.

Keineswegs ist der Anzug dem Bürger etwas bloß Äußerliches, sondern gerade in seiner äußerlichen Funktion als Uniform soll er Innerliches verbürgen. „Tritt einer mit schlechtem Anzug in einen Laden, eine Wohnung, ein Hotel, hat er gar auf einem Amt zu tun“, schreibt Horkheimer in einer Notiz aus Dämmerung, „so erfährt er, wie in seinem Leben überhaupt, unendlich weniger Freundlichkeit als der Gutgekleidete.“ Etwas von dem Zusammenhang zwischen dem Anzug und der Welt, auf die er verweist – einer Welt aus Behördengängen, Geschäftsterminen und Vorstellungsgesprächen – kündigt sich vielleicht in dem Unbehagen kleiner Jungen an, wenn sie zur Kommunion, Konfirmation oder Jugendweihe das erste Mal in einen zu großen Dreiteiler gesteckt werden.

Von der Geschichte des Herrenanzugs, von seiner Symbolkraft und seiner Funktion als zwar schlichtes aber trotzdem stolzes Emblem einer bürgerlichen Klasse, die heute kaum noch mehr als Simulation ist, handeln zwei jüngst erschienene, lesenswerte Bücher: Zum einen der in der Reihe Relationen veröffentlichte Essay Minimale Männlichkeit. Figurationen und Refigurationen des Anzugs von Nora Weinelt, zum anderen die ursprünglich als Dissertation verfasste Studie von Anja Meyerrose Herren im Anzug. Eine transatlantische Geschichte von Klassengesellschaften im langen 19. Jahrhundert. Trotz unterschiedlicher Ausgangsfragen und Schwerpunktsetzungen handelt es sich bei beiden Schriften um weit mehr als Beiträge zur disziplinär zugerichteten Modegeschichte oder Modesoziologie; vielmehr zeigen sie, wie sich am Besonderen das Allgemeine exemplifizieren lässt, ohne dass Alltag und Erfahrung schlicht zur Bestätigung bereits vorab feststehender Thesen degradiert werden.

Die Studien sind durchaus unterschiedlich angelegt. Weinelts knapp 130 Seiten langer Essay widmet sich vornehmlich dem Nachweis, dass dem Aufstieg des Bürgertums und seiner Emanzipation von Hof und Adel von Beginn an eine geschlechterspezifische Dimension eigen war, die sich an seiner Kleidung darstellen und deuten lässt. Der schwarze Anzug – der habit noir –, das war nicht nur äußerliches Merkmal der inneren Überzeugung von der Gleichheit aller Menschen, sondern zugleich ein Symbol für ein bestimmtes Bild von Männlichkeit. Den Körper eher umreißend als betonend, legt der Schematismus des Anzugs, der bis in die 1960er-Jahre, so Weinelt, im Wesentlichen gleichgeblieben ist, den Akzent auf Hände und Gesicht des Bürgers, seinen praktischen wie theoretischen Geist.

Was sich im Anzug verkörpert, ist eine Haltung, deren Gegenbild das vermeintlich flüchtige, bloß oberflächliche Weibliche ist. Der Verfall – oder um die etwas bemühte Terminologie des Buchtitels aufzunehmen, die „Refiguration“ – dieses Bilds von Männlichkeit ist der eigentliche Fluchtpunkt von Weinelts Essay, wie das letzte Kapitel verdeutlicht, das sich den zeitgenössischen Designern Raf Simons und Hedi Slimane widmet. Denn erst im Nachgang der 1960er-Jahre, so Weinelt, beginnt der Anzug zum ersten Mal, „modisch“ zu werden, also sich substanziell zu verändern und Stilelemente aufzunehmen, die bis dahin der Frauenmode vorbehalten waren. Hier wird porös, was Weinelt als „maskulines Prinzip“ beschreibt und über gut zweihundert Jahre lang den Anzug ästhetisch strukturierte: das Verschwinden von Leiblichkeit unter „nivellierenden Stoffen und abstrahierten Linien“, die konstitutive Dreiteiligkeit, die das Aufblitzen nackter Haut durch ihre Anordnung verhindert und gleichzeitig eine Bewegungsfreiheit ermöglicht, die der Frauenmode meist abgeht, und zuletzt die monochrome, ornamentfreie Uniformität.

Anja Meyerroses sich auf gut 360 Seiten erstreckende, bemerkenswert ausgreifende Studie hingegen deutet den Anzug, wie der Untertitel bereits deutlich macht, vor allem als wichtiges Element einer von England ausgehenden, schließlich sich aber global entfaltenden Klassengeschichte. Kaum überraschend widmet sie den Produktionsbedingungen des Anzugs große Aufmerksamkeit. Eine Stärke des Buchs besteht darin, dass sie Unterschiede in der Art und Weise der Produktion sowie des Vertriebs als Kompass einer vergleichenden, transatlantischen Analyse der Bürgerlichkeit nutzt; ob die Anzüge in aufwendiger Handarbeit, maßgeschneidert, in Massenproduktion oder in Konfektionsgrößen hergestellt werden, verrät dergestalt immer auch etwas über den Status des Bürgertums in der jeweiligen Gesellschaft.

Während England das Land der tailor-made-suits für die Gentlemen der höheren Klasse war, kamen in den Vereinigten Staaten nicht zufällig die konfektionierten ready-to-wear Anzüge auf; nicht nur der in Wohlstand geborene oder Produktionsmittel besitzende Bürger sollte sich den Herrenanzug leisten können, sondern auch der Kleinbürger und Arbeiter. In diesem Sinne verrät der Anzug etwas über die Inszenierung, Aufrechterhaltung oder eben Durchlässigkeit von Klassengrenzen. Gerade weil beispielsweise in Deutschland die Verbürgerlichung vornehmlich als individueller Prozess gesehen wurde, konnte sich das antiamerikanische Ressentiment gegen die uniforme Masse der Neuen Welt um die Jahrhundertwende so nachhaltig festsetzen. Dabei missverstand man, dass die enorme Verbreitung des Anzugs sowie die vergleichsweise geringen Preise in den Vereinigten Staaten sichtbarer Ausdruck der demokratischen und egalitären Gründungsideale des Gemeinwesens waren.   

Meyerrose endet mit der Aussage, dass auch heute noch die Transformation moderner Klassengesellschaften daran abgelesen werden kann, wer wann welche Bekleidung trage und warum. Diese Studie müsste freilich noch geschrieben werden. Ob Meyerroses durchaus traditioneller Klassenbegriff sich zur Analyse einer Gegenwart eignet, in der Klassengrenzen tendenziell verschwimmen, ist allerdings fraglich (zumal in Meyerroses Verwendung des Klassenbegriffs die alte Hoffnung mitschwingt, dass sich aus der Stellung im Produktionsprozess auch Rückschlüsse auf das Bewusstsein, vor allem das fortschrittliche, ziehen lassen). Das Bürgertum als nur noch simuliertes, ohne politische oder ökonomische Grundlage, affiziert auch den Distinktionsgehalt seiner Kleidung.

Die Zentrifugalkräfte der Konkurrenz und die permanente Drohung der Prekarität zwingen zu einer Flexibilität, die Thomas Mann an der Figur des Felix Krull vorgezeichnet hat. Der Hochstapler wusste sehr genau, sein Äußeres zu variieren. Penibel entscheidet er vor jedem gesellschaftlichen Anlass über sein Kostüm, weiß genau, wann er die schlichte Ziviltracht – den dreiteiligen, schwarzen Herrenanzug – und wann er den samtbesetzten, mit goldenen Knöpfen versehenen Frack zu tragen hat. Mal gilt es, durch das „Formelle im Anzug der Herren (…) Aufmerksamkeit gegen das Volk“ zu demonstrieren, mal durch das dezente Ornament Reichtum und Distinktion zur Schau zu stellen. Noch jeder Akademiker – um nur ein Beispiel herauszugreifen – weiß heute, wann es gilt, ostentative Jugendlichkeit, besonderes Stilbewusstsein oder bildungsbürgerliche Souveränität zu signalisieren, ohne dass dies prinzipiell etwas am drohenden gesellschaftlichen Scheitern ändern würde. Auch die Distanzierung von Mustern und Bildern traditioneller Männlichkeit gehört heute durchaus zum guten Ton, verlangt doch jede Stellenbeschreibung eine geradezu uneinholbare Mischung aus vermeintlich typisch männlichen und vermeintlich typisch weiblichen Eigenschaften.

Nora Weinelts Minimale Männlichkeit reicht zwar bis in die jüngere Gegenwart und betont gerade die Transformation des Geschlechterverhältnisses. Was Meyerrose „Klassengeschichte“ nennt, ist bei Weinelt allerdings lediglich ein Nebenschauplatz. Paradoxerweise kehrt das Ende ihrer Studie gewissermaßen an den Anfang zurück. Die Aufnahme von Elementen der Frauenmode in die zeitgenössische Ästhetik des Herrenanzugs und vice versa gilt ihr nicht als Indiz der spätkapitalistischen Auflösung von Geschlechterdifferenzen, sondern als Signum der Beharrlichkeit des „männlichen Prinzips“. Möglicherweise schlägt sich darin auch der konstruktivistische Zugriff auf ihren Gegenstand nieder. Da ihr – in dieser Hinsicht typisch postmoderner – Fokus auf der Inszenierung von Geschlecht liegt, entgeht ihr in der Tendenz die spannungsvolle Vergesellschaftung von Leib und Körper; wo „Destabilisierung“, „Verflüssigung“ und „Dekonstruktion“ von Grenzen prinzipiell positiv besetzt sind und der Nachweis der „Konstruiertheit“ von Geschlecht gleichsam den letzten Grund der Analyse bildet, rückt eine kritische Geschichte der Mode als Naturgeschichte, obwohl bei Weinelt angelegt,in den Hintergrund.  

Titelbild

Anja Meyerrose: Herren im Anzug. Eine transatlantische Geschichte von Klassengesellschaften im langen 19. Jahrhundert.
Böhlau Verlag, Köln 2016.
359 Seiten, 40,00 EUR.
ISBN-13: 9783412503659

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Nora Weinelt: Minimale Männlichkeit. Figurationen und Refigurationen des Anzugs.
Neofelis Verlag, Berlin 2016.
138 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783958080171

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