Weise alte Männer?

Maria Kraft stellt die altüberlieferte Erzählung der ‚Sieben weisen Meister‘ in neue, zeitgemäße Kontexte

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wahrnehmung und gesellschaftliche Parameter sind unablässig im Fluss, und so manches Tabu gesellschaftlicher Art, das über Generationen gültig war, ist mittlerweile keiner Bemerkung mehr würdig. Dennoch gibt es sinusartig wechselnde soziale Konstanten, wie und ob über bestimmte Themen intimerer Art gesprochen wird oder eben nicht. Deren Reiz liegt in der verheißenen Provokation des Tabubruchs respektive des Aufbrechens gesellschaftlicher Standards. Dabei ist selten eindeutig klar, ob das vermeintlich Subversive nicht doch affirmativen Charakter hat, indem die durch den Skandal scheinbar obsolet gewordenen Strukturen letztlich einen sicheren Hafen für die eigene Existenz bieten. In gewisser Hinsicht mag daraus auch der Anspruch abgeleitet sein, in derlei Formaten für die eigene Lebensführung zumindest eine komplementäre Matrix, wenn nicht gar Beratungsstruktur zu finden.

Dies ist, in nahezu allen Facetten, selbstverständlich kein Phänomen erst der Gegenwart, sondern auf die eine oder andere Art bereits seit der Antike kulturelle Tradition. Und Skandal wie Moral sowie nicht zuletzt die stabilisierende Auflösung sind die tragenden Komponenten in der Erzählung von den Sieben weisen Meistern, die von Maria Kraft in einen, so weist der Untertitel des Buches aus, neuen Kontext gestellt werden. Wenn unter dem Titel Weise nicht das Weib zurück eine Geschichte der sieben weisen Meister vorgestellt wird, wirkt das nicht unbedingt zeitgemäß, wenn nicht gar andere, abwertende Attribute dazu konnotiert werden, die das kulturelle Dominanzstreben ‚alter weißer Männer‘ anklagen. Sind diese von einer Frau (oder einem als Frau gelesenen Menschen) herausgegeben, mag die Assoziationsfolge in Richtung der in den 70er-Jahren dezidiert antiemanzipatorisch agierenden Esther Vilar deuten oder, schlimmer noch, in befremdliche ‚Tradwife‘-Trends der Gegenwart. Wenn aber auch das nicht der Fall ist, wird die Angelegenheit wirklich spannend.

Es geht um Erotik, allerdings die der unerfüllten Art, und das dem Buch vorangestellte Zitat: „die Hölle kennt keine Wut wie die einer verschmähten Frau“, das selbstredend ausschließlich die männliche Wahrnehmung bedient, deutet auf die Rahmengeschichte der Meister oder besser gesagt den Auslöser hin: den höllischen Hass einer verschmähten Frau, der sich aus dem Gefühl des Zurückgewiesenwerdens und der damit verbundenen Demütigung speist. Zumindest unterschwellig schwingen auch Aspekte des Ödipalen mit, und sei es auch nur, indem sie als gegenweltlicher Entwurf zum Erzählten und für faktisch genommenen mitgedacht werden.

Was sollte bei der Konstellation ‚alter Herrscher – jüngere Frau/Stiefmutter – junger Sohn‘ auch vermutet werden, wenn nicht eine die gesellschaftlichen Regeln aufbrechende Kabale der Jungen gegen den Alten? Doch diese findet eben nicht statt (beziehungsweise in anderer Konstellation), hatte die Kaiserin doch sehr wohl einen Liebhaber, aber eben nicht den Thronfolger. Dieser Umstand macht das gesellschaftlich Affirmative der Geschichte der sieben weisen Meister aus. Oder anders ausgedrückt: Die (männliche) Moral obsiegt in nachgerade lehrbuchhafter und unbedingt vorbildlicher Weise.

Vorbildhaft sind die Geschichten der auftretenden sieben weisen Meister in der Tat. Auch wenn zuvorderst eine rein männliche Perspektive eingenommen wird, finden sich Parameter, anhand derer es wohl auch dem vormodernen Urpublikum schwergefallen sein dürfte, zumindest im Ansatz die Motivation weiblichen Handelns zu übersehen. Denn auch wenn die kaiserliche Stiefmutter die destruktiv Agierende ist, die Konstellationen in denen sie lebt, lassen ihr Handeln wenn vielleicht nicht zwangsläufig, so doch nicht vollkommen unmotiviert und abwegig erscheinen. Das wird auch am Aufbau des von Maria Kraft hier nacherzählten ‚Volksbuches‘ deutlich. Zunächst werden die Parameter und Handlungs- sowie Erzählräume vorgestellt, die agierenden Personen eingeführt und vor allem der Plot – die vorgebliche Übergriffigkeit des kaiserlichen Thronfolgers einschließlich der sich daraus ableitenden Konsequenzen – beschrieben.

Die aufeinander verweisenden Episoden der Meister generieren einen Rezeptionskontext, innerhalb dessen auf vermeintlich stringente Weise gesellschaftliche Gegebenheiten dargestellt und erklärt werden. Diese erweisen sich jedoch nach näherer Inaugenscheinnahme als höchst fragile Konstrukte, denen zwar Selbstreferentialität zugewiesen werden kann, deren damit implizit formulierter Anspruch absoluter Gültigkeit jedoch obsolet ist. Sieben paarig strukturierte Erzählkomplexe sind es, und immer geht es um die Frage der indirekten Beweisführung, da Anspielung und Gegenanspielung die jeweiligen Geschichten dominieren.

Mithin erzählt die Kaiserin eine exemplarische Geschichte, die dann durch eine antagonistische Erzählung eines Meisters konterkariert wird. Und selbstverständlich ist das Ergebnis ein ‚staatstragendes‘: Der siebenmal mit dem Tod durch den Strick bedrohte Thronfolger wird vornehmlich durch die jeweiligen Verteidigungserzählungen der Meister, aber dann auch durch die Enttarnung des tatsächlichen Liebhabers der Kaiserin, der sich als Frau verkleidet in der Menge versteckt hatte, gerettet. Aber, und das ist der fundamentale Unterschied zu den eingangs erwähnten gegenwärtigen Umsetzungen jenes Themas: Es gibt aus heutiger Sicht kein Happy End, weil die betrügerische Ehefrau hingerichtet wird. Ist der Gerechtigkeit also Genüge getan? Zumindest geht alles seinen systemkonformen Gang: Der Kaiser regiert weiter, sein Sohn folgt ihm auf dem Thron, und auch die sieben Meister werden hochgeehrt und geachtet weiterleben – die patriarchale Gesellschaft scheint bestätigt.

Männerwelt und Männergerechtigkeit also? Einerseits sicherlich. Andererseits ist das Ganze deutlich komplexer. Das greift Maria Kraft, Ärztin und medizinische fundierte Psychotherapeutin, die im Rahmen dieser Tätigkeit auch mit Strafgefangenen arbeitete, bereits knapp in ihrer Einleitung, vor allem aber in den analysierenden, den Geschichten nachgestellten Abschnitten auf.

So weist sie neben der hier sofort erkennbaren oberflächlichen Thematisierung von Bösartigkeit und Hinterlist ‚der Frauen‘ (die ‚Lehre‘ hier: Nicht nur das Offensichtliche berücksichtigen!) auf die in mehrfacher Hinsicht Leid verursachende Ebene der Kränkung der Bösewichtin (‚Täterinnenmotivation‘) sowie allgemein auf den inzestuös bedingten Tabubruch (gesellschaftliche Instabilität) hin. Dabei werden von der Erzählung ausgehend einzelne Aspekte deutlicher in den Blick genommen und etwa der Komplex der Todesstrafe als weltweites Phänomen und im Sinne archaischer Bestrafung diskutiert, wobei nach Auffassung der Autorin im Zusammenhang mit dem ‚Volksbuch‘ auch die Problematik nicht unabhängiger Gerichtsbarkeit aufscheint.

Bemerkenswert: Auch der Begriff der ‚Meisterschaft‘ wird zur Disposition gestellt, indem etwa mit Meister Pfriem im gleichnamigen Märchen der Brüder Grimm ein Negativbeispiel herangezogen wird. Im Zusammenhang mit dem Tierreich (etwa ‚Meister Lampe‘ für den Hasen) dient das Wort lediglich einer zusammenfassenden Kategorisierung, während andererseits der vermutlich bedeutendste deutsche Mystiker Meister Eckhart tatsächlich für Weisheit und womöglich auch Resilienz steht. Und unter der Überschrift „Zusammenfassung und Vergleiche“ wird das Sujet in einen kulturgeschichtlichen Kontext gestellt und auf die offenkundig sowohl geographisch als auch historisch breite Tradierung – etwa auch im alttestamentlichen Kontext – hingewiesen.

Auch die auf die eine oder andere Art gegebene Aktualität wird angesprochen, wobei hier am nachhaltigsten wohl die vor einigen Jahren angestoßene #MeToo-Debatte ist. Maria Kraft allerdings erweitert die Perspektive unerwartet: Unter Bezug auf die vom Künstler Thomas Gatzemeier in einem Blog veröffentlichten negativen Folgen, denen auch Männer in den entsprechenden Konstellationen ausgesetzt sein können, schließt sich der Kreis mit dem Appell, „die Forderung der heutigen Frauen an die Männer, ein klares ‚Nein‘ zu akzeptieren, sollte auch umgekehrt Gültigkeit haben“.

Die Textausgabe der Meister ist dem modernen Sprachgebrauch angepasst, wobei auch Wörter Verwendung finden, die einen archaischen Charakter tragen, ohne dass dies jedoch, wie es leider sehr oft in vergleichbaren Editionen der Fall ist, aufgesetzt und damit ungewollt komisch wirkt. Dieser Weg macht die Geschichte (oder vielmehr die Geschichten) der Sieben weisen Meister leicht zugänglich, lesefreundlich und setzt damit in gewisser Hinsicht die Diederichs-Tradition der 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts fort. Ist die Edition dieses Erzählkomplexes allein schon deshalb interessant, weil dieser erneut einer breiteren Leserschaft zugänglich gemacht wird, gewinnt das vorliegende Buch vor allem durch die sich anschließenden Kapitel, in denen allgemeinere Informationen geliefert und Querverbindungen zu und Anknüpfungsmöglichkeiten an gegenwärtige kulturell-gesellschaftliche Konstellationen ermöglicht werden.

Die bei Königshausen & Neumann herausgegebene Ausgabe ist im Unterschied zu den von der Verfasserin zur Grundlage gemachten 1924 erschienenen ‚Volksbüchern‘ ein Paperback, was zeitgemäß ist und Ressourcen spart, aber insofern schade, als die zugrunde liegenden Diederichs-Editionen in der Tat bereits haptisch eine eigenständige Größe sind. Das soll und kann jedoch nicht den Inhalt des Buches tangieren oder seinen Wert schmälern; auch die Gestaltung ist ansprechend, da der Titel eine Illustration aus der Handschriftensammlung der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main aufweist, die die sieben weisen Meister darstellt. Und womöglich lädt die weniger ehrfurchtgebietende Form eines Taschenbuches auch zum häufigeren, in jedem Fall sehr lohnenswerten, Lesen ein.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Maria Kraft: Weise nicht das Weib zurück. Die Geschichte der sieben weisen Meister im neuen Kontext.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2020.
177 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783826071294

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