20 Jahre später und immer noch flapsig

Irvine Welsh beschließt mit „Die Hosen der Toten“ die „Trainspotting“-Saga

Von Nicole KarczmarzykRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nicole Karczmarzyk

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Sag ja zum Leben. Sag ja zum Job. Sag ja zur Karriere. Sag ja zur Familie“ – so beginnt der berühmte Monolog der Verfilmung von Irvine Welshs Roman Trainspotting, der in den 1990er Jahren zum Filmklassiker wurde. Mark Renton, eine der Hauptfiguren in Welshs 1993 erschienenem popliterarischen Erfolgsroman, gibt in seinem Monolog einen nihilistischen Kommentar zu Spießigkeit und Besitzstreben, der schnell Kultstatus für eine ganze Generation erreichte. Damit begann die Geschichte der desillusionierten Jugend aus einem heruntergekommenen Arbeiterviertel im schottischen Edinburgh.

Auf den Kultklassiker ließ Welsh schließlich 2002 die Fortsetzung Porno folgen, in der die vier Hauptcharaktere Mark Renton, Simon Williamson, genannt „Sick Boy“, Daniel „Spud“ Murphy und Francis Begbie erneut aufeinandertrafen. Mit dem 2012 veröffentlichten Skagboys erzählt Welsh die Vorgeschichte zu Trainspotting, während mit dem Roman Kurzer Abstecher vier Jahre später ein Spin-Off der Figur Francis Begbie erschien. Zwei Jahre später ist mit A Dead Man’s Trousers das Ende der Saga erschienen und 2020 nun auch die deutsche Übersetzung, Die Hosen der Toten.

Im nunmehr zwölften Buch des schottischen Pop-Autors geht es, nachdem Mark Renton in Trainspotting seine Freunde bei einem Drogendeal um mehrere tausend Pfund betrogen hat, diesmal vor allem um den Versuch der Wiedergutmachung. Als DJ-Manager bereist Mark zwanzig Jahre nach dem großen Diebstahl inzwischen die Welt. Er kehrt in Luxus-Hotels ein und sieht sich in der Lage, seinen ehemaligen Freunden das damals geraubte Geld mit Zinsen zurückzuzahlen und um Vergebung zu bitten. Schnell stellt sich heraus, dass die Person, vor deren Wut Renton am meisten Angst hat, sein Geld gar nicht mehr benötigt. Der psychopathische Alkoholiker und Straftäter Francis Begbie ist inzwischen aus dem Gefängnis entlassen und zum gefeierten Künstler der US-amerikanischen Kunstszene aufgestiegen. Dass er nebenbei seine psychopathischen Gewaltfantasien weiter auslebt, bleibt in seinem näheren Umfeld dabei unbemerkt. Simon, ehemals „Sick Boy“, lebt inzwischen in London und ist Inhaber einer mehr oder minder gut laufenden Escort-Agentur.

Die drei Hauptfiguren von damals haben also inzwischen alle „Ja“ zu Leben und Karriere gesagt. Oder wie Mark Renton ausführt: „Nun bin ich nicht unbedingt reich, aber ich habe mich in das System gemogelt und damit aufs Zwischendeck dieses Luxusliners, in dessen Kielwasser die Armen ersaufen.“ Der Linie treu geblieben ist dagegen Danny Murphy, genannt „Spud“. Er bettelt inzwischen auf der Straße und bleibt auch in Die Hosen der Toten der ewige Verlierer – dieses Mal sogar mit einschneidenden Folgen.

Obwohl zumindest drei der vier Outsider ihr Leben seit ihrer Jugend im Problemviertel deutlich geändert haben, bleibt Welsh auch im Finale seinem Credo treu: Nur das Leben abseits der Gesellschaft ist interessant. Genauso wie die Heimat der vier Jungs, der Stadtteil Leith, inzwischen der Gentrifizierung zum Opfer gefallen ist, haben sich auch Welshs Figuren von ihrer ärmlichen Arbeiterherkunft entfernt und sind nun alle mehr oder weniger wirtschaftlich erfolgreich. Doch nichts ist langweiliger als der Mainstream und darum haben Francis Begbi, Simon „Sick Boy“ und Mark Renton Karrierewege eingeschlagen, die ebenso außerhalb der Mainstream-Gesellschaft liegen wie der auf der Straße bettelnde Spud. Welshs Protagonisten sind in der Musik-Szene, der Prostitution und der Kunstszene zu Hause und nicht etwa Finanzbeamte. Leider haben sie sich aber innerlich anscheinend wenig weiterentwickelt. Denn bis auf die eine oder andere Altersweisheit ist innerhalb der Erzählung wenig von den zwanzig verstrichenen Jahren seit Trainspotting zu erkennen.

Zwar wird auch, wie bereits in den anderen Romanen der Serie, auf offensiv-flapsige Gesellschaftskritik gesetzt, zum Beispiel, wenn Sick Boy in einem seiner Kneipenmonologe das Ende des kapitalistischen Systems voraussieht: „Marx’ Prognose, dass der Kapitalismus einmal von einer Demokratie wohlhabender, gebildeter Arbeiter abgelöst wird, hat sich als falsch erwiesen. Er wird von einer Republik verarmter dauergeiler Techniknerds abgelöst.“ Jedoch kommt das Sequel hier nicht mit dem Beginn der Serie mit. Sick Boy und Renton sind zwanzig Jahre später zwar weiterhin kritische Geister, durch ihre eigene Teilnahme am System wirkt ihre Kritik aber weniger überzeugend.

Während Trainspotting das Leben Mark Rentons und seiner Freunde als einzigartige Milieustudie beschrieb, die radikal das Leben der schottischen Unterschicht bis zur Glorifizierung zeigte, geht es in Die Hosen der Toten vor allem um die Dynamik zwischen den Leith-Jungs und die wahnwitzigen Zufälle, die zu immer neuen Katastrophen führen. Während die Figuren im ersten Teil noch außerhalb der Gesellschaft zu verorten waren und diese lediglich als Spielplatz zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse benutzen, weil ohnehin alles bedeutungslos war, kommen die Protagonisten im vierten Teil etwas gesetzter daher. Die unnachahmliche Perspektive aus dem Abseits geht damit leider verloren.

Frauen treten in Die Hosen der Toten seltener auf und wenn, dann lediglich als Statisten. Sie dienen den Hauptfiguren in erster Linie als Anstoß zur Veränderung oder zur Bedürfnisbefriedigung. Entsprechend lieblos fällt daher auch die Charakterzeichnung der Partnerinnen Rentons, Simons und Begbies aus. Wie bereits in Porno, dem zweiten Teil der Serie, spielt Welshs neuester Roman unter anderem in der zwielichtigen Welt der Prostitution, wobei er es selbst hier schafft, ausschließlich Männer als aktiv handelnde Figuren vorkommen zu lassen.

Betrachtet man Die Hosen der Toten außerhalb des Trainspotting-Universums, gehört der Roman mit Sicherheit zum unterhaltsamsten, was die britische Popliteratur derzeit zu bieten hat. Wie immer schafft es Welsh auf seine einmalige Art, die Handlungsstränge der Ich-Erzähler miteinander zu verweben und durch immer neue überraschende Zufälle die absurdesten Situationen zu erschaffen. Während Renton noch in einem Moment über einen seiner DJ-Klienten, der musiktechnisch in den 90ern steckengeblieben ist, mault, findet er sich im nächsten schon in einem improvisierten Operationssaal irgendwo auf einem verlassenen Gelände in Berlin wieder. Dort versucht Sick Boy seinen Schwager davon zu überzeugen, eine Nierenoperation an Spud vorzunehmen: „Die allgemeinen Grundlagen der Chirurgie sind immer die gleichen. Wir haben ein sehr gutes YouTube-Video zu dem Thema […].“ Mit dieser rabenschwarzen Situationskomik und den verflochtenen Handlungssträngen schafft es Welsh über 474 Seiten ein Spannungsplateau aufzubauen, das bis zum Ende konstant bleibt.

Dazu trägt nicht zuletzt die Übersetzung von Stephan Glietsch bei, der sich der Herausforderung angenommen hat, Die Hosen der Toten aus dem schottischen Englisch ins Deutsche zu übersetzen. Glietsch stand damit vor einer nicht ganz einfachen Aufgabe, da hier Dialekt und Milieusprache aufeinander treffen und es für viele Redewendungen kaum Entsprechungen im Deutschen gibt. Doch er hat die Aufgabe mit viel Kreativität und Einfühlungsvermögen für den Sprachfluss des Originals gelöst und dabei für zahlreiche Dialektwörter des Schottischen kreative Übersetzungen gefunden, wie zum Beispiel den „Poposchlumpf“, wenn Simon von seinem homosexuellen Sohn spricht. Das macht das Finale der Welshen Serie auch für die deutsche Leserschaft zum kurzweiligen Lesevergnügen.

Titelbild

Irvine Welsh: Die Hosen der Toten.
Aus dem Englischen von Stephan Glietsch.
Heyne Verlag, München 2020.
480 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783453272330

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