Der ekstatische Schrei

Ein Tagungsband sucht neue Zugänge zum Werk des deutsch-jüdischen Schriftstellers, Malers und Zeichners Ludwig Meidner

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man kennt ihn mit seinen seelisch aufwühlenden Kompositionen, die ihn sowohl in der Empfindung wie in der Art und Absicht der Deformierungen mit seinem Zeitgenossen Oskar Kokoschka verbinden. Anlässlich der ersten großen Meidner-Ausstellung, die 1918 von der Galerie Cassirer in Berlin veranstaltet wurde, schrieb ein Kritiker, dass „man fast ein Grauen vor der ungewohnten Schamlosigkeit empfand, mit der hier die Seele bloßgelegt wurde“. Werke wie Apokalyptische Landschaft (1912/13), Apokalypse (1912) oder Brennende Stadt (1913) setzen auf stärkstes seelisches Erleben, auf den ekstatischen Schrei, auf Potenzierung aller Mittel und Möglichkeiten, sie wirken wie eine Vorahnung des kommenden Weltkrieges.

Auch wenn er zu keiner der führenden Expressionisten-Vereinigungen gehörte und eher mit Schriftstellern als mit Malern den Kontakt suchte, kann Ludwig Meidner doch als der Archetyp eines Expressionisten gelten. Er war ein Visionär, der seine überwältigenden Visionen über die Dramatik der Farbe und den emotional gesteuerten Pinsel transponierte. In sein Schaffen brachte er so viel von sich selbst ein, dass seine Begabung in kurzer Zeit ausgeschöpft schien. Die Bilder aus den Jahren von1911 bis 1916 waren weit bekannter als das, was dann in den letzten 50 Jahren, in der Weimarer Republik, in der englischen Emigration und nach seiner Rückkehr ins Nachkriegsdeutschland entstanden ist.

Der deutsch-jüdische Künstler wollte in den 1920er Jahren die jüdische Tradition unter modernen Vorzeichen erneuern. Diese Wiederentdeckung des Judentums ist genauso unbekannt wie die Karikaturen von Nationalsozialisten oder die allegorischen Kriegsdarstellungen, die er in der Emigration in England schuf.

Fast war er dann schon in Vergessenheit geraten, doch zum 50. Todestag im Jahr 2016 fanden fünf größere Ausstellungen in Frankfurt am Main, Hofheim am Taunus und Darmstadt statt, also in dem Raum, in dem Meidner seine letzten Lebensjahre verbrachte. Der Abschluss dieses Meidner-Jahres bildete dann ein vom Jüdischen Museum Frankfurt am Main organisiertes wissenschaftliches Symposium, dessen Ergebnisse 2018 in einem Tagungsband vorgelegt wurden. Hier kommen kunst- und kulturhistorische Studien zusammen; dem Schriftsteller, Maler und Zeichner sollte ebenso viel Aufmerksamkeit geschenkt werden wie allen seinen Werkphasen. Meidners Provenienz- und Rezeptionsgeschichte bleibt nicht ausgespart, ebenso wird Einblick in die Restaurierung eines seiner doppelseitigen Gemälde aus der expressionistischen Phase gewährt.

Erik Riedel, Mitherausgeber des Bandes (er betreut am Jüdischen Museum Frankfurt den künstlerischen Nachlass Meidners, während sich dessen schriftlicher Nachlass in Darmstadt befindet), erläutert die drei Themengruppen der Beiträge: Rezeptionsgeschichte, Provenienzforschung und kunsthistorische Kontextualisierung. Timothy  O. Benson (Los Angeles) berichtet, wie der Expressionismus in den USA zunächst eher als formale Abstraktion denn in seiner figuralen Ausprägung Fuß fasste und wie dann in der Nazizeit die Museen in den USA mit dem Aufbau von Expressionismus-Sammlungen begannen. Dabei fand Meidner eine besondere Wertschätzung und erhielt in den 1980er Jahren sogar „kanonischen Rang“ unter den deutschen Expressionisten. Am Los Angeles County Museum of Art kam es 1989 zu der aufsehenerregenden Ausstellung The Apocalyptic Landscapes of Ludwig Meidner.

Über die Wiederentdeckung Meidners als Berliner Maler im Nachkriegs-Berlin recherchiert Dominik Bartmann (Berlin). 1963/64 fand im Haus am Waldsee eine monografische Ausstellung statt, das damalige Berlin-Museum und die Berlinische Galerie erwarben wichtige Werke Meidners und 1990 kam die Ausstellung Apokalyptische Landschaften aus Los Angeles nach Berlin. Michael Assmann (Darmstadt) widmet sich dem literarischen Werk Meidners: den beiden Bänden expressionistischer Prosa Im Nacken das Sternemeer (1918) und Septemberschrei (1920), der hymnischen Dichtung und zugleich poetischem Manifest Mondsichelgesang. Autobiographische Plauderei (1923) verkündet das neue Programm christlicher (von Paulus geprägter) Theologie. Gang in die Stille erschien 1929, als Meidner schon längst zum Judentum zurückgekehrt war. Die literarische Produktion der Exilzeit und der Zeit nach der Rückkehr in die Bundesrepublik ist relativ gering. In den späten 1950er und frühen 1960er Jahren wurde Meidner mit dem neu erwachten Interesse für den Expressionismus wiederentdeckt.

Wie andere Expressionisten, so Ernst Ludwig Kirchner, war Meidner von den italienischen Futuristen beeindruckt, die die moderne Metropole als entscheidenden künstlerischen und literarischen Gegenstand entdeckt hatten. Doch bis zu Beginn der 1990er Jahre war er selbst in Italien nur wenigen Kunstexperten bekannt, schreibt Paola Valenti (Genua). Der Galerist Emilio Bertonati – Meidner har ihn selbst noch gezeichnet – stellte Meidner 1962 in Mailand aus und  bezeichnete ihn 1967 in seinem Buch Il realismo in Germania als Vertreter „eines besonderen kubo-futuristischen Expressionismus“, der auf der Suche nach „einer dialektischen Beziehung zur umstehenden Welt“ sei und der „nach einem Eingriff in die Realität“ strebte. Als erste Schrift Meidners hat der Germanist Paolo Chiarini 1964 Anleitung zum Malen von Großstadtbildern veröffentlicht und Meidner als den begabtesten Interpreten jener Faszination für die Großstadt bezeichnet. Insgesamt vier Einzelausstellungen gab es bisher in Italien – und mit Paola Valentis Buch Ludwig Meidner attraverso gli scritti (2009) liegt die einzige italienische Monografie über diesen Künstler vor.

Anja Heuß (Stuttgart) geht es prinzipiell um die Entwicklung, Methoden und Konsequenzen der Provenienzforschung, wie sie sich nach dem Fall Gurlitt ergeben haben. Während mindestens 231 Kunstwerke aus der Sammlung Gurlitt aus der Aktion Entartete Kunst stammen, also aus der ideologisch bedingten Beschlagnahme in deutschen Museen, ist Meidner zweifach betroffen: Seine Werke wurden nicht nur von jüdischen Sammlern gesammelt und erlitten das gleiche Schicksal wie diese Sammlungen, sondern sein Werk fiel auch der Aktion Entartete Kunst zum Opfer.  Bei dieser Aktion wurden wenigstens 81 Werke von Meidner in verschiedenen Museen beschlagnahmt. Nicht immer war es so unkompliziert wie mit dem 1912 entstandenen Selbstbildnis, das 1929 vom Kunsthistoriker Erich Wiese dem Schlesischen Museum der bildenden Künste in Breslau geschenkt, von den Nazis beschlagnahmt und 1958 von Erich Wiese für das Landesmuseum in Darmstadt, dessen Direktor er inzwischen geworden war, neu erworben wurde. Viel schwieriger erweist sich die Identifizierung von Meidners Grafiken. Dabei macht A. Heuß auf ein Problem aufmerksam, das 2014 Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, aufwarf: Wenn etwa ein Museum in den 1960er Jahren ein Gemälde von Kokoschka erworben hat, ist diese Erwerbung ja in der darauf folgenden Zeit durch weitere Arbeiten, etwa eine Vorzeichnung, ergänzt worden. Eine Rückgabe des Gemäldes von Kokoschka würde die inzwischen historisch gewachsenen Zusammenhänge wieder zerstören. Provenienzforschung, so die Autorin, muss zum festen Bestandteil der kunsthistorischen Forschung werden, auch bei Neuankäufen in deutschen Museen sollte eine Provenienzprüfung stattfinden.

Gerrit Schulz-Bennewitz (Hamburg) lässt uns an seinen Recherchen zur verschollenen jüdischen Sammlung Franz Kochmann aus Dresden teilhaben – Meidner war einer der wichtigsten Künstler für diesen Sammler –, Nina Senger (Bertlin) beschäftigt sich mit den Werken Meidners in der Berliner Sammlung Hugo Simon – wichtige Werke aus Meidners expressionistischer Phase begleiteten den Sammler mehr als zwei Jahrzehnte und in die Emigration nach Frankreich, bis zu ihrer Zerstörung, während andere im Basler Museumsdepot sicher verwahrt wurden.

2013 fand in der Städtischen Galerie Dresden eine Meidner-Ausstellung statt, die dem Aufenthalt des Künstlers 100 Jahre zuvor in Dresden nachspürte. Johannes Schmidt (Dresden) sucht herauszufinden, „was Meidner nach Dresden mitbrachte und was er dort hinterließ, ob es Interaktionen mit Künstlern in Dresden gab und ob sich spätere Ereignisse mit Meidners Wirken in Verbindung bringen lassen“. Die Gemälderestauratorin Hana Streicher gibt Auskunft, welche Konservierungs- und Restaurierungsmaßnahmen an dem beidseitig bemalten Gemälde Revolution (Barrikadenkampf), verso Apokalyptische Landschaft(1912/13) durchgeführt wurden, das sich seit 1961 in Besitz der Nationalgalerie Berlin befindet. Gerd Pressler, der mit Erik Riedel das Werkverzeichnis der Skizzenbücher Meidners (2013) erarbeitet hat, untersucht, wie Meidner sich vom revolutionären Atheisten zum gottgläubigen Juden verwandelt, wie er in seinen Skizzenbüchern die Rolle der Prophetengestalten des Alten Testaments übernommen hat. In zahlreichen Selbstporträts sieht er sich als jüdischer Beter, als Propheten und als Schriftgelehrten. Er lobt die Schöpfung Gottes, klagt aber auch mit Stift und Pinsel, Radiernadel und Lithokreide, Schrift und Schrei im Namen Gottes die Unrechts-Zustände auf der Welt an – Klagen, Anklagen, die in die Vergeblichkeit hinein gesprochen wurden.

Meidner – ein „barocker“ Künstler der Avantgarde des 20. Jahrhunderts? Malgorzata Stolarska-Fronia (Berlin) weist nach, dass der in Schlesien geborene Meidner  Ausdrucksformen und ikonografische Motive des Barock verwandt hat, vor allem ließ er sich von dem schlesischen Meister Michael Willmann inspirieren. Dass er in seiner englischen Emigrationszeit in dem Maler, Poeten und Mystiker William Blake einen Leidensgenossen und Seelenverwandten sah und sich auch Vorstellungen von ihm aneignete, weiß Sibylle Erle (Lincoln) zu berichten, während Burcu Dogramaci (München) die Bedingungen der künstlerischen Produktion Meidners in den Londoner Exiljahren und deren Rezeption untersucht. Während seines 13-jährigen Aufenthaltes in London und als Internierter auf der Isle of Man hatte Meidner nur eine Ausstellung (1949). Er konnte in Großbritannien keine Wirkung entfalten und wurde von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen.

In den derben, humorvollen und grotesken englischen Karikaturen schien sein Exilwerk eine Entsprechung zu finden. In Meidners Zyklus aquarellierter Zeichnungen Leiden der Juden in Polen (1942–45), so kann Shulamith Behr (London) nachweisen, wird der Völkermord der Nationalsozialisten gegeißelt, der später als „Holocaust“ bezeichnet werden sollte. Als Zeitzeugnis – trotz der Entfernung Meidners zu den Geschehnissen – vermitteln die imaginierten Szenarien auf unheimliche Weise ein traumatisches Schock-Erlebnis. Für den so materialreichen, viele neue Fragen aufwerfenden und zur weiteren Auseinandersetzung anregenden Tagungsband wäre eine Meidner-Chronik wünschenswert gewesen.

Titelbild

Erik Riedel / Mirjam Wenzel (Hg.): Ludwig Meidner. Expressionismus, Ekstase, Exil.
Gebr. Mann Verlag, Berlin 2018.
309 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783786127840

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