Nebentext nicht nebensächlich
Die „Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik“ (LiLi) erkundet nichtdialogische Dramenpassagen
Von Julia Stetter
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Nebentext wurde von der Literaturwissenschaft lange Zeit als nebensächlich betrachtet: Nichtdialogische Bestandteile von Dramentexten – Regieanweisungen et cetera – wären nicht notwendig, um die Handlung zu verstehen. Man würde sie ohnehin nur in der Verschriftlichung, nicht bei der Aufführung wahrnehmen. Zwar liegt mittlerweile eine germanistische Monografie zum Nebentext vor (Anke Detkens Im Nebenraum des Textes), doch nimmt sich die Forschungslage auch weiterhin nur mager aus, zumal Detken sich auf das 18. Jahrhundert beschränkt. Dagegen will das aktuelle Heft der LiLi – Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik angehen.
Entstanden sind die versammelten Beiträge im Rahmen des Workshops Hauptsache Nebentext! Regiebemerkungen im Drama, der 2016 an der Uni Tübingen unter der Leitung von Lily Tonger-Erk und Friederike Günther stattfand. Ziel war es, Dramenanalysen ausgehend vom Nebentext zu betreiben, um damit die bisherige Forschungsbeschränkung auf den „Dialog als gattungskonstituierendes Merkmal“ zu durchbrechen. Die Beiträge betrachten daher konkrete Fallbeispiele, die sich von der Frühen Neuzeit bis zur Postdramatik erstrecken und auf Autoren eingehen wie Andreas Gryphius, Heinrich von Kleist, Bertold Brecht, Heiner Müller, Elfriede Jelinek, Christoph Schlingensief und Dea Loher. Entsprechend vielfältig fallen die Fragen aus, die das Heft sich stellt:
Wer spricht im Nebentext? An wen richtet sich der Nebentext? In welcher Relation steht er zum Haupttext? Wie gestaltet er das Verhältnis von Rede und Aktion? Welche (erzählende, kommentierende, strukturierende, situierende) Funktion kommt ihm zu? […] Wie verändert sich seine Bedeutung und Funktion in der Geschichte des Dramas bis hin zur Postdramatik?
Terminologisch gesehen ist der Begriff „Nebentext“ von Roman Ingarden entlehnt, der ihn 1931 in seinem Werk Das literarische Kunstwerk einführte. Dennoch fehlt bis heute eine umfassende systematische Analyse. Tonger-Erks Forderung, den Nebentext in die „Gattungstheorie des Dramas“ zu integrieren, erscheint insofern berechtigt. Dass seine Untersuchung so lange vernachlässigt wurde, mag daran liegen, dass seine eindeutige Zuweisung entweder zur Literaturwissenschaft oder zur Theaterwissenschaft nicht zu leisten ist. Viele der Beiträge des Hefts plädieren jedoch dafür, dass sich die Literaturwissenschaften seiner annehmen sollten, da die Theaterwissenschaftler ihn aufgrund ihrer Fokussierung auf die Realisierung des Dramentexts in der Aufführung häufig vernachlässigen. Tonger-Erk argumentiert, eine künstliche Abgrenzung der „Lesedramen von ‚normalen‘ Dramen“ sei ohnehin falsch. Stattdessen müsse man beide intermedial verstehen und ihre internen Verweisungszusammenhänge erkennen. Dem Nebentext komme in diesem Zuge eine besondere Bedeutung zu, da er innerhalb des Texts bereits auf seine potenzielle Aufführbarkeit hindeute.
Die Beiträge des Hefts sind chronologisch geordnet, sodass sie eine diachrone Perspektive schaffen. Allerdings liegt ein Schwerpunkt auf der Postdramatik, in der dem Nebentext ein besonders hoher Stellenwert zukommt oder aber auch eine klare Unterscheidung zwischen Neben- und Haupttext wegfällt. Häufig verhalten sich entsprechende Stücke metapoetisch, was in den Beiträgen übergreifend deutlich wird. Nebentexte sind dann zu verstehen als ein Durchbrechen konventioneller Dramenformen, was auf Grenzen traditioneller Aufführungen verweist. Gleichzeitig werden durch ungewöhnliche Nebentexte die Dramen tendenziell der Epik angenähert, sodass dadurch postdramatische Stücke über mehr Möglichkeiten verfügen.
Dennoch finden sich Nebentexte auch schon in der Frühen Neuzeit, wie Constanze Baum ausführlich nachweist. Denken kann man etwa an nonverbale Spielszenen bei Gryphius. Unterscheiden lässt sich laut Baum zwischen intraperformativen und extraperformativen Nebentexten. Letztere bezeichnen den Einsatz eines neuen Schauplatzes beziehungsweise ein Spiel im Spiel. Hingegen fallen die intraperformativen Nebentexte vielfältig aus und beinhalten „Effekte wie Affekte, Verhalten, Motivationen von Figuren, Lokale, Requisiten, Raumkonstitutionen […] Körperhaltungen und -orientierungen, Blickverhalten, Gestik, Mimik, und Proxemik“. Bernhard Asmuths Behauptung, Nebentexte hätten in der Frühen Neuzeit nur eine randständige Rolle eingenommen, kann demnach entschieden zurückgewiesen werden. Anders verhält es sich mit Nebentexten bei Kleist: Bei ihm sei ein Zurücktreten des Nebentexts auffällig, erklärt Thomas Boyken in seinem Beitrag. Selbst bei Lustspielen, die normalerweise auf Körperkomik setzen, beschränke sich Kleist auf Sprachliches. Betrachtet man dagegen den Fall Brecht, hängt der Stellenwert seiner Nebentexte davon ab, wie weit man Nebentext definiert. Irmtraud Hnilica plädiert für eine umfassende Bestimmung, mit der man Formen des epischen Theaters mithilfe des Nebentext-Konzepts erfassen kann. Vergleichbar sei das epische Theater mit einer auktorialen Erzählinstanz, weil sich in ihm der Autor vom Dargestellten distanzieren kann. Insofern käme dem Nebentext bei Brecht die Funktion zu, „das Illusionstheater aufzubrechen“. Damit aber wäre er bei diesem Autor zentral, sodass er tendenziell zum Haupttext avanciere und damit eine dramengeschichtlich spätere Aufweichung von Haupt- und Nebentext antizipiere.
Was den postdramatischen Bedeutungszugewinn des Nebentexts betrifft, nennt Anke Detken Heiner Müllers Stück Die Hamletmaschine (1977) als Beispiel. Mit seinen fünf verschiedenen Schrifttypen wertet es die „Textebene des Dramas“ auf. Ferner dienen darin Ortsangaben weniger der Umsetzung auf der Bühne, sondern mehr als intertextuelle Verweise oder als metaphorische Hinweise. Als typisch postdramatisch benennt Detken zudem Fritz Katers We are camera (2002). Dessen Dramentext enthält ein Personenverzeichnis, das von traditionellen Umsetzungen abweicht, weil nur die Vornamen der Personen angeführt werden. Dass es sich um eine Kleinfamilie handelt, wird dem Leser also nicht sofort deutlich. Dennoch ist es primär an den Leser und nicht den Zuschauer der Aufführung gerichtet, weil es präzise Altersangaben der Personen enthält, die ein Dramaturg wohl kaum zur Auswahl von Schauspielern benutzen würde.
Postdramatische Nebentexte neigen ferner dazu, Dramatik an Epik anzunähern: Detken beispielsweise sieht in unzureichenden Ortsangaben wie „mamapapafinnlandia“, die aus Sicht eines Kleinkindes erfolgen, im Drama etwas umgesetzt, was man in der Erzähltheorie klassischerweise als interne Fokalisierung bezeichnen würde. Janine Hauthal nennt in ihrem Beitrag weitere Beispiele für diesen tendenziellen „Wechsel vom Darstellen zum Erzählen“. In Mark Ravenhills Stück pool (no water) (2006) erfährt man zwar etwas über Gefühle von Personen, aber nur dadurch, dass sie erzählt werden, nicht durch eine Handlung, die einen emotionalen Zustand suggerieren würde. Figuren werden in dem Stück nur über Stimmen und verschiedene Perspektiven erzeugt, sodass die Schauspieler letztlich auf der Bühne nicht die übliche Rolle von Schauspielern, sondern die von Geschichtenerzählern einnehmen. Über direkte Ansprache werden die Zuschauer dazu gebracht, die Perspektive der Schauspieler beziehungsweise Sprecher des Stücks zu übernehmen. Neben- und Haupttext sind damit im Grunde nicht mehr zu unterscheiden, da die Verschiebung hin zum Geschichtenerzählen auf der Bühne die tradierte Trennung von Figurendialog und anderweitigem Kommentar hinfällig werden lässt.
Den vielleicht extremsten Bedeutungsgewinn des Nebentexts, auf den das LiLi-Heft eingeht, findet man in Christoph Schlingensiefs Rosebud. Es handelt sich um ein 2001 uraufgeführtes Stück, das von der Kritik entschieden verrissen wurde, woraufhin Schlingensief eine Buchversion herausgab, in welcher er über den Nebentext versuchte, die Deutungshoheit über sein Stück zurückzugewinnen. Thomas Wortmann unterzieht die Verbindung zwischen Uraufführung und Buchversion einer eingehenden Analyse. Rosebud sei als Metastück angelegt, das gerade das Scheitern des gegenwärtigen Theaters vorführen wolle. Diese Intention gehe aus Anspielungen auf dramentheoretische Texte von Theodor W. Adorno, Samuel Beckett, Elfriede Jelinek, Rainer Werner Fassbinder und anderen hervor. Dies sei von den Kritikern, die nur die Uraufführung gesehen haben, jedoch nicht verstanden worden, sodass erst die Buchversion mit ihrem Nebentext eine vollständige Würdigung des Stücks erlaube. Allerdings gehen Schlingensiefs Kommentare im Nebentext so weit, dass sie seinem Stück einen „tosenden Applaus“ durch die Zuschauer bescheinigen. Wortmann hält fest, dass die Buchversion damit einen Anspruch auf Aufführbarkeit aufgebe, weil kein Dramentext den Zuschauern vorschreiben kann, wie sie zu reagieren haben. Betrachtet man daher gerade postdramatische Nebentexte, wird ersichtlich, dass sie sowohl in ihrem Umfang, als auch ihrer Autonomie tendenziell zur Epik streben und damit einen weiter zu vertiefenden Aufgabenbereich der Literaturwissenschaft bilden.
Sicher kann das LiLi-Heft keine umfangreiche Studie zu Nebentexten ersetzen. Nichtsdestotrotz bietet es auf geringer Seitenzahl komprimiert Anregungen, die sich in weiteren Projekten intensiver verfolgen ließen. In ihren belegintensiven Beiträgen machen die Autoren ein Wissen zugänglich, das bei vertieftem Studium vermutlich noch systematischer und weniger exemplarisch-konkret dargelegt werden könnte, das aber bereits ein hohes Maß an gedanklicher Durchdringung aufweist.
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