Picasso – unser Zeitgenosse
Das Museum Barberini in Potsdam zeigt erstmals in Deutschland das Spätwerk Picassos, wie es in der Sammlung Jacqueline Picasso hervorragend präsentiert wird
Von Klaus Hammer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweisePablo Picasso, das Jahrhundertgenie, hatte kein Talent zur Gelassenheit. Niemand ging die Welt so leidenschaftlich an wie er. Er wollte die Gegenstände, die seine Aufmerksamkeit erregten, festhalten, in sie eindringen, sich in ihnen verlieren. Er liebte starke und eindeutige Gefühle, und den stärksten Ausdruck der Gefühle fand er in der Umarmung, in der Liebe, in der Sexualität. Kein Künstler hat uns in seinen Werken eine so lebendige Autobiografie seines Sexuallebens hinterlassen wie er. Streckenweise kann man ihm fast von Tag zu Tag folgen, durch Ausbrüche von Lüsternheit und Hass, Sehnsucht und Kastrationsangst, Dominanz- und Impotenzphantasien, Selbstironie, Zärtlichkeit und Potenzstolz. Und fast immer haben seine Gefühle für die Frau, mit der er gerade zusammenlebte, seine Arbeit beeinflusst, vor allem natürlich, wenn das Motiv der menschliche Körper war. Picassos Erfolg liegt nicht zuletzt darin begründet, dass es ihm gelang, die lebendigsten Bilder sinnlicher Lust zu malen, die je in der Kunst entstanden sind.
Das expressive Spätwerk Picassos ist wohl am besten repräsentiert in der Sammlung seiner Frau Jacqueline Picasso, mit der er die letzten zwei Lebensjahrzehnte verbrachte. Deren Tochter Catherine Hutin hat über 130 bisher kaum öffentlich gezeigte Werke – Bilder, Zeichnungen, druckgrafische Blätter, Keramiken und Skulpturen – für die Ausstellung im Museum Barberini in Potsdam zur Verfügung gestellt (bis 16. Juni 2019). Sie ist nur hier und an keinem anderen Ort zu sehen. Die Arbeiten stammen aus den Jahren des Refugiums in Mougins über den Bergen von Cannes an der Côte d’Azur. Hierhin hatte sich der 80-jährige Picasso 1961 mit seiner letzten Lebensgefährtin und Frau, Jacqueline Roque, zurückgezogen und auch hier ist er 12 Jahre später 91-jährig gestorben. Die Sorge um seine knapper werdende Lebenszeit, das Entsetzen und sein Widerstand gegen Altern und Tod haben ein ausuferndes Spätwerk entstehen lassen, das seinerzeit bei den Zeitgenossen vielfach auf Unverständnis stieß. Was sollte diese überquellende Sexualität und scheinbare Formlosigkeit der Bilder? Waren das nur noch „unzusammenhängende Schmierereien, ausgeführt von einem rasenden Greis im Vorzimmer des Todes“, wie sich ein einstiger Bewunderer Picassos enttäuscht äußerte? Erst im Nachhinein wurde allmählich dieses obsessive Spätwerk als die wohl avancierteste Manifestation einer radikal erneuerten Kunst begreifbar.
In panischer Angst vor der auslaufenden Zeit stand Picasso für ein großformatiges Gemälde nicht mehr Zeit zur Verfügung als für eine Radierung. Alles drängte auf Schnelligkeit und Abkürzung, auf eine Hieroglyphensprache hin, die das jeweilige Thema in Kürzeln fasste. Ganze Partien eines Bildes blieben unbearbeitet. Der Improvisation und Skizzenhaftigkeit seiner Bilder stehen jedoch die präzisen Zeichnungen und die detailreichen, vom Wechsel zwischen den Formenwelten geprägten grafischen Arbeiten gegenüber. Seine beiden großen Radierfolgen Suite 347 und Suite 156, sein druckgrafisches Testament, fehlen, auf denen Picasso auf der Schwelle zum Tod noch einmal das Schauspiel des Lebens in einer überströmenden Fülle von Figuren und Schauplätzen paradieren ließ. Aber Gaukler, Maler und Modell, lüsterne Frauen, alte Männer als Voyeure, heimtückische Kupplerinnen, austauschbare Helden aus Mantel- und Degenstücken, Liebeszenen, Zitate der großen klassischen Meister finden wir auch in seinen anderen Werken. Alle dunklen wie hellen Facetten der menschlichen Seele werden in ihnen ausgeleuchtet. Um diese Gegensätzlichkeit des Mal- und des Zeichenstils beim späten Picasso, um die Unterscheidung der Strategie des Malers von der des Zeichners und Grafikers ist es den Kuratoren zu tun, und damit gerade um die Mischung aus Bildern und Arbeiten auf Papier in der Ausstellung, um das stereotype Urteil in Frage zu stellen, das man sich bisher vom Spätwerk Picassos gemacht hatte.
Der Gegensatz zwischen vehementer erotischer Präsenz und dem Verfall des Alters beziehungsweise der autobiografisch eingefärbten Symbolfigur des Voyeurs wird förmlich zur Obsession. Als Maler oder Bildhauer, als Musketier oder als alter Mann tritt der Künstler in Erscheinung, ist melancholisch oder gierig, zärtlich oder besessen, wobei sich in die üppigen Objekte seines Verlangens jene schmerzhafte Erfahrung der Endlichkeit des Lebens eingeschrieben hat. Die immer wieder beschworenen Akte – sinnlich und sinnend, aber auch schamlos und vulgär, machen das ebenso deutlich wie die starrenden Augen, in denen sich alles Begehren so unverhüllt wie ohnmächtig manifestiert. Gierende Körper, Finger, Zehen, Lippen wollen den Partner und den Umraum erobern. Hände versuchen verzweifelt den verbrauchten, schlaffen Körper zu massieren. Ganze Variationen verzerrter, zum Schrei geöffneter Münder bringen das Erschrecken des Greises zum Ausdruck.
Die Bilder beschränken sich auf nur wenige Motive: Die anachronistische Maskerade der Mantel- und Degenstücke, Selbstporträts, pastorale Liebeszenen, das Thema vom ungleichen Liebespaar, Aktfiguren. Der Künstler führt den Betrachter abwechselnd ins Atelier, Bordell oder in die Kunstgeschichte, beispielsweise wenn er Édouard Manets Frühstück im Grünen oder Nicolas Poussins beziehungsweise Jacques-Louis Davids Raub der Sabinerinnen variiert und paraphrasiert. In ganzen Serien spielt er immer wieder das gleiche Thema mit anderen Farben, Figuren, Stellungen und Details durch. Auf die Meister Raffael, Rembrandt und Ingres verweisend tritt das Thema Künstler und Modell in souveräner Freiheit und unendlichen Abwandlungen hervor. Gerade hier hat er in fremder Draperie verschlüsselte Selbstbildnisse geboten. Seine Phantasmen und Verkleidungen – als Musketier, als Torero, als Greco, als Rembrandt, als junger und alter Liebhaber, als Voyeur oder Akteur – sind unübersehbar. Dieses Malen und Zeichnen kannte keine Tabus. Tod und Sexualität treten zusammen. Tod wird das schamlose Thema vieler Bilder, aus denen uns Riesenaugen anstarren. Das Entsetzen über die Vergänglichkeit und die Verwesung des Fleisches springt auf den Betrachter über. Mit erschütternden Bildern der Vereinsamung verabschiedet sich Picasso von seiner Umwelt.
Mit einer solchen Geschwindigkeit und zugleich Dringlichkeit hat er auch modelliert oder aus heterogenen vorgefundenen Elementen montiert. Collage oder Assemblageverfahren dominieren in der Plastik dieser letzten Jahre. Fast alle Arbeiten werden nach Entwürfen in Blech geschnitten. Bildliche Vorstellungen klappen plötzlich in sich zusammen, machen anderen Platz. Die einen Flächen verschwinden hinter anderen, während sich andere Flächen öffnen. Die fließende Zeit wird hier ganz existenziell spürbar. Es ist unmöglich, inmitten dieser permanenten Veränderung für ein Ding, für ein Gesicht so etwas wie Identität festzustellen.
So belegen die ausgestellten Arbeiten in faszinierender Weise das – lebenslange – Bestreben Picassos, seine ganze Kunst zu einer großen Selbstbiographie zu machen, sich darin aber in phantastischen Verformungen und Metamorphosen, in Masken, Rollen und Symbolen auszusprechen. Das letzte großformatige Bild in der Ausstellung, zwei „Figuren“ über das Wasser gebeugt – es soll unvollendet sein –, soll auf der Staffelei in seinem Atelier gestanden haben, als er am 8. April 1973 starb. Fast ein halbes Jahrhundert nach dem Tod des Künstlers soll hier ein neuer Blick auf die Jahre in Mougins geworfen werden, soll gezeigt werden, wie sich Picasso nicht nur museale Meisterwerke wie von Rembrandt, Ingres, Delacroix und Manet als mögliche Inspirationsquellen aneignete, sondern sich auch mit den Avantgarden der 1960er Jahre auseinandersetzte, mit Informel, Op-Art, Pop-Art, mit der modernen Unterhaltungswelt des Fernsehens und so weiter, wozu die Ausstellung aufschlussreiche Gegenüberstellungen bietet.
Der beigefügte Katalog, großzügig ausgestattet, ist ein unbedingtes Muss für den Kunstfreund. Auffällig ist, so stellt Bernardo Laniado-Romero, der Kurator der Ausstellung und des Kataloges, in seinem einleitenden Beitrag fest, die außerordentliche Wandlungsfähigkeit, die Picasso in seinen letzten Lebensjahren bei jedem neuen Projekt bewies: „Er hörte nie auf zu experimentieren und Neues zu erkunden, wie er dies sein Leben lang getan hatte“. Brigitte Leal (Paris) beschäftigt sich mit den Atelierbildern der Villa La California und würdigt vor allem Picassos Paraphrasen auf Velasquez’ Las Meninas, mit denen dieser seinen Freund-Feind Henri Matisse neu betrachtete und korrigierte. Wie wurde Picassos Theater in seinem Spätwerk zunehmend persönlich, fragt Olivier Berggruen (New York/London). Er sieht den Betrachter als Teil einer Inszenierung in der doppelten Funktion einer Repräsentation, die die eigene Körperlichkeit nachbildet und damit den Künstler im Jetzt gegenwärtig sein lässt. Der Figur des Musikers im Spätwerk Picassos spürt Cécile Godefroy (Paris) nach, während Markus Müller (Münster) dem grafischen Spätwerk Picassos seine Aufmerksamkeit schenkt und dabei auf die moderne Unterhaltungswelt des Fernsehens als Initialzündung verweist. Picassos Nachkriegsretrospektiven in den 1950er und 60er Jahren erkundet Michael Fitzgerald (Hartford).
Den Katalogteil mit ausführlichen, ganzseitigen Abbildungen verantworten Bernardo Laniado-Romero mit Ausführungen über Jacqueline und ihre Zeit (die Porträts einer Beziehung) sowie die Masken und Kostüme als Themen in Picassos Kunst und Leben und Luise Mahler (New York) mit dem Verhältnis von Innen und Außen in den Räumen und Landschaften der Atelierbilder, die Picasso zwischen 1956 und 1959 im mediterranen Cannes schuf. Valerie Hortolani (Potsdam) verfolgt Picassos Auseinandersetzung mit dessen zentralem Sujet – der menschlichen Figur: Die Grenzen zwischen individuellem Porträt, anonymem Typenbild und Körperstudie sind bei Picasso fließend. Schließlich zeigt Bernardo Laniado-Romero, wie Picasso im Sujet der weiblichen Figur neue Ideen erprobt und sie weiterentwickelt – „sein Laboratorium für Form, Linie und Volumen“, Gabriel Montua (Berlin) untersucht das Spätwerk Picassos unter den Aspekten von Musik und Tanz als Bildkräfte, Valerie Hortolani untersucht die traditionellen Riten der spanischen Heimat Picassos und seine Beschäftigung mit Stierfiguren der antiken Mythologie, während Bernardo Laniado-Romero den Mann als Motiv in Picassos Œuvre behandelt. Eine Chronologie des Spätwerkes von 1954 bis 1973 und ein Verzeichnis der ausgestellten Werke schließen den inhaltsreichen Band ab.
Verbunden mit einer wissenschaftlichen Bestandsaufnahme können jetzt die wichtigsten Werke dieser Sammlung in Form von in sich schlüssigen Themen vorgestellt werden, die die variationsreichen Metamorphosen der menschlichen Figur belegen. Die letzten zwei Jahrzehnte des Schaffens werden in exemplarischen Werken gezeigt; statt langatmiger kunsthistorischer Texte erfüllen treffend ausgewählte Picasso-Zitate eine einfühlsam erläuternde Funktion. Hier kann Picassos besonderes Verfahren, in seinem Werk zugleich sich selbst, seine intimste Lebensbiografie und ihre Kreuzungspunkte mit den ausgeprägtesten Strömungen seiner Zeit zu vermischen, genauer erkundet werden. Das langsame Heranreifen einer Bildidee wird sichtbar, die Ökonomie bei der Verwandlung des Bildstoffes in verschiedene Varianten und Vorfassungen, die psychologische und ästhetische Durchdringung einer bestimmten Situation.
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