Faszination Briefkultur

Die Beiträger des Bandes „BriefKunst. Der andere Blick auf Korrespondenzen“ vermögen Vielfalt und Ästhetik von Briefen überzeugend zu vermitteln

Von Rafael Arto-HaumacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rafael Arto-Haumacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass der Brief ein Gespräch unter Abwesenden sei, ist ein seit der Antike tradierter Topos und geht auf Artemon, den Herausgeber der Aristotelischen Briefe, zurück. Die Charakterisierung ist sicherlich richtig, konzentriert sich jedoch nur auf eine Facette von vielen. Ein Brief ist mehr als nur Kommunikationsmittel. Er ist ebenso Ort der Selbstreflektion, Selbstinszenierung und Ich- wie Fremdkonstitution. Er ist Schreibwerkstatt, kann dialogisch oder monologisch sein und ist immer auch Produkt seiner individuellen Schreibsituation, in der sich äußere Umstände mit der Gemütslage des Schreibers und der antizipierten Reaktion des Adressaten verbinden. Jeder Brief hat seine eigene sprachliche oder phänotypische Ästhetik.

Gerade bei Künstlern können Briefe oder Briefwechsel nicht nur wichtige biografische Details liefern. Sie können überdies zur hermeneutischen Handreichung werden, neben der Werkerklärung mitunter gleichberechtigt neben das Werk treten und selbst zur Kunst werden, zur BriefKunst. Diesen Titel haben die Herausgeber*innen Carolin Bohn, Maria Frommhold und Christian Wiebe ihrem Sammelband gegeben, der zum 70. Geburtstag von Renate Stauf erschienen ist. Er knüpft an die Liebesbriefforschung der renommierten Braunschweiger Heinrich-Heine-Kennerin an. In den 26 Beiträgen – in sechs Kapitel angeordnet, welche jeweils kurz eingeleitet werden – geht es nicht nur um Liebesbriefe, aber immer um die Vielschichtigkeit des Mediums Brief im soziokulturellen Kontext von Literatur, Malerei, bildender Kunst und Musik. Die Beiträge selbst verstehen sich als Essays, die, zwischen zwei und vier Buchseiten lang, Schlaglichter auf das sprachliche, ästhetische, rhetorische und inszenatorische Potential von Briefen werfen, die vom Mittelalter bis in die aktuelle Zeit geschrieben wurden. Grundsätzlich geht es um den klassischen Brief, gedruckt oder als Handschrift erhalten; moderne Medien der brieflichen Kommunikation wie E-Mails oder Kurznachrichten werden ausgeblendet.

Jochen Strobel versucht sich in seinem Beitrag an einer Definition des Briefs. Was macht einen Brief zum Brief? Strobel spricht von „Metadaten“, die man zur Definition heranziehen könne. Demzufolge würde ein Schreiben, bei dem sich Schreiber, Adressat, Entstehungsdatum, Schreibort, Empfängerort sowie Provenienz bestimmen lassen, zum Brief. Das ist sicherlich zutreffend, offenbart aber den eher literaturwissenschaftlich orientierten Zugang, was durchaus legitim ist bei einem Band, der in eben diesem Kontext entstanden und dort einzuordnen ist. 

In dem folgenden Beitrag von Jürgen Schuster „Epistolare poiesis“ geht es um genau diesen literaturwissenschaftlichen Zugriff, der vielerlei ausgestaltet sein kann: Man kann den Brief laut Schuster als Quelle sehen, welche „näheren Aufschluss über die Biographien von Schriftsteller*innen oder über die Werkgeschichte, die Entstehung und Veröffentlichung literarischer Texte“ liefert; ebenso kann man der „Literarizität von Briefen“ nachspüren, also Briefe selbst als literarische Texte begreifen. In diesem Fall sei auch die „mediale Situation“ zu berücksichtigen, die womöglich nicht nur einen Empfänger kennt, sondern ein breiteres Lesepublikum inklusive des Gedankens an Veröffentlichung einschließen kann.

Die beiden Beiträge von Strobel und Schuster begründen das erste Kapitel „Der Brief als Kunst: Grundlagen“ des Bandes. Die folgenden beiden Kapitel „Eine Sprache finden“ und „Poetik: Brief in der Literatur und Literatur des Briefs“ beschäftigen sich mit der sprachlichen Erschaffung und Erkundung des schreibenden Ichs sowie der Funktion von Briefen in literarischen Texten. Wie sehr der briefliche Austausch Individualität und Subjektwerdung fördert, zeigt beispielsweise Carolin Bohn am Briefwechsel zwischen Albert Camus und Maria Casarès. Letztere findet im Verlauf des Schreibens immer sicherer ihre eigene Sprache und ihren eigenen Ausdruck, was als erschriebener Akt von Emanzipation gewertet werden kann. Den literaturwissenschaftlichen Kontext verlassend arbeitet Jörg Paulus heraus, wie im Briefwechsel von Wassily Kandinski und Arnold Schönberg in Grundzügen eine Theorie der Bauhausidentität in Anlehnung an die Schönberg’sche Musiktheorie entworfen wird.

Regina Toepfer entfaltet in ihrem Beitrag, wie die Schreibkunst in Wolfram von Eschenbachs Parzival gezielt eingesetzt wird, „um das Liebensverhältnis zwischen dem christlichen Ritter und der heidnischen Königin zu charakterisieren“: Ritter Gahmuret teilt seiner schwangeren Gemahlin, der schwarzen Königin Belakane, in einem, ungewöhnlich genug, selbstverfassten Brief mit, dass er sie verlassen werde und stellt sicher, dass sie seinen Brief erst dann in ihrer Gürteltasche findet, als er sein Vorhaben bereits umgesetzt hat. Der Brief ist monologisierender Abschieds- und Liebesbrief zugleich, auf den – aufgrund des entschwundenen Schreibers – keine Reaktion mehr möglich ist. 

Ein besonderer Aspekt zeigt sich an Brieftexten von Dichtern, denen das Schreiben Profession oder Berufung ist: Ihre Briefe können durch Projektion zum literarischen Text werden, indem Liebeskonstellationen, Wendungen, Argumentationsmuster und sprachliche Ausgestaltung in das Werk Eingang finden. So weist Roman Lach darauf hin, dass Adalbert Stifter Teile des Briefwechsels mit seiner Jugendliebe Franziska Geipel in seiner Erzählung Feldblumen (1841) verarbeitet, um die, letztlich unglückliche, Liebesschwärmerei des Malers Albrecht für seine Angebetete Angela literarisch auszugestalten. 

Kapitel vier und fünf, „Briefliche Inszenierungen“ und „Lebenspraktiken“, widmen sich dem inszenatorischen Potential des Mediums Brief, in dem der Schreiber einer Rolle einnehmen oder das eigene Ich ausloten kann, wie auch der Rolle des Briefs im Alltag und der Unmöglichkeit der „Trennung von Ästhetik und Leben“. Das inszenatorische Potential zeigt Andreas Hübner exemplarisch an einem Brief, den Lucie von Pückler-Muskau an ihren Ehemann richtet. In diesem willigt sie notgedrungen in die Scheidung ein, wobei die „beachtliche Rollenvielfalt des schreibenden Ich“ und die Inszenierung auch der äußeren Form des als „Todesurtheil“ überschrieben Briefs als Bewältigungsstrategie der empfundenen Ohnmacht gedeutet werden können.

Inszenierungen können auch durch Bilder oder beigefügte Skizzen befördert werden. Nahe liegt dies natürlich bei Malern, wie Annette Simonis anhand der Briefe Éduard Manes zeigt, die jener nach einem durch eine Syphiliserkrankungen ausgelösten Kuraufenthalt an befreundete Künstler schreibt. Mit raffinierten Zeichnungen oder Aquarellen versehen, sind sie „Zeugnis einer kunstvollen, hochartifiziellen und präzisen Verfahrensweise des späten Manet.“ Malerische Inszenierungen von „Liebesbriefleseakten“ rückt Friederike Fellner in ihrem Beitrag „Ein Bild von einem Brief“ ins Zentrum, wobei sie sich auf das Gemälde des französischen Rokoko-Malers Jean-Étienne Liotard La Lieuse als archetypischer „Vorstellung einer Brief-Leseakt-Szene“ bezieht, die „vom 18. Jahrhundert bis heute prägend ist.“

Briefe haben meistens auch soziale Funktionen, denn sie schaffen Gemeinschaft, und sei es auch nur die zwischen Schreiber und Empfänger. Wie kunstvoll soziale Funktion, poetologische Reflexion und Ich-Du-Relation verwoben sein können, weist Wolfgang Braungart am Briefwechsel Eduard Mörikes nach: „Briefe schreiben heißt für Mörike also nicht nur, den anderen teilhaben zu lassen, sondern mit ihm in einen fiktiven ‚Dialog‘ einzutreten“, was in einem „dialogischen Selbstverständigungsprozess“ mündet. Einen anderen lebenspraktischen Aspekt beleuchtet Joachim Jacob, indem er auf den Schreitisch verweist als den Ort, an dem Briefe (zumindest im Prä-Internet-Zeitalter) geschrieben werden und in literarischen Texten von Edgar Allen Poe, Johann Wolfgang von Goethe oder Sophie von La Roche als Verstecke, Archive und Orte der literarischen Produktion fungieren.

Das letzte Kapitel gibt einen Ausblick auf aktuelle Forschungs- und Editionsprojekte. Vorgestellt werden beispielsweise Ausschnitte aus 66 größtenteils ungedruckten Briefen von Prinz August von Sachsen-Gotha und Altenburg an Goethe oder aus dem 362 Briefe umfassenden und nur teilweise bekanntem Austausch zwischen Karl August Varnhagen von Ense und Hermann Fürst von Pückler-Muskau. Überdies wird der Briefwechsel Heiner Müllers und seiner dritten Ehefrau Ginka Tscholakowa als typisches Beispiel eines Arbeits- und Liebesverhältnisses herangezogen, während die Rolle des Briefs in der englischsprachigen Pop- und Rockmusik kurz skizziert wird. Beschlossen wird das Kapitel und somit der Band mit einer Laudatio von Toni Tholen, in welcher er auf die Verdienste von Renate Stauf für die Liebesbrief-Forschung und die „Erforschung der Lebens- und Liebeswirklichkeit von weiblichen Subjekten“ hinweist.

Der Band mit seinen zahl- wie kenntnisreichen Beiträgen ermöglicht einen spannenden, polyperspektivischen Blick auf die Gattung Brief, auf seine sozialen, ästhetischen, poetischen, inszenatorischen und therapeutischen Funktionen. Die Perspektivenvielfalt wird zwangsläufig mit knappen, aufs Wesentliche reduzierten Beiträgen erkauft, die ihr Sujet allenfalls umreißen, aber kaum erschöpfend behandeln können. Das bewusste Changieren zwischen Essay und wissenschaftlichem Kurzaufsatz sollte man durchaus als Vorteil sehen, denn die Beiträge des ebenso gelungenen wie ungewöhnlichen Bandes bieten mannigfaltige Impulse für weitere Lektüre und eingehendere Beschäftigung mit interessierenden Teilaspekten. 

Titelbild

Carolin Bohn / Maria Frommhold / Christian Wiebe: BriefKunst. Der andere Blick auf Korrespondenzen.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2021.
192 Seiten , 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783825348106

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