Der unsichtbare Fünfte

In seiner Novelle „Pirmasens“ bringt Rainer Wieczorek Leben in eine alte Schuhfabrik

Von Willi HuntemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Willi Huntemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer Rainer Wieczoreks schmale, aber gehaltvolle Bücher kennt, weiß, dass er gutes Schuhwerk benötigt, denn es geht meist in die Provinz – in Orte, die nicht gerade aus der Literatur bekannt sind. Nach dem baden-württembergischen Weikersheim an der Tauber in der Novelle Form und Verlust von 2017 geht es diesmal ins pfälzische Pirmasens: die Stadt, die über lange Zeit wie keine zweite in Deutschland für – gutes Schuhwerk bekannt war. Seit dem 19. Jahrhundert war sie das Zentrum der deutschen Schuhindustrie, bis zum Niedergang in den 70er-Jahren. Was mag einen Autor wie Wieczorek bewegen, seine Novelle ausgerechnet in einer längst stillgelegten Schuhfabrik – genauer: der 1925 gegründeten Fabrik von Christian Ohr in der Hügelstraße 7 – anzusiedeln? Ist es ein nostalgischer Erinnerungstrip wie etwa im jüngsten Büchlein Bonn. Atlantis der BRD des Pop-Literaten Joachim Bessing, das Retro-Charme verbreitet? Das wäre nicht ganz falsch; es ist ein – äußerlich sehr ansprechend und hochwertig gestaltetes – Erinnerungsbuch, doch viel artifizieller und raffinierter erzählt, als man es von gängigen Büchern kennt, die kollektive Erinnerungen an die Lebens- und Geisteskultur meist einer bestimmten Generation wachrufen. Wieder handelt es sich um eine wendungsreich und doppelbödig erzählte Künstlernovelle, für die der Autor mittlerweile in der jüngsten deutschen Literatur als der Spezialist gilt.

„Ich hatte ihm bereits einen Anfang geschrieben: Wajaroff und Danski betreten das Atelier“ – so unscheinbar beginnt der Text, nach einem Foto von der in Stein gemeißelten Adressinschrift der besagten Schuhfabrik in der Hügelstraße 7. Doch dieser schlichte Eingangssatz hat es in sich, spricht hier doch der Erzähler („ich“) über den Autor („ihn“). Ein metafiktionaler Anfang wie im Endspiel von Beckett: „Jetzt spiele ich!“ („Me to play“), einem Schriftsteller, auf den der – in der Erzählwelt persongewordene Autor! – auch sogleich Bezug nimmt, wenn er den Anfangsentwurf seines Erzählers verwirft: „Nein, so wolle er das nicht haben, das erinnere ihn an Taboris Beckett-Inszenierungen“. Der (fiktive) Autor rügt seinen Erzähler, weil er sich vom Regiestil eines bekannten Beckett-Regisseurs absetzen will – selbstreferenziell-gebrochener kann wohl kaum eine Erzählung beginnen. Damit ist die artifizielle Dramaturgie markiert, der die Erzählung folgen wird: Pirmasens ist (auch) ein verspieltes Panoptikum erzähllogischer Paradoxien. Es treten nämlich auf: eine (reale) Künstlerin, zwei erfundene Figuren, der Autor sowie der Erzähler als unsichtbarer Fünfter; als „Stimme ohne Mann“, wie er einmal genannt wird. Einen Plot gibt es nicht, alles wird vorwiegend von Dialogen der Hauptfiguren getragen. Doch wer sich bei so viel Konstruiertheit nun abwenden möchte, sei gewarnt: Die Novelle ist alles andere als blutleer und weltlos; es geht um die Entstehung von Kunst in actu, die Geschichte des modernen Jazz wie um das Engagement eines Pirmasenser Brüderpaares in der Liedermacherbewegung und um die Industriegeschichte von Pirmasens.

Im Mittelpunkt dieses statischen Gruppenbilds mit Dame steht die Grafik-Künstlerin Serena Amrein, die ein Stockwerk der Fabrik als Atelier gemietet hat und mittels einer speziellen Schnurtechnik abstrakte Strukturbilder herstellt, wovon etliche im Buch – quasi wie zur Beglaubigung – reproduziert sind. Ihr zur Seite gestellt ist das Paar Wajaroff und Danski, die eine Etage tiefer wohnen und auf Geheiß des Autors, wie sie selbst sagen, am Fenster stehend über ihre Arbeitsgebiete fachsimpeln: John Coltrane und der moderne Jazz bzw. die Liedermacherbewegung, von Pirmasens aus gesehen. Beide wirken ein wenig wie Wiedergänger des titelgebenden Paares aus Ossip und Sobolev oder Die Melancholie des frühen Ingomar von Kieseritzky (mit ebenfalls slawisch gefärbten Namen), eines nahezu vergessenen Meisters der Dialogerzählung. Diese wiederum sind literarische Reminiszenzen an Wladimir und Estragon, Mercier und Camier, womit wir wieder bei Beckett wären.

In kurzen Episoden entfalten Danski und Wajaroff, am Fenster stehend, einander ihre Interessengebiete und kommentieren zwischendurch die voranschreitende Arbeit der Künstlerin. Dabei entsteht mosaikartig das atmosphärische Bild einer untergegangenen Ära, wie inspiriert von der Aura des Industriedenkmals. Werbesprüche der Firma Salamander und die seinerzeit weithin populäre Markenfigur Lurchi aus den Werbeheften für Kinder werden ebenso wachgerufen wie eine düstere Episode aus der NS-Zeit: Häftlinge aus dem KZ Sachsenhausen mussten unter Qualen auf einer Teststrecke Schuhe einer Belastungsprobe unterziehen. Was wie eine makabre Erfindung klingt, ist nicht nur historisch belegt, sondern wird als – einziges! – wörtliches Zitat eines Historikers im Quellennachweis am Ende des Buches ausgewiesen. Wieczorek, ein Virtuose im Spiel mit Fiktion und Realität, macht noch einen simplen Textnachweis zum Teil seiner poetischen Inszenierung.

Im zweiten Teil mischt sich der Erzähler ein, aber nur als Stimme, denn sonst müsste er als Ich-Erzähler ja der erzählten Welt angehören. Der Erzähler beschwert sich über Wieczorek, den Autor, der ihn nicht angemessen würdige – hiermit wird die metafiktionale Brechung des Anfangs in einer poetologischen Reflexion wieder aufgenommen, als „narrative Metalepse“: die erzähllogischen Ebenen werden übersprungen, wenn fiktionsexterne Größen wie Erzähler oder Autor auf einmal auftreten und damit die Fiktion als solche bewusstmachen. Es ist gleichsam ein neo-frühromantischer Kunstgriff, den Wieczorek hier verwendet. Und es kommt noch bunter, wenn der Autor Wieczorek, soeben von einer Reise nach Frankreich zurückgekehrt, sich dazugesellt. Dass die Figuren sich ihres Fiktionscharakters bewusst sind und dass der Autor auftritt, stört bemerkenswerterweise weder den Erzählfluss noch beeinträchtigt es die Lesbarkeit; soviel Profil haben die dialogisierenden Figuren gewonnen, die immerhin auch zu bloßen Sprechpuppen hätten geraten können.

Mit diesem Einspruch des Erzählers ist auch ein Wendepunkt markiert, der – wenn man so will – die Erzählung als Novelle ausweist; da es keine Handlungsentwicklung gibt, muss der strukturelle Umschlagpunkt woanders liegen. Es zeichnet Wieczoreks Kunst aus, dass er ein außer Mode geratenes Genre wie die Künstlernovelle nicht nur aufgreift und oberflächlich aktualisiert – so wie etwa die Novellen seines älteren Kollegen Hartmut Lange formalästhetisch im Rahmen des Konventionellen bleiben –, sondern von der Schreibweise her erneuert (Episodenaufbau/ Kurzkapitel, metafiktionale Volten).

Zum Ende hin kommentiert der Text zunehmend selbstreferenziell seine eigene Entstehung, wenn die Hauptakteure Danski und Wajaroff – die Künstlerin Serena Amrein ist abgereist – es dem Erzähler gleichtun und auch rebellieren, indem sie „Mitbestimmung“ fordern: „Es kann doch nicht sein, dass der Autor nach persönlichem Belieben über seine Figuren verfügt, als seien es Leibeigene!“. Hier liegt gleichsam die Gelenkstelle, wo die Ebene der poetologischen Selbstreflexion und die Vergangenheit des Gebäudes als Produktionsstätte industrieller Arbeit samt der damit verbundenen Machtverhältnisse ineinandergreifen. Das ehemalige Industriegebäude wird zum poetologischen Setting allegorisiert und dient nunmehr als Bühne für Kunstproduktion und die dem Text poetisch eingeschriebene Reflexion darüber. Auch der immaterielle Schreibprozess beruht auf machtbasierter Verfügung über Andere. Die Rebellion zunächst des Erzählers und später auch der Figuren macht dies deutlich:

Wieczorek interessiert sich nur für sein Gebäude, die Architektur einer Novelle, bei der sich alles passgenau zu fügen hat – ein unmenschlicher Ansatz, wie ich finde. Er sieht nicht, dass er seinen Figuren so gegenübertritt wie einst die Schuhfabrikanten ihren Arbeitern.

Wenn zum Schluss mit dem Exodus der Personen aus dem Atelier die schwere Tür der Schuhfabrik abermals ins Schloss fällt, werden der Erzähler und seine beiden Hauptfiguren in die Arbeitslosigkeit geschickt wie seinerzeit die Fabrikarbeiter, quasi als „Fiktionsarbeiter“. Das Schlusstableau strahlt tiefe Melancholie aus. Uns bleiben die dort entstandenen Werke von Serena Amrein und die Erinnerung an ein Stück Industrie- und Kulturgeschichte. Nicht bloß nostalgisch ist diese Erinnerung, sondern zutiefst melancholisch (im emphatischen Sinne der literarischen Melancholietradition) – dank der Doppelbödigkeit der Erzählung, die sich aus der jüngsten deutschen Mainstream-Prosa deutlich heraushebt. In Anknüpfung an den schon erwähnten Kieseritzky-Titel hätte sie auch heißen können: „Danski und Wajaroff oder Die Melancholie“.

Titelbild

Rainer Wieczorek: Pirmasens.
Dittrich Verlag, Berlin 2020.
124 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783947373543

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