Politische Stagnation und gesellschaftlicher Wandel

Wilhelm Bleek schreibt die Geschichte des „Vormärz“ als „Aufbruch in die Moderne“

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine französische Karikatur aus dem Jahr 1815, mit der Wilhelm Bleek seine Miniaturen zur Geschichte des deutschen „Vormärz“ einleitet. Sie zeigt Akteure, die 1814/15 auf dem Wiener Kongress eine mehr oder minder bedeutsame Rolle gespielt haben. In der Mitte die ‚großen Drei‘ der antinapoleonischen Allianz: Franz II., der Kaiser Österreichs, der russische Zar Alexander I. und der König von Preußen, Friedrich Wilhelm III. Sie vollführen ernsten Gesichtes mit erhobenen Armen wenig anmutige Tanzschritte, jeweils auf einem Bein balancierend, offenbar eine Quadrille, alle in Tanzschuhen. Nur der Preuße trägt mit Sporen bewehrte Stulpenstiefel, ganz so, als wolle er gleich aufs Pferd steigen und eine Attacke reiten. Im Zentrum bewegt sich der Zar, der die Hand des Mitstreiters aus Berlin umschließt und ihn dirigiert, was auf Abhängigkeit deutet. Franz II. reckt den rechten Zeigefinger in die Luft, als wolle er der Welt verkünden, welche Richtung sie einzuschlagen habe, eine Geste, in der sich so etwas wie Gleichrangigkeit andeutet. Es sieht so aus, als erfreue er sich eines höheren Maßes an Unabhängigkeit als sein preußischer Bündnispartner. Links von den drei Monarchen bewegt sich, leicht griesgrämig und auf Abstand bedacht, ein kleiner Mann, Lord Castlereagh, der Chef des britischen Außenamts, im Modus eines in England populären Volkstanzes. Rechts davon hält der König von Sachsen seine Krone fest, auf die Preußen begehrliche Blicke geworfen hat. Daneben springt mit einer phrygischen Mütze, dem Signum von Revolution und  Freiheit, eine Frau ins Bild, die Republik Genua verkörpernd und gegen die von den Mächten vorgesehene Eingliederung in das Königreich Sardinien protestierend. Links außen am Rand lehnt mit verschränkten Armen der französische Außenminister Charles Maurice de Talleyrand und schaut auf das Treiben der übrigen Figuren, gelassen abwartend, welche Entschlüsse die Repräsentanten der Koalition am Ende fassen werden. Man ahnt, dass er den Kongress nicht als Gedemütigter, sondern erhobenen Hauptes verlassen wird.

Der Kongress tanzt, lautet die Botschaft des Zeichners, aber nicht im Gleichklang. Zu sehr divergierten die Interessen der Beteiligten, der großen Mächte ebenso wie die der vielen Zaunkönige, die nach Wien geeilt waren, um ihre Herrschaftsansprüche in einer dramatisch gewandelten Welt zu sichern. Erst im Februar 1815, noch bevor Napoleon sein nach 100 Tagen gescheitertes comeback versuchte, gelang der Durchbruch. Im Ergebnis reiften weder alle reaktionären noch alle fortschrittlichen Blütenträume. Eine Rückkehr zu den vorrevolutionären Verhältnissen gab es jedenfalls nicht, wohl aber gab es im Ringen um die Konturen der Nachkriegsordnung Gewinner und Verlierer. Zu ersteren zählte Frankreich, dessen Status unter dem restituierten Königtum der Bourbonen im Konzert der europäischen Mächte bestätigt wurde. Im Einklang mit der historischen Forschung betont Bleek, dass der Begriff „Restauration“ zur Kennzeichnung der postnapoleonischen Epoche in die Irre führe. Namentlich in Deutschland wurde die 1803/06 getroffene Flurbereinigung nicht revidiert, das heißt die zuvor existierende Vielzahl reichsunmittelbarer Territorien verschwand für immer von der politischen Landkarte, die Napoleon gründlich umgemodelt hatte. Übrig blieben gut drei Dutzend souveräne Staaten, die sich zum Deutschen Bund zusammenschlossen und versprachen, jeweils „landständische“ Verfassungen einzuführen und den bis dahin obwaltenden Absolutismus konstitutionell einzuhegen.

Wie das aussehen konnte, exemplifiziert Bleek am thüringischen Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach, das als einer der ersten unter den deutschen Staaten den in der Bundesakte vom 8. Juni 1815 niedergelegten Wechsel auf die Zukunft einlöste. Wesentlich dafür war, wie Bleek betont, der „Reformwille“ des in Weimar regierenden Großherzogs Carl August. Dessen Maxime lautete: „Das alte Gute mit dem neuen Zustand der Dinge und den Lehren des Zeitlaufs zu vereinbaren.“ Das 1816 verabschiedete „Staatsgrundgesetz“, die Verfassung, sah gewisse Mitwirkungs- und Kontrollrechte des Landtags bei der Gesetzgebung und der Feststellung des jährlichen Budgets vor. Dies und die Regularien der Wahl entsprachen den Gepflogenheiten des deutschen Frühkonstitutionalismus. Gewählt wurden in einem indirekten Verfahren je zehn Abgeordnete in drei Kurien beziehungsweise Ständen, und zwar den Rittergutsbesitzern, also den größeren adligen und bürgerlichen Landwirten, den Städten und den Bauern. Das aktive und passive Wahlrecht war gebunden an bestimmte Besitz- und Vermögensqualifikationen, es wurde nur den Männern, nicht aber den Frauen, auch nicht den Juden zugebilligt, so dass nur geringe Segmente der Bevölkerung am politischen Leben des thüringischen Kleinstaates teilhaben durften. Einen Katalog von Grundrechten aufzunehmen, hatte der Großherzog, obwohl von seinem Berater empfohlen, ausdrücklich abgelehnt. Immerhin, eine von den Interventionen der Obrigkeit unabhängige Rechtspflege wurde ebenso zugesichert wie die Freiheit der Presse. Das war zwar weit entfernt von späteren Ordnungsentwürfen, aber im frühen 19. Jahrhundert war der regierende Fürst Carl August damit in der Rolle eines Vorreiters, der für die 1818 und 1819 in Bayern, Baden und Württemberg erlassenen Verfassungen „Maßstäbe“ setzte.

Bleeks Buch bietet in chronologischer Reihung eine Abfolge von Episoden, einem Bilderbogen gleich, der eindringlich ins Gedächtnis ruft, dass Geschichte zuvorderst ein Ensemble von Geschichten ist, die sich ihrerseits erst im interpretierenden Zugriff zu einem Ganzen fügen. Das reicht vom Wiener Kongress bis hin zur Nationalversammlung, die am 18. Mai 1848 in der Frankfurter Paulskirche zu ihrer ersten Sitzung zusammentrat. Insgesamt 23 anschaulich auf den Punkt geschriebene, klug ausgewählte Miniaturen beleuchten zentrale Aspekte und Begebenheiten einer Epoche, die zwischen politischer Reaktion und gesellschaftlicher Bewegung oszillierte. Angesiedelt sind die Stücke in den Feldern Politik, Kultur und Wirtschaft. Sie lenken das Augenmerk auf das Streben des Bürgertums nach nationaler Einheit und Freiheit, berichten über wirtschaftliche Innovation, über die Welt der Wissenschaften und der Künste. In manchem wetterleuchtet schon früh die Revolution von 1848, anderes weist darüber hinaus, etwa auf die um die Mitte des Jahrhunderts einsetzende Industrialisierung oder auf identitätspolitische Sehnsüchte, die mit der Reichsgründung von 1870/71 einstweilen befriedigt, jedoch dauerhaft keineswegs erfüllt wurden, vielmehr in den kommenden Jahrzehnten immer wieder aufbrachen, für Irritation und Unruhe sorgten.

Beides, nämlich die in der Vergangenheit verortete Suche nach Selbstvergewisserung und die Forderung, die deutschen Staaten zu einem einheitlichen Reich zusammenzufügen, wurde im Herbst 1817 auf der Wartburg inszeniert. Träger waren mehrheitlich Jenenser Burschenschaftler, Anlass war Matin Luthers Thesenanschlag im Oktober 1517. Gesungen wurde Ein feste Burg ist unser Gott und Nun danket alle Gott, komponiert im Dreißigjährigen Krieg, aber seit dem Preußenkönig Friedrich II. besser bekannt als „Choral von Leuthen“. Schon dies war ein demonstrativer Akt, der das Luthertum und die protestantisch gedachte Nation verkoppelte. Luther galt den Anwesenden, wie Bleek den Tenor der Festansprache des Studenten Heinrich H. Riemann einfängt, als „historisches Vorbild“ im „Kampf um die Reinheit des Glaubens und die Freiheit des deutschen Vaterlandes“. Das Ganze gipfelte in der Verbrennung von Insignien der verhassten Franzosenzeit und der monarchischen Reaktion, darunter das Zivilgesetzbuch, der Code Napoleon. Von Fortschrittlichkeit zeugte das nicht, eher von Unduldsamkeit und deutschtümelnder Hybris, nicht von gesellschaftlicher Inklusion, sondern von Exklusion. Dergleichen verhieß für die Zukunft wenig Gutes. „Indem die nationale Einheit religiös aufgeladen wurde“, resümiert der Autor, „wurde dem Übergang von einer relativ toleranten Nationalbewegung zur aggressiven fremden- und minderheitenfeindlichen Ideologie des Nationalismus Vorschub geleistet.“

Von den Obrigkeiten wurden derartige Regungen mit Sorge registriert. Nach der Ermordung des Dichters August von Kotzebue, der als Spion im Dienste der russischen Autokratie verdächtigt wurde, durch den Theologiestudenten Carl Sand versteiften sich diese mit den Karlsbader Beschlüssen endgültig auf eine Politik der Repression. Dagegen konnte weder der europäische „Völkerfrühling“ etwas ausrichten, der im Mai 1832 auf dem „Hambacher Fest“ beschworen wurde, noch der Protest von sieben Göttinger Professoren, darunter die Brüder Grimm, gegen die vom Hannoverschen König 1837 suspendierte Verfassung von 1833. Völlig einhegen ließen sich die Geister des Fortschritts allerdings nicht. Das Bürgertum begann sich zu organisieren, nicht in Parteien, wohl aber in mannigfachen Vereinen. Bleek veranschaulicht das am Beispiel der „Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte“, die sich im September 1822 konstituierte, rasch expandierte, sich zwar politischer Aktivitäten enthielt, aber doch dazu beitrug, „liberale“ und „basisdemokratische“ Ausdrucksformen einzuüben.

Mit Goethes Tod endete 1832, kurz nach der Vollendung des zweiten Teils seiner Faust-Tragödie, unwiderruflich die Periode der Weimarer Klassik, knapp zehn Jahre zuvor hatte Carl Maria von Webers Freischütz seinen Siegeslauf angetreten, der Prototyp einer deutschen Nationaloper. Mit der Grundsteinlegung zur Vollendung des Kölner Doms im Sommer 1842 schienen sich für einen kurzen Moment die Kräfte der preußischen Monarchie mit dem rheinischen Katholizismus zu verschwistern. Ungefähr zur selben Zeit arbeitete der junge Karl Marx als Redakteur der Rheinischen Zeitung daran, wie er einem der Geldgeber schrieb, „Stufe für Stufe innerhalb der constitutionellen Schranken die Freiheit zu erkämpfen.“ Die Expansion der Wirtschaft macht Bleek sichtbar an Friedrich Krupp und seinen Erben, die das Unternehmen alsbald zu Weltgeltung führten, und an der Einweihung der Eisenbahnstrecke zwischen Dresden und Leipzig, mit der sich die „allgemeine Beschleunigung des Lebensrhythmus“ ankündigte. Auch der Bau von Bremerhaven, mit dem sich die Hansestadt Bremen einen Zugang zum Meer schuf, gehört in diesen Kontext.

Trotz aller Behinderungen durch Zensur und Repression blieb die Erwartung des Bürgertums, in absehbarer Zeit die politische Führung zu übernehmen, ungebrochen. Der Historiker Friedrich Christoph Dahlmann, einer der Göttinger Sieben, den der Autor gegen Ende seines Buches zitiert, hat die darin aufgehobene universelle Dimension so umrissen: „Fast überall im Weltteile bildet ein weitverbreiteter, stets an Gleichartigkeit wachsender Mittelstand den Kern der Bevölkerung, er hat das Wissen der alten Geistlichkeit, das Vermögen des alten Adels zugleich mit seinen Waffen in sich aufgenommen.“ Ihn habe, hieß es weiter, „jede Regierung vornehmlich zu beachten“. Denn: „In ihm ruht gegenwärtig der Schwerpunkt des Staates, der ganze Körper folgt seiner Bewegung.“ Ehe sich diese Perspektive materialisierte, musste man jedoch noch einige Jahrzehnte warten: bis zum Herbst 1918, als die Niederlage im Krieg im Verein mit den revoltierenden Matrosen und den Arbeitern das monarchische System wie ein Kartenhaus zusammenstürzen ließ.

Titelbild

Wilhelm Bleek: Vormärz. Deutschlands Aufbruch in die Moderne. Szenen aus der deutschen Geschichte 1815-1848.
Verlag C.H.Beck, München 2019.
336 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783406735332

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